Erleuchtung verdunkelt

Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ werden von Gideon Stiening und anderen in der Reihe „Klassiker Auslegen“ philosophiehistorisch kleingearbeitet

Von Christian MilzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Milz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der akademischen Philosophie in Deutschland wird Philosophie allzu oft mit Philosophiegeschichte gleichgesetzt, moniert der Philosoph Paul Hoyningen-Huene in einer online zugänglichen Vorlesung. Friedrich Schillers ästhetische Theorie, obwohl im Falle der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen ursprünglich als Dank für eine großzügige Zuwendung an einen in der Philosophie eher unbewanderten dänischen Prinzen gerichtet und somit tatsächlich Philosophie im eigentlichen wie auch in Kants Sinne eines eigenständigen Denkens (ist wirkliches Denken nicht immer eigenständig?), spielt philosophiehistorisch eine eher marginale Rolle. Philosophisch erst recht. Albrecht Koschorkes Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie spricht im ersten Kapitel über den Homo ludens ohne Schillers Ästhetische Erziehung, in der der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt (15. Brief) auch nur zu erwähnen. Es ist immer wieder Kant, der Schiller – zumindest in Deutschland – selbst auf dessen ureigenstem Gebiet, nämlich der Ästhetik, im Wege steht. Schillers berechtigter Hinweis, er habe einen besseren Zugang zum Schönen, da er die Kunst selbst ausgeübt habe, zieht bei uns nicht. Möglicherweise gerade weil er sie selbst ausgeübt hat. Schiller freilich dürfte anderes im Sinn gehabt haben als „eine Vermittlung zeitgenössischer Philosophie von Kant über Reinhold bis Fichte im Zeichen der Ästhetik“ (Covertext, Rückseite).

Bereits 2019 ist in der Reihe Klassiker Auslegen Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen bei De Gruyter erschienen. Herausgeber der Reihe ist Otfried Höffe, für den Band über Schillers Briefe zeichnet Gideon Stiening verantwortlich. Das Frontcover soll offensichtlich den Eindruck eines Standardwerks der Sekundärliteratur erwecken: Das markante zeitgenössische Porträt Schillers blickt auf ein handschriftlich gestaltetes Kürzel „KA“ für „Klassiker Auslegen“; desgleichen dominiert der Titel des interpretierten Werkes in kobaltblauen Versalien über die kleiner gehaltene Herausgeberbezeichnung in schlichtem und kursivem Schwarz. All das suggeriert hermeneutischen Respekt vor dem Werk, tatsächlich zeugt es eher von einer fähigen Grafik- bzw. Marketingabteilung des Verlags, die im Kleingedruckten auf dem rückwärtigen Cover dann ehrlicherweise draufschreibt was drinsteht.

Fast ausschließlich beleuchtet die „Pflichtlektüre für Studierende, Hochschullehrer und Forschende“ aus philosophiehistorischer Perspektive Schillers komplexes Verhältnis zur Philosophie Kants, einschließlich der prägenden Einflüsse der vor- und nachkantischen Philosophie, wie der Herausgeber Gideon Stiening in der Einleitung festhält. Damit modifiziert sich die „Klassiker-Auslegung“ in Richtung Philosophiegeschichte, was anscheinend keiner weiteren Begründung oder gar Problematisierung bedarf, obwohl einiges dagegen spricht. Schiller erwähnt in den Briefen zwar philosophische Quellen und bezieht sich auf sie, gleichzeitig legt er aber Wert darauf, einen eigenen Weg zu verfolgen und erst recht nicht an Kant und Co. gemessen zu werden.

Dieser Weg ist aber nur notgedrungen ein philosophischer und Schiller ist wie gesagt schon nach eigenem Verständnis in erster Linie ausübender Künstler, der hier zwar philosophisch vorgeht, aber selbstkritisch betont, dass die Magie der Schönheit durch die zergliedernde Auflösung ihrer Elemente zerstört wird: Der Philosoph muss die flüchtige Erscheinung in die Fesseln der Regel schlagen, ihren schönen Körper in Begriffe zerfleischen und in einem dürftigen Wortgerippe ihren lebendigen Geist aufbewahren (1. Brief). Man braucht diese Distanzierung nicht unbedingt in ihrem Nominalwert zu nehmen, hat dann andererseits aber zu konstatieren, dass der Autor dramatisiert und insofern in Rechnung zu stellen, dass er eben doch nicht ausschließlich philosophisch, sondern eben auch ästhetisch-literarisch zu Werke geht. Klassiker auslegen hieße im Hinblick auf Schillers Briefe dann zumindest auch Literatur auslegen.

