Wenn der Dichter Vater wird

Ein Gedichtzyklus von Ludwig Steinherr

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Großer Gott wir loben Dich darf man wohl zu den eindrucksvollsten Kirchenliedern des Abendlandes rechnen. Drei Worte aus dem Liedtext machte der emeritierte Romanistikprofessor und wunderbare Erzähler Johannes Hösle zum Titel des ersten, seine Kindheit betreffenden Teils seiner Erinnerungen: Vor aller Zeit (2000). Genauso hat Ludwig Steinherr seine einundzwanzig Gedichte zur Ankunft eines Kindes genannt. Erstmals erschienen sind sie 2003 in der Edition Toni Pongratz, wo sie in Gesellschaft von Reiner Kunze, Horst Bienek, Peter Horst Neumann oder Peter Härtling bestens aufgehoben waren; nun liegen sie in einer „nur wenig veränderten Neuauflage“ beim Allitera Verlag vor, wo auch zahlreiche andere Gedichtbände des Autors erschienen sind.

Der 1962 in München geborene Ludwig Steinherr, der nebenbei auch als Philosophie-Dozent tätig ist, seit 1985 Lyrikbände veröffentlicht und mittlerweile vielfach preisgekrönt wurde, erweist sich mit diesem schmalen Gedichtzyklus als ein mit vielen Wassern gewaschener Meister seines Metiers. Irgendwann einmal wird man seinen Gedichten gewiss auch die Spuren einer enormen Belesenheit von der Bibel über Dante und John Donne bis hin zu Paul Celan und Joseph Brodsky nachweisen. Aber zu rühmen ist etwas Elementareres als das Wissen um poetische Traditionen: das Sujet dieser Gedichte. Denn Ludwig Steinherr bedichtet hier den Zauber, den Glanz und das Geheimnis, die das Werden eines neuen Erdenbürgers begleiten. Seine intensiven Verse evozieren auf oftmals ganz zarte, anrührende Art und Weise das Beglückende und Wunderbare, das diesem Geschehen anhaftet.

„Noch ist deine / Existenz unfassbar“: Mit diesen Zeilen beginnt ein Kranz von Texten, der die meistens mit einem Gemisch aus großer Freude und banger Erwartung verknüpften Schwangerschaftsmonate zum Thema hat – bis das Kind dann „Im Leben“ ist, wie es im Epilog heißt, der folgendermaßen endet: „Hoffnung / weit über alle / Märchen hinaus: / Daß stärker / am Ende / die Liebe – / Nun hab ich / mehr auf sie gesetzt / als nur mein / Leben“. Dazwischen viele bedenkenswerte poetische Reflexionen, etwa darüber, was all die leuchtenden und all die verzweifelten Tage, die die werdenden Eltern ohne das Kind gelebt haben, in dessen Augen sein werden – nichts wirklich Wichtiges wohl, zum Glück. Oder darüber, wie selbst dem wortmächtigen Dichter sein Allerkostbarstes, die Sprache nämlich, schal wird angesichts der Zeichen aus dem Mutterleib. Nichts wird mehr sein wie es war – und noch weiß man nicht, wie es werden wird. Ein Kind ist per se ein Versprechen auf Zukunft – Steinherrs Gedichte aber feiern weniger die Zukunft selbst als vielmehr den unvorhersehbaren, einzigartigen Eigensinn des Kindes, der diese Zukunft bestimmen und gestalten wird. Nicht in die allerbeste Welt wächst das Kind hinein, wie man es vielleicht wünschen würde – nein, es steht ihm notgedrungen nur unsere zur Verfügung.

Was es dort wohl Brauchbares antreffen wird? „Stimmen, Laute“ zum Beispiel, wie der Titel des fünften Gedichts lautet:

Jeder Satz den wir / sprechen / gleichgültig, beim Abendessen – / Für dich ein Raunen / orphisches Urwort / geheimnisvolle / Offenbarung – / Alles geht dich an / hat Bedeutung – / Erst nach und nach / wirst du dich / (wie wir uns nach / einem Konzert / einem langen Flug / einer Umarmung) / zögernd / einfinden / in die Welt / des Banalen.

Der Dichter befasst sich auch mit der relativen Hilflosigkeit des Vaters kurz vor und während der Geburt, einer Klinikgeburt mit Kaiserschnitt übrigens, und hier darf man sich natürlich durchaus fragen, ob ein heutiger Fließband-Chirurg als „Zauberkünstler / mit flinken / behandschuhten Händen / blitzenden Instrumenten“ nicht viel zu unkritisch gesehen wird. Gleichviel – andere Sprachbilder, nachdenklich und zart und wundersam, versöhnen den Leser rasch wieder. Im Taumel frischen Vaterglücks mag es ja generell nicht immer ganz leicht fallen, die Kitschgrenze nicht zu überschreiten. Ludwig Steinherr überschreitet sie nicht. Auch deswegen darf man sein ganz unspektakulär daherkommendes Gedichtbändchen als geradezu ideales Geschenk für werdende Eltern mit ein wenig Sinn für die Poesie des Daseins empfehlen.

Titelbild

Ludwig Steinherr: Vor aller Zeit. Einundzwanzig Gedichte zur Ankunft eines Kindes.
Allitera Verlag, München 2019.
39 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783962331450

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