Wann ist Theater politisch?

An Bertolt Brecht, dem Großen, arbeiten sich noch heute Theaterleute ab, wie der Tagungsband „Brecht und das Theater der Interventionen“ zeigt

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt viele Definitionen von Politik und demzufolge viele Antworten auf die Frage, was es heißt, politisch zu sein und zu handeln. Im Allgemeinen geht es darum, wie Gesellschaften organisiert sind, wie in ihnen Macht verteilt ist und Interessen geregelt werden. Politikwissenschaftler und Historiker Christian Graf von Krockow meint:  „Politik ist der Kampf um die Veränderung oder Bewahrung bestehender Verhältnisse“. In dieser Definition bildet die Kombination von Kampf und Veränderung mit Blick auf das zu besprechende Buch einen besonderen Konnex, denn dort ist von der Veränderbarkeit der Welt die Rede und wie man mit den Mitteln des Theaters auf die Veränderung hinarbeitet. Ein Schlüsselwort nennt bereits der Titel: Intervention als ein „eingreifendes Denken“, wie es bei Brecht heißt.

Intervenieren ist tatsächlich ein Begriff, der uns einfallen könnte, wenn es um politische Praxis geht. Ob hier das Theater in den Sinn käme, bezweifle ich jedoch. Wie alle gesellschaftlichen Einrichtungen sind natürlich auch kulturelle Orte durch Wechselwirkungen mit der Politik geprägt und befinden sich in einem politischen Raum („gleichsam ein Mikrotheater im Makrotheater“, wie es in Niklas Luhmanns „Die Kunst der Gesellschaft“ so schön heißt). Aber inwiefern sind sie selbst ein politischer Akteur? Wurde Politik je im Theater gemacht? Was hat es verhindert, was je befördert? Welche gesellschaftlichen Veränderungen gingen auf einen Theaterabend zurück? Es ist sicherlich nicht fair, zu viel zu erwarten, andererseits können Theaterleute recht maßlos in ihren Illusionen sein.

Das Theater ist ein öffentlicher Ort und ein kommunikativer des Sprechens und Agierens. Das klingt verführerisch, aber mehr als Spiel geht doch nicht, wenn wir von den Theaterskandalen und -eklats einmal absehen. Eine bessere Welt kann die Bühne zwar zeigen und auch, wie schlecht sie ist, aber den Weg von den bedeutungsschweren Brettern in die Wirklichkeit hat diese vorgestellte bessere Welt noch nie gefunden. Politik hat ihre eigenen Räume, die als Plenum durchaus Ähnlichkeit mit einem Theater aufweisen, doch der gravierende Unterschied ist, was wir neudeutsch mit Framing bezeichnen und die Differenz von Schein und Sein meint. Im Theater kann noch so viel proklamiert werden, nur was das Plenum verabschiedet, wird zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Bühne fehlt eine solche Konsequenz.

Das ist beileibe kein Argument gegen die Einmischung. Ein Theater, das unbequeme Fragen stellt und den Finger in die Wunde gesellschaftlicher Missstände legt, war mir schon immer am liebsten. Aber wir kommen um die Frage der Wirksamkeit nicht herum. Theater ist und bleibt eine Sphäre des schönen Scheins, auch wenn sie auf ihre Art Wirklichkeit produziert, sich aufklärerisch und kritisch gibt, sich als episch und postdramatisch definiert. Mir fällt da immer Georg Büchner ein, der Danton eine fundamentale Wahrheit aussprechen lässt: „[…] wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden“.

Genug der Vorrede, die mir aber nicht ganz unnötig erscheint angesichts all der nach wie vor herrschenden Blauäugigkeit über die politische Wirksamkeit des Theaters, wie sie gerade für Theatermacher typisch ist, die sich in der Tradition Bertolt Brechts sehen. Der zu besprechende Band enthält die Beiträge zu den Brecht-Tagen 2020, veranstaltet im Literaturforum im Brecht-Haus Berlin. Darin enthalten sind Aufzeichnungen von Gesprächsrunden, theatergeschichtliche Vorträge, die um Erwin Piscators Arbeitertheater, um Agitprop und Brechts Lehrstücke kreisen und schließlich einige Projektbeschreibungen.

Ob Gegenwart oder Vergangenheit, es wird meines Erachtens nie recht klar, was an den vorgestellten Theatermodellen das konkret Politische im Sinne von Wirksamkeit und Nachhaltigkeit mit Blick auf gesellschaftliche Veränderungen sein soll, außer, dass es behauptet wird und durch eine marxistische Weltsicht legitimiert erscheint. Die Gespräche vermitteln eher, wie sehr sich das Theater mit sich selbst beschäftigt, wie es seine politische Bedeutung und Wirkung ausgiebig romantisiert.