Ansatzweise arbeitet Frieder von Ammon diesen Aspekt in dem zweiten Kapitel des Bandes „Zu den Funktionen der epistolarischen Form“ immerhin heraus. Er kritisiert die bis dato vernachlässigte Diskussion der Briefform der Briefe und stellt die Bedeutung der „freieren Form“ für Schiller sowie dessen „emphatischen Formbegriff“ überhaupt heraus: eine angenehme Art der Unordentlichkeit, die „mehr Individualität und Leben“ auch im Bereich der Gelehrsamkeit erlaubt. Bedauerlicherweise leiten Ammon bzw. die weiteren elf Autoren des Bandes aus der abschließenden Feststellung in Bezug auf Schillers Darstellungsziel einer „synthetisierenden, ganzheitlichen und zugleich den ganzen Menschen ansprechenden schönen Repräsentation“ keine heuristischen Konsequenzen ab, nämlich den Dramatiker hinter dem Philosophen zu suchen sowie nach der inneren Form der Briefe über die ästhetische Erziehung zu fragen. Diese bildet sich zwar in der Einteilung des rezensierten Buches in drei Abschnitte der Briefe 1 – 10, 11 – 16 und 17 – 27 ab, erläutert wird sie nicht. Warum, wird sich zeigen.

Die Klassiker-Auslegung erfolgt in Form „kooperativer Kommentare von international renommierten Philosophen“, d.h. jeder der zwölf Autoren „entschlüsselt und kommentiert“ mehrere Briefe, gegebenenfalls auch nur einen. Daraus mögen sich im Detail aufschlussreiche philosophiehistorische Beobachtungen über kontextuelle Hintergründe ergeben, aufgrund des fehlenden Blickes für die Anlage des Ganzen sind die Ergebnisse jedoch bestenfalls für die Spezialforschung relevant, ansonsten nebensächlich bzw. oberflächlich. Vor- und Rückgriffe, Redundanzen und Widersprüche sind vorprogrammiert, wenngleich gegenüber der deutlich zu spürenden Skepsis der Autoren gegenüber Schiller (mit Ausnahme des Beitrags von Anne Pollok) zu vernachlässigen. So stellt Frieder von Ammon in seinem Beitrag abschließend die Frage, ob Schiller das Ziel einer den ganzen Menschen ansprechenden schönen Repräsentation erreicht habe oder nicht und lässt die Antwort vielsagend offen. Schiller sei sich dessen sicher gewesen, erfahren wir immerhin, wenngleich Ammon nicht erklären will oder kann, warum.  

Wenn der Herausgeber in der Einleitung nach den Gründen für die enorme Wirkung der Briefe fragt, dann scheint in der Antwort genau genommen eher ein „trotz“ als ein „weil“ mitzuschwingen; Schiller war – satirisch überspitzt – zur richtigen Zeit am richtigen Ort: „Entscheidend für den Erfolg dürften wohl zwei Kontexte gewesen sein, die man mit den Stichworten Kant und Französische Revolution zunächst benennen kann und die in unterschiedlicher Weise den Gehalt des Textes und seine Wirkung nachhaltig prägten“. „Trotz“ auch deswegen, weil Stiening Schillers Text die Einheitlichkeit in systematischer und auch anderer Hinsicht abspricht. Das kommt einem Verdikt gleich, das nicht einmal begründet wird, sondern den tatsächlich auf Seiten des Herausgebers befindlichen schwarzen Peter dem Dramatiker unterschiebt. Zudem sei Schillers Referenz auf Kant nicht nur erheblichen Veränderungen ausgesetzt, sondern gehe auch von Prämissen aus, die der kantischen Philosophie implizit wie explizit fremd seien oder ihr gar widersprächen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass man darüber nicht allzu ‚amused‘ ist.

Infolgedessen mäandern die Beiträge im Zusammenhang mit einer umständlichen Rekapitulation von schillerschen Feststellungen hin und her zwischen dem, was der Dichter philosophisch aufgreift und nicht aufgreift, woran er oder woran er nicht anknüpft, was oder was nicht Eingang in seine Argumentation findet. Selbst philosophiehistorisch gesehen, was im Hinblick auf den Dramatiker bereits per se eine Reduktion bedeutet, erreicht man mit dieser Methode kaum das, was die Einleitung verspricht, nämlich die ideengeschichtliche Individualität der schillerschen Konzeption erkennbar werden zu lassen, wie auch deren systematische Leistungen – und Grenzen. An Letzteren ist man anscheinend eher interessiert. 

