Mit Feldsalat und Ranunkel auf der Suche nach dem Lebenssinn

Anke Stelling stellt in ihrem Erzählband „Grundlagenforschungen“ unentschlossene Frauen in mittleren Jahren vor

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nimmt man den Titel Grundlagenforschung dieses Erzählungsbands der 1971 in Ulm geborenen Autorin Anke Stelling wörtlich, dann ist vielen Figuren zu bescheinigen, dass sie auf der Suche nach den Grundlagen ihres Lebens nicht weit kommen. „Das Leben ist undurchsichtig und erzählenswert“, meint der Verlag. Beide Adjektive treffen oft nicht zu. Zu lasch sind manche Frauen mittleren Alters, als dass ihre durchsichtigen Erlebnisse erzählenswert wären. Man muss viel Geduld mit ihnen aufbringen, mit den Männern erst recht und dadurch auch mit manchen Texten. Das Leben dieser Frauen wird nicht durch Schicksalsschläge beeinträchtigt, sondern dadurch, dass sie nicht wissen, was sie wollen.

Claudia, die in mehreren Erzählungen vorkommt, greift zu Feldsalat; als sie es mit der fünf Jahre älteren Ex ihres unsteten Heiner zu tun hat. Später – sie ist nun die zweite Ex von Heiner, mit größerem Altersunterschied zur dritten Frau – soll Ranunkel helfen. Der Rezensent, eine Generation älter als Claudia, staunt, dass sie ihre Kinder bekommen hat, um „in der Mitte des Mainstreams“ zu leben. Dieses Motiv für das „Abenteuer der Fortpflanzung“ ist ihm neu. Allenfalls hat man in der DDR das Abenteuer zeitlich vorgezogen, um früher eine Wohnung zu bekommen. Sind die Kinder in diesen Geschichten auf der Welt, stehen sie morgens viel zu zeitig am Bett der unausgeschlafenen Mutter.

Bei so viel Unerfülltheit ist man froh, dass der Erzählungstitel Glückliche Fügung nicht (oder doch nicht vollkommen) ironisch gemeint ist. Simone hat nichts und niemanden mehr, keine Arbeitsstelle, keine Freunde, keinen Geliebten. Zu einer Geburtstagsparty zieht sie champagnerfarbene Strumpfhosen an und wird noch in nämlicher Nacht schwanger von einem Mann, den sie kaum kennt. Alles geht gut, auch mit der schmerzhaften Entbindung. Hannes ist so in Ordnung, dass Simone dem Frieden zunächst nicht traut. Er erweist sich als liebevoller Vater, und die nächsten zwanzig Jahre des Lebens werden nicht sinnlos verstreichen.

Den stärksten Eindruck hinterlässt ein Text, der im Vorjahr in einer Anthologie zum Thema der sexuellen Selbstbestimmung enthalten war. Überhaupt sind von den 14 Erzählungen nur zwei neu, die anderen erschienen bereits ab 2001 und wurden für diese Ausgabe überarbeitet. Die Stelle ist die schonungslose Selbstbeobachtung einer Icherzählerin, die sich als Kind und Pubertierende hässlich vorkommt. Die jugendliche Heldin äußert sich so unverblümt, dass man sie gernhaben muss. Beim „Tauschgeschäft Sex“ verlangt sie keine ausgeglichene Bilanz: „Er acht Orgasmen, ich einen.“ Über das Sexleben und die Weltlage denkt sie in einem Atemzug nach: „Die sogenannte sexuelle Revolution ist vorbei, die Konterrevolution hat eingesetzt. Amerikaner und Russen sind von deutschem Boden abgezogen und haben den Großteil ihrer Atomraketen mitgenommen.“ Die Erzählung endet mit dem „silbernen Klassentreffen“, und man ist der Autorin dankbar, dass sie die Beliebtheitsskala nicht märchenhaft umdreht. Der einstige Liebling aller Mädchen fährt ein tolles Auto, das männliche Mauerblümchen steht mit dem Sex noch ganz am Anfang.

Titelbild

Anke Stelling: Grundlagenforschung. Erzählungen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2020.
170 Seiten , 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783957324474

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