Der feine Unterschied
Zum Adel in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts
Von Günther Rüther
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm 19. Jahrhundert, das Heinrich Mann das deutsche Jahrhundert im Gegensatz zum 18. bezeichnet – welches er das französische nannte –, bilden sich mit der Industrialisierung und dem Ringen um die bürgerliche Freiheit zwei bis in unsere Tage reichende Umbrüche heraus. Im Mittelpunkt dieser Umbrüche steht bis zum Beginn der Weimarer Republik der Adel als zentrale politische, soziale und wirtschaftliche Macht in einer sich neu formierenden Gesellschaft.
Urte Stobbe untersucht in ihrer grundlegenden Studie, die im Herbst des letzten Jahres erschien, nun die Rolle des Adels in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Als Titel wählt sie: Adel (in) der Literatur. Dies erstaunt auf den ersten Blick. „Adel in der Literatur“ leuchtet sofort ein. Jeder denkt dabei an Figuren des Adels, die literarisch wurden. Aber „Adel der Literatur“? Doch bei näherer Betrachtung weiß die Wahl des Titels zu überzeugen. Denn die Autorin untersucht nicht nur Rolle und Darstellung des Adels in der Literatur, sondern auch die Bedeutung und soziale Herkunft adliger Schriftsteller und Schriftstellerinnen, oder allgemein: „den schreibenden Adel der Literatur“. Sie nähert sich ihrem Forschungsgegenstand aus zwei Perspektiven: einer soziologisch-kulturellen und einer literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Als Wegweiser dienen ihr dabei der französische Sozialphilosoph Pierre Bourdieu, einer der bedeutendsten Analytiker seines Faches in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und der Star unserer Tage, der Kulturphilosoph Andreas Reckwitz, der wegweisende Studien zur Kulturtheorie von der bürgerlichen Moderne bis zur Gegenwart verfasst hat. Der Titel dieser Rezension geht allerdings auf Pierre Bourdieu zurück. Er wurde gewählt, weil es der Germanistin Stobbe darum geht, die „feinen Unterschiede“ des „Adels (in) der Literatur“ herauszuarbeiten. Und dies sei bereits vorneweg gesagt, es gelingt ihr vortrefflich.
Die deutschsprachige Literatur ist reich an Autoren, die aus einer Adelsfamilie stammen. Hier seien nur einige Namen genannt: Novalis, Kleist, Chamisso, die von Arnims etc. Es liegt nahe, dass diese Adligen sich in ihren Schriften mit ihrem Stand und den Wechselfällen der Zeit auseinandersetzten, in die sie sich geworfen sahen. Aber damit nicht genug: Unter dem Eindruck rasanter gesellschaftlicher Veränderungen reflektierten sie auch ihre eigene Rolle als schreibende Adlige.
Doch die Studie untersucht nicht nur sie, sondern sie beschäftigt sich ebenfalls mit Schriftstellern, die nicht von Adel sind, sich aber in ihrem Werk intensiv mit dem Adel auseinandersetzen und zum Schriftsteller-Adel zählen. Zumindest erwähnt sei auch, dass es Schriftsteller bürgerlicher Herkunft gab, die nobilitiert wurden und in deren Werk der Adel eine Rolle spielt. Der bekannteste unter ihnen ist Johann Wolfgang von Goethe, mit seinem „Adelswerk“ Götz von Berlichingen. Dieser Sachverhalt deutet die Komplexität des Themas an. Vielleicht liegt hierin auch eine der Ursachen, warum der Adel in den Betrachtungen der Germanistik bis heute nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Autorin nennt dafür weitere Gründe. Sie konstatiert eine Neigung der Literaturwissenschaften, Romane, Novellen, Balladen, Gedichte und Bühnenstücke vor allem unter dem Aspekt der Emanzipation des Bürgertums zu betrachten. Der Adel geriet aus dem Blickfeld, weil er gemeinhin als konservativ, restaurativ, also von gestern betrachtet wurde. Nun ist dem Adel ein gewisser Hang zum Konservativen gewiss nicht abzusprechen. Aber konservativ sein, heißt ja nicht, sich der Moderne zu verweigern, rückwärtsweisenden Vorstellungswelten anzuhängen, sondern konservativ sein, heißt, wie es Fontane formuliert hat, Altes mit Neuem zu verbinden. Im Übrigen fanden sich auch im aufstrebenden Bürgertum reaktionäre Bestrebungen. Dies galt vor allem für die neureichen „Archivare des Reichtums“, die nicht nur danach trachteten, ihren schnell erworbenen Wohlstand zu verteidigen, sondern auch noch nobilitiert werden wollten. Nicht wenigen gelang es. Dies zeigt, dass die vernachlässigte Auseinandersetzung zu Rolle und Bedeutung des Adels in der germanistischen Literatur der Stellung des Adels in der Gesellschaft nicht gerecht wurde. Sie blendete aus, dass es „den“ Adel genauso wenig gegeben hat, wie „das“ Bürgertum. Stobbe schreibt: „Von ,dem‘ Adel kann folglich keine Rede sein, sondern immer nur von bestimmten Ausformungen einer sozialen Formation, deren Akteure und Verhaltensweisen bzw. Eigenschaften unter dem Begriff ,Adel‘ zusammengefasst werden.“