Um Schillers Individualität erkennbar werden zu lassen, müsste zwischen Denkstruktur und Denkinhalt differenziert werden. Hier hätte Frieder Ammons Eröffnungsbeitrag „In einer Reihe von Briefen“ mit dem Hinweis auf die „freie Form“ wegweisend sein können. Erst die Berücksichtigung des spezifischen Denkstils des Dramatikers erschließt letztendlich die durchaus rätselhafte Dramaturgie der Briefe. Schillers Denken verschließt sich einem bloß intellektualistischen Zugriff und es lässt sich auch begrifflich schwer beschreiben: Dialektisch mehrdimensional und polarsymmetrisch könnte man es vielleicht nennen. Alles spielt sich in Gegensätzen ab, die sich zwar gleichrangig aber nicht gleichwertig gegenüberstehen und erst höherdimensional vereinigen und – das ist das Entscheidende – das Emotionale wie auch Transzendenz einschließen. Man ahnt, womit die akademische Philosophiegeschichte möglicherweise ein Problem hat.

Man sollte die Briefe kontemplativ lesen, so sind sie konzipiert. Obwohl der Briefform ein eigener Beitrag in der Klassiker-Auslegung gewidmet wird, kommt der pragmalinguistische Aspekt entschieden zu kurz. Wer, wie Ammon in seinem Beitrag über die epistolarische Form, ausdrücklich thematisiert, dass Schiller die Ästhetischen Briefe als „das beßte“ bezeichnete, was er in seinem Leben geschrieben habe, sollte einkalkulieren, dass der Dichter sie neben wenn nicht gar über seine Dramen stellt und gegebenenfalls programmatische Schlussfolgerungen daraus ziehen.

Warum, wäre beispielsweise zu fragen, stellt der Klassiker im zweiten Brief die Behauptung auf, dass man, um das politische Problem des Vernunftstaates in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muss, um, nach sieben weiteren Briefen, im zehnten festzustellen, dass man beinahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet und auch nicht ein einziges Beispiel aufweisen kann, dass ein hoher Grad und eine große Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volk mit politischer Freiheit und bürgerlicher Tugend, dass schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre. Warum erst ein auf den ersten Blick unhaltbares, wenngleich eindrucksvoll und wohl plausibilisiertes Gesetz aufstellen, um es dann mutwillig und gleichsam handstreichartig zu Fall zu bringen? Wozu dieses argumentativ aufwendige Harakiri?

Achim Vesper konzentriert sich im dritten Kapitel (zu Brief 1 und die Folgen) „Durch Schönheit zur Freiheit? Schillers Auseinandersetzung mit Kant“, auf philosophiegeschichtliche Erörterungen, ohne diese merkwürdige Etablierung eines Gesetzes, nur um es falsifizieren zu können, zu registrieren. Stattdessen die fruchtlose und letztendlich verwirrende Feststellung, dass Schiller sein Projekt mit demjenigen Kants verbindet, sich aber auf ein Verständnis des Schönen stützt, das mit Kant nicht zu vereinbaren ist.

Marion Heinz resümiert in Kapitel 6 (Briefe 8 bis 10) „Kulturkritik und Kunst“ immerhin das negative Ergebnis von Schillers empirisch-kulturkritischer Untersuchung über die Tauglichkeit der Kunst als Werkzeug für eine politische Freiheit. Für auffallend hält sie sein argumentatives Manöver keineswegs. Desgleichen der Herausgeber: „Schiller auferlegt damit der Kunst eine enorme Bürde, im Rahmen seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Staates, der zunächst gleichsam naturwüchsig die Selbsterhaltung garantiert, dabei aber die Einrichtung eines Vernunftstaates der Freiheit notwendig behindert, soll die Kunst einen Menschen ‚erziehen‘, der den Übergang in den Staat der Freiheit als eine Pflicht begreift, die die Gefahren eines Rückfalls in die Anarchie deshalb bannt, weil sie eine abrupte, revolutionäre Aufhebung des Naturstaats überflüssig macht. – Nicht nur die Geschichte von Staat, Gesellschaft und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts wird zeigen, dass die Kunst dieser Bürde nicht gewachsen ist; schon Schiller selbst scheint spätestens nach dem 17. Brief zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass der von ihm entworfene ‚ästhetische Staat‘ jene Funktion, die er ihm für den Übergang von Natur- in den Vernunftstaat hier zuschreibt, nicht zu erfüllen vermag.“ – Spätestens nach dem 17. Brief?