Der Zuschauer müsse Partei ergreifen, so der Theaterpädagoge Brecht. Bernd Stegemann hingegen, einer der Teilnehmenden der Gesprächsrunden, gab sich da bescheidener: „Das Ziel ist also, eine materialistische Art von Alltags-Analyse in Gang zu setzen. Wenn Kunst das erreicht und diesen Punkt bei einem Zuschauer erwischt, dass er im besten Fall eine Frage mit in die Realität nimmt, dann ist es genau das, worum es mir geht.“ Ein anderer Teilnehmer, nämlich Florian Malzacher will näher am großen Vorbild bleiben und verlangt deshalb: „Aber Theater sollte durchaus den Anspruch an sich selbst stellen, aktiver Teil der Veränderung der Gesellschaft zu sein und nicht nur zu analysieren. Darauf würde ich, durchaus im Sinne Brechts, beharren.“

Dass so etwas heute noch glatt von den Lippen geht, ist vielleicht das Erstaunlichste. Das Publikum schien die Sache nüchterner zu betrachten, zumindest kam von dort die simple Frage, welches von Brechts Stücken die Welt spürbar verändert habe. Wenn das bloß nicht Ketzerei ist. Als die Rede auf die gesellschaftlichen Kausalitätslogiken kam, die es im Theater aufzuzeigen gelte, kam mir die gute alte Sesamstraße in den Sinn, die ohne viel intellektuelle Überformung grandios das Was-passiert-dann-Spiel beherrscht.

Die Frage, was eine „interventionistische Dramaturgie“ sei, beantwortete Bernd Ruping so: „Sie geht aus dem Sorgecharakter einer auf Zwecke gerichteten Chronologie, die von hinten drückt und nach vorne zieht, und treibt die darin auffindbaren Befunde zur ästhetischen Form, die ihre Zwecke in sich selbst trägt, also Spiel wird.“

Wer das im Publikum wohl verstanden haben mag, von der unfreiwilligen Komik ganz abgesehen? Doch Ruping legte selbstkritisch nach, indem er erklärte: „Wir können die Not nicht per Theaterpädagogik abschaffen, aber wir können sie in einen Rahmen stecken.“ Genau das hat Theater schon immer am besten gekonnt, ein Drama zwischen das Bühnenportal packen. Und das ist auch sein Sinn. Aber als Eingeständnis klingt auch das ziemlich ketzerisch, weil es gerade nicht an die Veränderbarkeit der Welt durch das Theater glaubt.

Am ergiebigsten erweisen sich die vorgestellten Projekte, die allerdings auch zu verstehen geben, dass sie die Institution Theater mit Haupt-, Seiten- und Hinterbühne, mit Vorhang und Kulissen gar nicht brauchen, weil sie lieber draußen im urbanen Raum, auf der Straße oder in der Fabrik, also an kunstfernen Orten agieren. Es sind eher Aktionen mit betont sozialem Charakter, bei denen mir Joseph Beuys erweiterter Kunstbegriff in den Sinn kam, verbunden mit dem Gedanken, ob hier nicht auch ein erweiterter Politikbegriff denkbar wäre. Oskar Negt prägte einst den Begriff der „soziologischen Phantasie“, der hier ebenfalls wie maßgeschneidert zu passen scheint.

Erwähnt wurde als Beispiel politischer Einmischung die Arbeit des „Zentrums für politische Schönheit“. Da werde durch künstlerische und performative Interventionen in anderen gesellschaftlichen Systemen Effekte erzielt: „Sobald die Gruppe mit ihren Aktionen zum Gegenstand eines Rechtsverfahrens wird, hat sie einen Effekt in einem kunstfernen Bereich ausgelöst.“ Als beeindruckend empfand ich die Arbeit der in Wien beheimateten Truppe „WochenKlausur“, die seit 1993 über 40 Projekte initiierte und damit zugleich die Debatte antrieb, was Kunst sei und was sie vermag. Zu den zahlreichen Initiativen gehört beispielsweise ein Arztbus für Obdachlose, den es bis heute gibt und der weltweit Nachahmung fand. Was daran allerdings Kunst sei, blieb unbeantwortet. Dass die Truppe mittenhinein geht in die Gesellschaft, erinnert zumindest entfernt an den avantgardistischen Traum, Kunst und Leben zusammenzubringen. In diesem Sinne liest sich Wolfang Zinggls Projektpräsentation:

Wir verstehen die Gestaltung des Zusammenlebens als unsere Kunst. Es ist uns nicht wichtig, Objekte herzustellen, wir machen keine Performances, keine Shows, keine Dokumentationen. […] Uns geht es darum, dass wir uns sehr konkrete, effektive, kleine, ganz bescheidene, aber doch hoffentlich wirkungsvolle Eingriffe überlegen und dann auch tatsächlich durchziehen. […] Ob das nun soziale Kunst ist oder politische Kunst oder Kommunikationskunst […] ist selbst schon eine politische Frage und politisch ist bekanntlich jede Art von Kunst.

Das klingt sehr theaterfern und ist es erklärtermaßen auch, aber die als Kunst definierte Praxis erscheint indes realitätsnah – auf jeden Fall realitätsnäher, als Theater es jemals war, auch wenn es seit der Antike von nichts anderem handelt als vom Menschen und seinen Lebenswirklichkeiten.

Titelbild

Christian Hippe / Volker Ißbrücker / Cornelius Puschke / Marianne Streisand (Hg.): Brecht und das Theater der Interventionen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2022.
260 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9783957325228

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