Normen und Werte in der Flüchtlingsfrage

Zehn Philosophen wollen Orientierung geben

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was können Philosophen zur Flüchtlingsdebatte beitragen? Zehn Essays zeigen: ziemlich viel. Sie können wichtige Begriffe klären, mögliche Begründungen für verschiedene Handlungsoptionen aufzeigen und Beispiele für ein folgerichtiges Argumentieren liefern. Außerdem können sie das Bewusstsein dafür schärfen, welche Akteure welche Aufgaben haben, zum Beispiel die Politik auf nationaler und europäischer Ebene und auch die Philosophie selbst. Die Grenzen der eigenen Kompetenz einmal explizit anerkannt zu sehen, ist wohltuend, und die Ausführungen des Buches Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen? sind nützlich im Hinblick auf das, was die Herausgeber mutig und richtig „normative Orientierung“ nennen.

Die Essays wurden im Rahmen eines Wettbewerbs der Gesellschaft für analytische Philosophie verfasst und prämiert. Die Preisfrage lautete wie der Titel der vorliegenden Publikation. Auffällig ist, dass neun der zehn Autoren aus den Jahrgängen zwischen 1979 und 1988 stammen (und neun von zehn Männer sind). Sagt das vielleicht etwas über ein je nach Generation unterschiedliches Interesse an der Essayform aus, an der Auseinandersetzung mit großen gesellschaftlichen Themen innerhalb der akademischen Philosophie? Die alten Haudegen Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski hätten jedenfalls philosophisch „weitgehend versagt“, so die Herausgeber.

Sie stellen fest, dass im Buch „unterschiedliche Einstellungen“ zur Flüchtlingsthematik deutlich werden und unterschiedliche Fachrichtungen zu Wort kommen. Das stimmt, aber es gibt einen deutlichen Schwerpunkt auf der Moralphilosophie, was wohl bereits im Wort „sollen“ in der Titelfrage angelegt ist. Einig sind sich die Autoren daher grundsätzlich, dass die Hilfspflicht jedem gilt, der in Not ist, solange die eigene Hilfsfähigkeit nicht existenziell beeinträchtigt wird. Spannend wird es, wenn sie fragen, was eine Notlage ist, wo sie von wem wie gelindert werden soll und wer mit Bezug auf welche Notleidenden zuständig sein könnte – in einem allgemein-moralischen, aber auch in einem lebenspraktischen und damit politikfähigen Sinn.

Diese Klärung beginnt mit der Feststellung, dass nicht Flüchtlinge ein Recht auf Asyl haben, sondern Verfolgte. Wer also Hilfspflicht und Asylrecht gleichsetzen will, muss letzteres ändern; wer es nicht ändern will, muss es in der Praxis durch andere Maßnahmen ergänzen, zum Beispiel durch Hilfe am Ort der Not. Matthias Hoesch stellt aber erst einmal prinzipiell fest, „dass nicht die Art der Notlage für die Frage relevant ist, ob geholfen werden muss, sondern ihre Schwere.

Marcel Twele und Simeon Imhoff weisen darauf hin, dass moralische Pflichten immer bestehen, dass aber erst die große Zahl in Deutschland ankommender Flüchtlinge den Anlass für die weiterhin anhaltende moralische Selbstvergewisserung lieferte, die sich beispielsweise in der Forderung nach europäischer Solidarität äußert. Marie-Luisa Frick wehrt sich allerdings dagegen, dass moralische Kategorien im Rahmen der öffentlichen Meinungsbildung die genuin politischen verdrängten. Norbert Paulo fordert dagegen gerade die stärkere Besinnung auf die moralische Dimension gesellschaftlicher Entwicklungen, da diese zu deren Komplexität gehörten und auch politisch relevant seien.