Im ersten Drittel der Briefe führt Schiller sein Publikum implizit und explizit beständig an den Abgrund gesellschaftlich katastrophaler Zustände, einen Abgrund, mit dem wir uns auch heute noch problemlos identifizieren können. Wenn Schiller von einer Staatsverfassung spricht, die noch sehr unvollendet ist, wenn sie nur durch die Aufhebung von Mannigfaltigkeit Einheit zu bewirken imstande ist, etwas später fällt dann sogar das Wort vom „Entvölkern des Reiches der Erscheinung“ (4. Brief), dann kann man dafür problemlos historische und aktuelle Beispiele aus allen Bereichen auf der Skala des Inhumanen finden.

Einen Brief später (Brief 5) heißt es: „In seinen Taten malt sich der Mensch, und welche Gestalt ist es, die sich in dem Drama der Zeit abbildet! Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwei Äußersten des menschlichen Verfalls, und beide in einem Zeitraum vereinigt … So sieht man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem Unglauben schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was ihm zuweilen noch Grenzen setzt.“

Im 7. Brief unternimmt Schiller eine Voraussage, die an Präzision und Stimmigkeit mit denen der Naturwissenschaft mithalten kann: „Man wird in anderen Weltteilen in dem Neger die Menschheit ehren, und in Europa sie in dem Denker schänden. Die alten Grundsätze werden bleiben, aber sie werden das Kleid des Jahrhunderts tragen, und zu einer Unterdrückung, welche sonst die Kirche autorisierte, wird die Philosophie [resp. die Wissenschaft, Anm. C.M.] ihren Namen leihen. Von der Freiheit erschreckt, die sich in ihren ersten Versuchen immer als Feindin ankündigt, wird man dort einer bequemen Knechtschaft sich in die Arme werfen, und hier von einer pedantischen Kuratel zur Verzweiflung gebracht, in die wilde Ungebundenheit des Naturstands entspringen. Die Usurpation wird sich auf die Schwachheit der menschlichen Natur, die Insurrektion auf die Würde derselben berufen, bis endlich die große Beherrscherin aller menschlichen Dinge, die blinde Stärke, dazwischen tritt, und den vorgeblichen Streit der Prinzipien wie einen gemeinen Faustkampf entscheidet.“ Wenn Schiller im gleichen Brief schreibt, dass der Staat, wie er jetzt beschaffen sei, das Übel veranlasst habe, dann sollten wir mehr oder weniger laut darüber nachdenken, ob sich die Zeiten gebessert haben. Über Kunst und Kultur, so viel ist gewiss, verfügen wir seit Jahrtausenden: Warum sollen sie jetzt plötzlich zum einzigen Ausweg werden?

Im 10. Brief stürzt uns der Dramatiker in einen Abgrund, den er von Anfang an im Visier hat. Und damit wären wir bei dem Problem der akademischen Philosophie und der Geisteswissenschaft mit Schiller, insofern selbige ein solches tatsächlich haben sollten: Schiller falsifiziert die zuvor aufgestellte Formel einer dialektischen (ästhetisch vermittelten) Vereinigung von Form und Stoff, Vernunft und Sinnlichkeit, Idee (Vernunftstaat)  und Realität Naturstaat) innerhalb der Grenzen des Anthropologischen zugunsten einer Deduktion des Ästhetischen aus der göttlichen Transzendenz. Der Erkenntnisgewinn dieser, wie es scheint gleichsam mutwillig herbeigeführten und dramaturgisch unterfütterten Umkehrung der empirischen Wirkung des Schönen in die negative Richtung besteht in der klaren Unterscheidung zwischen den Dimensionen des Zeitlichen und der Zeitlosigkeit.

Zwar etabliert der Dramatiker diese Differenz kontinuierlich, wenn er beispielsweise im 9. Brief fordert, dass der Künstler den Stoff von der Gegenwart, die Form dagegen jenseits aller Zeit, „von der absoluten unwandelbaren Einheit seines Wesens entlehnen“ soll. Erst ab Brief 11 aber findet die begrifflich eindeutige Ableitung von Form und Stoff aus dem Gottesbegriff statt. Von nun an vermag die empirische Wirklichkeit das Fundamentalgesetz des Ästhetischen nicht mehr zu falsifizieren, wohl aber mannigfaltige Indizien für dessen Geltung (einschließlich der besagten Umkehrung in der Sphäre des Empirischen) bis in die Gegenwart hinein zu liefern. Die ideengeschichtliche Individualität der schillerschen Konzeption besteht in der begrifflichen Integration der aufklärerischen „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ (Panajotis Kondylis) sowie einer Uminterpretation von Kants Dualismus im Hinblick auf Polarität, einer Polarität freilich, die in der Idealschönheit und erst recht im Gottesbegriff aufgehoben ist.

