Stimmen aus dem Jenseits
Edgar Lee Masters beschwört „Die Toten von Spoon River“. Die vollständige Neuausgabe lässt keinerlei Wünsche offen
Von Maximilian Mengeringhaus
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Ein Kultbuch!“, verspricht der Verlag. Dabei haben wir es eindeutig mit einem Klassiker zu tun. Denn Kult, das ist ein randrissiges Pulp Fiction-Poster in versiffter WG-Küche; es wird den nächsten Umzug nicht überleben. Edgar Lee Masters‘ (1868-1950) Die Toten von Spoon River dagegen gebührt ein ständiger Podestplatz im Pantheon der US-amerikanischen Poesie, zwischen Walt Whitman und William Carlos Williams. In der Sache jedoch ist man sich einig, dafür spricht die opulente Ausstattung, die man im Hause Jung und Jung dieser Neuausgabe spendiert hat: in Leinen gebunden, mit doppeltem Lesebändchen, dazu zweisprachig, mit Vorwort versehen und kommentiert vom Übersetzer Claudio Maira. Derart wird ein Werk geehrt, dessen Nachleben zu den wirkungsvollsten der modernen Verskunst zählt, dessen Auftrag selbst die Erinnerungsarbeit ist.
Die Toten von Spoon River lässt die Verstorbenen Rechenschaft über ihre verwirkten Leben ablegen. Pastor Abner Peet und Richter Selah Lively, die verlotterte und verspottete Dichterin Minerva Jones ebenso wie die Witwe McFarlane. Sie und so viele mehr berichten aus dem Grab von Erfolgsgeschichten und endgültigen Niederlagen, vom Schicksal, mit Unglück geschlagen zu sein, und vom Neid auf das Glück der anderen. Davon kündet das Prologpoem Der Hügel:
Eine starb bei der Geburt eines unehelichen Kindes,
eine wegen vereitelter Liebe,
eine unter den Händen einer Bestie im Bordell,
eine an gebrochenem Stolz, auf der Suche nach Erfüllung ihrer Herzenswünsche,
eine wurde nach einem Leben weit weg in London und Paris
zu ihrem kleinen Platz bei Ella und Kate und Mag zurückgebracht –
alle, alle schlafen, schlafen, schlafen auf dem Hügel.
Es ist das einzige Gedicht der Sammlung, das nicht aus subjektiver Perspektive verfasst ist. Der Tod waltet in Spoon River keineswegs als großer Gleichmacher, für den die Lebenden ihn unwissend halten mögen. Alle Toten behalten über das Lebensende hinaus ihre eigenen Stimmen und damit auch ihre Vorurteile und Rachegelüste. Nicht Wenige bitten um Nachsicht. Ihre Geschichten sind verflochten, geschäftlich, freundschaftlich oder familiär, wie es in einer kleinen Stadt der Fall ist. Jeder kennt jeden und seine Geheimnisse. Mancher kennt die andere besser als sie sich selbst. So glauben sie. Der Anwalt Benjamin Pantier beispielsweise ist sich sicher, seine Frau habe ihn in die Arme des Alkohols gestürzt, gebrochen und isoliert, bis ihm nur noch die unverwüstliche Treue seines Hundes Nig blieb. Aus anderer Gruft mahnt besagte Frau hingegen an, wie sehr ihr der versoffene Nihilismus des Gatten verhasst war, wie sie der Ekel über seine Schwächen befiel, bis sie ihn schließlich nicht mehr ertrug. Ihr gemeinsamer Sohn Reuben trägt den Hass der Eltern aufeinander in sich. Letztlich aber erlöst ihn der Gedanke an die glaubensfeste Tugendhaftigkeit seiner ehemaligen Lehrerin, als er fernab der Heimat in Paris vor Verzweiflung fast zugrunde zu gehen droht:
Und gerade weil du mich nicht mehr lieben,
nicht mehr für mich beten und mir nicht mehr schreiben konntest,
sprach dein ewiges Stillsein stattdessen.
Und die schwarzäugige Kokotte nahm die Tränen für die ihren,
so wie die falschen Küsse, die ich ihr gab.
Irgendwie hatte ich, von dieser Stunde an, eine andere Art zu sehen,
liebe Emily Sparks.
Emily Sparks wiederum ist noch im Jenseits in Sorge um ihren Schützling, dem sie einst einen hoffnungsschimmernden Brief geschrieben hat, als sie ahnte, dass es nicht gut um Reuben stand. Sie weiß allerdings nicht, ob die Botschaft ihn jemals erreichte.
Für die zerrissenen Pantiers kommt, so der punktgenaue Kommentar Claudio Mairas, nicht zuletzt des Dichters eigene Familie als Vorbild infrage. Das wäre nicht weiter ungewöhnlich, wenn Edgar Lee Masters nicht unzählige weitere Menschen der Kleinstadt Lewistown nahe des Spoon River in Illinois, wo er aufwuchs, in sein Werk eingebunden hätte. Neben diesen Bezügen zur Kindheits- und Jugendlandschaft stand vor allem die antike Anthologia Graeca mit ihren Epitaphen – der im Original nicht zufällig Spoon River Anthology betitelten Gedichtsammlung – Pate. Deren Erscheinen erntete 1915 überschwängliches Lob vom Landsmann Carl Sandburg sowie vom Senkrechtstarter dieser Jahre, Ezra Pound. Anknüpfen konnte Masters, der im Brotberuf selbst Anwalt war, an diesen Erfolg nicht mehr. Noch zu Lebzeiten erschien 1947 eine deutschsprachige Teilausgabe, Günter Eich nannte aus diesem Anlass Die Toten von Spoon River „[e]in großartiges Beispiel echter Gegenwartsdichtung.“ Hans Magnus Enzensberger griff die Machart der Portraitgedichte in seinem Mausoleum ebenso auf wie Durs Grünbein in dem Band Die Teuren Toten. Die Zahl der Romane, die das Setting von den um Deutungshoheit streitenden Stimmen aus den Gräbern inspiriert hat, ist Legion.
Der ungebundene, wenngleich melodiöse Tonfall Masters‘ dürfte an der weiten Verbreitung seiner Anthologie nicht ganz unschuldig gewesen sein. Frei von gefälligen Manierismen, die bei aller Innovation Signa ihrer Zeit sind, ist das nicht immer. Doch gehört es zu einem Klassiker, dass man ihm das Alter passagenweise anmerken darf. Die Übertragungen ins Deutsche, die den US-amerikanischen Originalen in dieser zweisprachigen Edition gegenüberstehen, wirken im Vergleich dagegen etwas schnöde, manchmal gar prosaisch. Die Subtilitäten von Lokalkolorit und Schichtjargon schlüsseln sie allerdings hellsichtig auf, als Lektürestütze funktionieren sie einwandfrei. Für die Zukunft bleibt zu hoffen, dass nicht nur Die Toten von Spoon River weiter ihre – und warum nicht auch neue – Leser finden, sondern dass der Verlag Jung und Jung noch vielen weiteren Werken der Weltpoesie solch verlegerische Fürsorge zukommen lässt wie dem zweifelsohne bewahrenswerten von Edgar Lee Masters.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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