Worte der Liebe

In Andreas Stichmanns Roman „Eine Liebe in Pjöngjang“ finden zwei ungleiche Frauen über die Sprache zueinander

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Handlung von Andreas Stichmanns neuem Roman Eine Liebe in Pjöngjang ist schnell zusammengefasst: Die Autorin Claudia Aebischer reist mit einer zwei Dutzend „Kulturmenschen“ umfassenden Delegation von Berlin nach Pjöngjang, um eine deutsche Bibliothek zu eröffnen. Sie entwickelt Interesse an ihrer nordkoreanischen Gästeführerin, der grazilen und mit einem Greis zwangsverheirateten Sunmi. Sunmi soll Vertrautheit und Nähe zulassen, um die Gäste auszuspionieren. Doch nicht nur Claudia verliebt sich, auch die junge Sunmi entwickelt schnell starke Gefühle für die 50-jährige Deutsche.

Besonders ist, dass die Frauen – und mit ihnen die Leser:innen – sich stets über Gehörtes der Handlung nähern. Beobachtungen folgen dem Gehörten nach, werden ihm untergeordnet. Zuerst ist Gesang zu hören, bevor Ursprung und Szenerie beschrieben werden. „Vorhersehbare Sprechmelodien“ zeichnen einen Abend bei Bier und Bowlingbahn aus, bevor die Mitglieder der Delegation zu sehen sind. Die Sprache steht immer im Mittelpunkt. Schließlich kann nur eine Rede über die Schönheiten des Landes Claudia möglicherweise vor dem Arbeitslager bewahren, denn ein gesprochenes Loblied ist der einzige Loyalitätsbeweis, den das totalitäre Regime nach einer vermeintlichen Verfehlung von ihr akzeptiert.

Arten des Sprechens faszinieren beide Frauen. Sie nähern sich allein über ihr Sprachgefühl an. So ist es auch von den Machthabern beabsichtigt, denn als „Maßnahmen zum Aufbau von Nähe“ wird von Sunmis Befehlsgebern der Übergang zum „Du“ gefordert, fröhliche Gespräche „als Ausdruck zweisamer Exklusivität“. Das geordnete Zusammenspiel der Plattitüden geht in bunte Farben, „schöne Sätze“ und tatsächliche Intimität über. Worte sitzen „als süßer Stachel im Fleisch“. Sunmi empfindet Claudias Stimme als sonnig, kräftigend und durchströmend. Claudia bewundert Sunmis „fein gedrechselte Sätze“. Als Claudia eines Abends die Doktorarbeit Sunmis lesen darf, wird sie von deren Formulierungen und Bildern umfangen und driftet in eine schlaflose und weintrunkene, romantische Rauschnacht ab. Das Manuskript in ihren Händen reicht aus, um sich der eigenen tiefen, stürmischen Zuneigung zur jungen, ungleichen Freundin zu versichern.

Dass lesbische Liebe in Nordkorea auch heute noch ein Problem darstellt, wird nicht thematisiert. Im Roman ist sie jedenfalls für beide Frauen normal. Die Aktanten wählen das wundervolle Wort der „Gleichliebenden“ für die aufkommende Anziehung. Auf Begriffe wie „Lesben“ oder „Gleichgeschlechtlichkeit“ wird verzichtet. Zarte Poesie und erfreuliche Normalität statt Geschlechter-Diskurs. Ein „Geschlecht“ wird in Stichmanns Roman nur im Zusammenhang mit dem nach „Talg, Ei und Sodbrennen“ riechenden Ehemann Sunmis erwähnt, welcher beim Beischlaf sein Gebiss nicht trägt und dessen Geschlecht als weiches „Gewürm“ bezeichnet wird. Seiner Todesnähe und seinem schlaffen Geschlecht werden die Lebenslust und die Intellektualität der Frauen entgegengestellt.

Sunmi hat über die deutsche Romantik promoviert, ihr Deutsch ist gespickt mit Worten, welche altertümlich anmuten und von ihr ganz selbstverständlich gebraucht werden: „Finsternis“, „vorblühend“, „Unbill. Albdrücken. Verzückung“ oder auch „Gaumenzahn“. „Emsig war Sunmis Lieblingswort im Deutschen“. Oft hängt sie Worten ein „E“ an, „was nicht mehr üblich sei. Türe. Lichte. Walde. Liede“. Claudia bezeichnet Texte als pfiffiges „Gewört“, die Doktorarbeit Sunmis als „Wortgewuselwunder“ und riecht Kohl als „sinnenbeschmatzend“ – welch wohltuende, erfrischende Neologismen! Hier wird so kreativ mit vollen Händen aus dem Meer der Sprache geschöpft, es ist eine Freude.

Die Frauen erinnern Leser:innen an andere Erzählungen, ziehen ihn hinaus in die weite westliche Welt. Andreas Stichmann lässt Bezüge zur Symbolgeschichte der Romantik und der deutschen Klassik zu. Die Frauen schwimmen im See, dem klassischen Symbol für Seelenruhe und Geborgenheit. Ihr gemeinsamer Weg endet am Vulkan, so wie schon in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren enttäuschte Liebe und der Vulkan parallelisiert werden. Die Aktanten bedienen sich literarischer Anspielungen, zitieren und diskutieren. Claudia urteilt, Sunmi zitiere Novalis, sie schreibe „selbst aber besser“. Es gibt intertextuelle Bezüge auf Prätexte von E.T.A. Hoffmann, Novalis, Eichendorff, Tieck und Goethe sowie Annette von Droste-Hülshoff und Bettina von Arnim. Zitate aus der deutschen Romantik muten im Umfeld nordkoreanischer Armut und Unfreiheit zwar seltsam fremd an. Sie lösen Verwunderung aus und hallen gerade deswegen intensiv nach. Über die symbolträchtigen Gedankenreisen entsteht keine illusionsstörende Distanz zum Erzählinhalt. Andreas Stichmanns Roman spielt ganz wunderbar mit den verschiedenen Perspektiven der Frauen, den literarischen Motiven und ihrer Bedeutung.

Leser:innen werden mit einer klassischen auktorialen Erzählsituation konfrontiert; sie blicken abwechselnd aus der Sicht Claudias und Sunmis auf die Geschehnisse und erfahren ihre innersten Gedanken. Der Erzähler verfügt über Zeit und Raum und überblendet Pläne und Zukunftshoffnungen mit Ängsten beider Frauen. Zwar kann die Handlung des schmalen Buches kurz zusammengefasst werden, jedoch ist ihre raffinierte Ausgestaltung ungemein fesselnd. Es ist ein bemerkenswerter, origineller Roman mit hoher ästhetischer Qualität. Deswegen hat Eine Liebe in Pjöngjang es auch auf die Longlist der für den Deutschen Buchpreis 2022 nominierten Bücher geschafft. Es ist ein Text mit Zugkraft.

Titelbild

Andreas Stichmann: Eine Liebe in Pjöngjang. Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022.
155 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498002930

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