Udo Thiel, der den zweiten Teil der „Klassiker-Auslegung“ mit seinem Beitrag in Kapitel 7 (zu Brief 11) über „‚Person und Zustand“‘. Grundbegriffe von Schillers ‚transzendentalem Weg‘ im Kontext“ anführt (und versichert, es könne natürlich auch hier nicht darum gehen, dessen Ausführungen, die „auf engstem Raum grundlegende, überaus komplexe und historische belastete Konzepte [behandelten] auf Versatzstücke von Kant und/oder Fichte beziehungsweise ältere Traditionen zu reduzieren) arbeitet diesen Auftakt zu Schillers Anagoge kommentarlos in den philosophiegeschichtlichen Kontext ein.

Gegen Descartes‘ intellektualistisches „Ich denke, also bin ich“, aber auch gegen die tendenziell monistische europäische Aufklärung postuliert Schiller jetzt prägnant: „Nicht, weil wir denken, wollen, empfinden, sind wird; nicht weil wir sind, denken, wollen empfinden wir. Wir sind, weil wir sind; wir empfinden, denken und wollen, weil außer uns noch etwas anderes ist.“ Wir, d.h. die Person, das Selbst, sind unwandelbar und ewig, unser Zustand, unsere Bestimmungen sind der Zeit und dem Wandel ausgesetzt, beide aber nicht ineinander, sondern in einer von der Gottheit abgeleiteten mehrere Dimensionen umfassenden Polarität gegründet.

Daraus entwickelt Schiller den Begriff des Schönen und des Spiels, die zwar aus der Dimension der Transzendenz deduziert werden, sich aber durch alle Sphären bis hinunter ins Tierreich erstrecken. Tendenz beider ist es, die Zeit in der Zeit aufzuheben. Gegenstand der Ästhetik ist der schöne Schein, der als selbstständiger und aufrichtiger vom falschen Schein wie auch von der Realität zu unterscheiden ist. Dass Anne Pollok die Briefe 26 und 27 auf englisch kommentiert: „A Further Mediation and the Setting of Limits: The Concept of Aesthetic Semblance and the Aesthetic State” (Kap. 13), könnte man als unbeabsichtigte Ironie deuten, denn sie wird Schiller noch am ehesten gerecht. Als einzige verwendet sie den Begriff der Polarität und spricht nicht wie Stefan Klinger in „Die Idee der Schönheit und das Problem ihrer Realisierung“ (Kap. 10: Briefe 17 und 18) von der nur für Kant zutreffenden „Dualität“ (von Form und Materie), genau diese Differenz aber markiert wie gesagt die unterschiedlichen Denkstrukturen von Schiller und Kant.

Schillers Deduktionen lassen sich empirisch überprüfen. Ein sensibles ästhetisches Empfinden vermag beispielsweise zu unterschieden, ob ein Musiker versucht, die Zeit in der Zeit durch Schnelligkeit oder durch Form aufzuheben. Anne Pollok bringt die Ästhetische Erziehung als Lebenskunst auf den Begriff: „The aesthetic condition is not devised to help us to flee reality, but to face it in the best possible condition.” Kunst kann ein plötzlicher oder schrittweiser Erleuchtungsweg sein und Schillers Briefe vermögen gegebenenfalls das Bewusstsein dafür aufschließen.

Desgleichen kann man beobachten, wie Spiel und Schein die Gesellschaft immer mehr dominieren. Die Unterscheidung des wahren vom falschen Schein und die von Pollok in ihrem Beitrag weitsichtig besprochenen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen könnten für die aktuelle Kultur- und Gesellschaftskritik essentiell sein.

Der von Gideon Stiening herausgegebene Band über die Briefe in der Reihe Klassiker Auslegen verfolgt andere Ziele. Man kann nur hoffen, dass die beständige weitläufige wie umständliche Rekapitulation des Inhalts der Briefe in der „Pflichtlektüre“ nur den „zeitraubenden Gang durch die Sekundärliteratur“ ersparen und nicht auch die authentische Rezeption Schillers ersetzten soll.

Titelbild

Gideon Stiening (Hg.): Friedrich Schiller. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen.
De Gruyter, Berlin 2019.
VI, 247, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783110415117

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