Wie steht es mit Grenzen und Obergrenzen in einer solchen Debatte? Jan Brezger fordert, die „Spielräume und Grenzen politischer Machbarkeit“ auch schon „im Nachdenken über Aufnahmepflichten angemessen zu berücksichtigen“. Und zwar nicht etwa, um mit Blick auf eine vermeintliche Belastungsgrenze die Erfüllung von Hilfspflichten zu verweigern, sondern um auf Basis der Erkenntnis jener Hilfspflichten die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit zu erweitern. Matthias Katzer gibt zu bedenken: „In Notsituationen mobilisieren Gesellschaften ungeahnte Kräfte“. Dass er den Begriff der Not nun auf die Lage in Deutschland in der „Flüchtlingskrise“ zurückwendet, entspricht der feinen Ironie seines Beitrags. Es ist der einzige weitgehend dialogische Text, der Partizipation nicht nur bespricht, sondern – im besten Sinne – auch simuliert. In der Simulation ist die Partizipation noch nicht enthalten, aber sie wird auf besondere Weise ermöglicht.

Die eventuelle Überforderung des Hilfspflichtigen wird auf der konkreten Ebene mit Bezug auf den deutschen Wohlstand, die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats, den Rechtsstaat und das Gemeinschaftsgefühl untersucht. Sind diese schon heute oder bald überfordert? Fast alle Autoren verweisen darauf, dass es Deutschland gut geht und ein Abgleiten in Situationen wie jene, vor denen Flüchtlinge fliehen, nicht wirklich zu befürchten ist. Frick warnt aber davor, diese Möglichkeit einfach abzutun, zumal wenn Flüchtlingszahlen dauerhaft hoch bleiben. Fabian Wendt mahnt, den sozialen Frieden als moralisch relevantes Leitbild nicht aus den Augen zu verlieren. Wie Imhoff und Patrick Thor sieht er die erfolgreiche Integration als besten Weg, diesen zu gewährleisten. Mehrere Autoren sehen diesen Frieden eher von rechts gefährdet.

Die grundsätzliche Verflochtenheit der globalen Welt, in der Flüchtlinge unterwegs sind und in der sich die hier diskutierte Frage nach Pflichten und Kapazitäten stellt, beleuchtet Hoesch aus Sicht moralischer Prinzipien: Es sei „schwer vorstellbar, dass einmal eine Art Notrecht vorliegen könnte, das dazu berechtigte, zum Schutz der eigenen Ordnung den Zusammenbruch eines anderen Staates in Kauf zu nehmen“. Mit anderen Worten: Ein hilfeleistender Staat muss sehr weit gehen, bevor er sagen darf, dass er nicht mehr kann. Ein Realpolitiker würde das anders sehen – einen entsprechenden „Realphilosophen“ gibt es im vorliegenden Band aber nicht.

Allerdings fordert Frick dezidiert und disziplinär korrekt dazu auf, die Möglichkeit des eigenen Scheiterns als Falsifizierungsbedingung der eigenen Überzeugungen intellektuell auszuleuchten. Sie fragt: „Wann wissen wir, dass wir es nicht mehr schaffen“? Was mit „es“ eigentlich gemeint ist, bleibt in der politischen Diskussion auch nach Jahren, in denen das Thema auf der Tagesordnung steht, unklar. Umso wichtiger, dass mehrere Autoren sich um eine Definition des Begriffs „aufnehmen“ bemühen.

Ein eher versteckter Glanzpunkt des Bandes, der die Bedeutung moralphilosophischer Debattenbeiträge unterstreicht, findet sich bei Twele. Die Feststellung nämlich, dass das „Problem der Ressourcenknappheit in dem Maße geringer wird, in welchem moralische Akteure gemeinsam handeln“ – eben weil Moral und Gemeinsamkeit kaum voneinander zu trennen sind. Für politische Akteure gilt das nicht unbedingt: Sie können gemeinsam handeln, ohne ihre Ressourcen zu mehren, auch ihre politischen. Belege dafür finden sich in der deutschen Gegenwart genug. Vielleicht trägt das vorliegende Buch vor diesem Hintergrund tatsächlich zur Orientierung bei. Es würde der Philosophie und der deutschen Öffentlichkeit zur Ehre gereichen.

Titelbild

Achim Stephan / Thomas Grundmann (Hg.): Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen? Philosophische Essays.
Reclam Verlag, Ditzingen 2016.
155 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150110737

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