In dieser Differenzierung liegt zugleich die Schwierigkeit, aber auch die Chance des Untersuchungsgegenstandes. Es musste die Entscheidung getroffen werden, möglichst viele Autoren und Autorinnen mit einem breiten Fächer dargestellter literarischer Figuren zu berücksichtigen, also eine Breitenanalyse vorzunehmen, oder eine gezielte, wohlüberlegte Auswahl zu treffen, die einer Tiefenbohrung gleicht, um am Beispielhaften die Relevanz des Adels als Thema herauszuarbeiten. Urte Stobbe entschied sich für den zweiten Weg. In ihren Analysen wendet sie sich Joseph von Eichendorff (1788-1857), Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) und Theodor Fontane (1819-1898) zu. Aus deren umfänglichen Werken greift sie einzelne heraus, die für den Forschungsgegenstand besonders erhellend sind. Bei Eichendorff ist dies sein Roman Ahnung und Gegenwart, bei Droste Gedichte und Balladen, hier vor allem Das alte Schloß, und bei Fontane sein Altersroman Der Stechlin. Diese Arbeiten ordnet sie in den Kontext des jeweiligen Gesamtwerkes ein. Nach einer umfänglichen methodischen Einführung und Erklärung ihrer Vorgehensweise analysiert sie die ausgewählten Autoren und Werke in einer literaturwissenschaftlich-hermeneutischen und kultur-soziologischen Betrachtung in drei Kapiteln von jeweils gut einhundert Seiten. Die drei Kapitel werden mit einem pointierten Zwischenfazit abgeschlossen. In einem Résumé fasst sie den Ertrag ihrer Untersuchung zusammen. Das Ergebnis ist ergiebig und erhellend. Es bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitergehende literaturwissenschaftliche Betrachtungen zum Adel in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Herauszuheben sind folgende Erträge:
Eichendorff, der jüngst Geborene unter den ausgewählten Autoren, beansprucht für den Adel eine soziale Führungsrolle auf der Basis tradierter Werte. Als dichtender preußischer Beamter nimmt er eine „überaus traditionsbewusste konservative Haltung“ ein. Seine Texte popularisieren Werte wie Treue, die an alten „Ritter- und Ritterlichkeitsvorstelllungen“ festhalten und dem spürbaren Werteverfall entgegenwirken wollen. Eichendorff erweist sich als Repräsentant des Adels, der gegen seinen Zerfall anschreibt.
Die Droste schreibt auch aus einer adligen Grundhaltung heraus. Sie nimmt jedoch im Gegensatz zu Eichendorff eine vorsichtig distanzierte Haltung zum Adel ein. Ihre Balladen und Gedichte zeugen hinter einer verschlüsselten Bildsprache von einem durchaus kritischen Bewusstsein. Als Mitglied des Adels ringt sie mit ihrem anerzogenen Selbstverständnis und versucht eine eigenständige Position jenseits tradierter Rollenerwartungen zu finden. Nicht zuletzt auf Grund dieser selbstreflexiven Haltung überdauert ihr Werk bis heute und zählt weiter zum Literaturkanon.
Theodor Fontane stammte aus einer Berliner hugenottischen Apotheker-Familie. Dennoch bildet die Beschäftigung mit dem Adel in seinem Werk einen Kristallisationspunkt, der sich schon früh ausbildet und bis zu seinem letzten Roman Der Stechlin bedeutsam bleibt. Viele betrachten dieses Alterswerk als Roman über den Niedergang des Adels. Doch das trifft nur in eingeschränktem Maße zu. Fontane beschreibt den Niedergang des Adels. Aber gerade in seinem letzten großen Roman verweist er darauf, dass der Adel auch in Zukunft eine tragende Rolle in der Gesellschaft spielen kann. Diese Rolle sieht er jenseits der politischen Macht in seiner Vorbildfunktion für die neue Zeit, wenn man so will, in einem sozialen Transitorium. Fontane schildert im Stechlin den Adel nicht als reaktionär, sondern als eine herausgehobene gesellschaftliche Gruppe, die erkannt hat, dass ihre Zeit abläuft. Dies gilt insbesondere für den alten Baron Stechlin aber auch für andere Figuren des Romans. Sie zeichnet ein zukunftsoffener Konservatismus aus. Sie loten aus, was vom Bisherigen für die Zukunft erhaltenswert ist und was an Neuem dazukommen muss. Stobbe spricht deshalb von einem „Schwellenzeitroman“.
Die Studie ist ein Beitrag zur Literaturwissenschaft. Sie beleuchtet ein bisher vernachlässigtes Thema. Zusammengefasst vermittelt sie, dass es sich bei der Adelsthematik in der Literatur im 19. Jahrhundert in Deutschland um ein zentrales Phänomen handelt, das der näheren Analyse wert ist. Sie legt den Grundstein für weitergehende Untersuchungen und befreit das Thema von Klischees, die sich bisher darum rankten und einer vertieften Betrachtung entgegenstanden.
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