Zukunft mit Ziegen

Durian Sukegawas prekärer Protagonist lässt in „Die Insel der Freundschaft“ die Zivilisation hinter sich

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit der Wirtschaftsflaute Ende der 1990er Jahre und den Reformen des japanischen Premierministers Koizumi von 2001 bis 2006 haben Japans Jugendliche es schwer. Arbeitsplätze sind knapp, Konsum kann kein Lebensziel mehr bieten und mit der Selbstverwirklichung in einem schönen Job sieht es auch nicht gut aus, zumal es an Ideen mangelt, was man längerfristig machen möchte. Beliebte Berufe der „Generation prekär“ sind Künstler oder Koch. In Durian Sukegawas Insel der Freundschaft ist es – wie schon in Kirschblüten und rote Bohnen zuvor – ein Adept des Kulinarischen, dessen Entwicklung der Autor schildert.

Reif für die Insel

Ryosuke Kikuchi, ein Studienabbrecher, der nach dem frühen Verlust des Vaters und dem Tod der Mutter ohne Familie zurechtkommen muss, gibt ausgelöst durch eine seelische Krise die Beschäftigung in der Küche eines französischen Restaurants auf. Er verdingt sich im Alter von 28 Jahren als Leiharbeiter. Zusammen mit zwei anderen Jobbern ohne Perspektive wird er von der Firma auf eine entlegene Insel in den Süden Japans entsandt. Die Aufgabe der drei besteht also nicht wie oft im Fall der Billiglöhner aus gefährlichen Hilfsdiensten im Atomkraftwerk: Sie sollen dieses Mal angeblich nur eine Grube für den Wasserspeicher der 300 Seelen-Insel ausheben.

Bald erkennen die jungen Großstädter, dass es sie an einen sehr speziellen Ort verschlagen hat, an dem die Dinge anders laufen als in Tokyo. Während das Essen, meist Omelette, Pickles und ausgezeichneter frischer Fisch, köstlich schmeckt, handelt es sich bei den Einwohnern von Aburi um ein „raues Volk“. Leicht gerät man hier aneinander. Zum Ausgleich gibt es jede Menge Reisschnaps. Der „Vorsitzende“, wie man das ältere Oberhaupt der Ansiedlung nennt, hat eine „extreme Ausstrahlung“, scheint den Neuankömmlingen aber freundlich gesonnen. Ryosuke gewöhnt sich schnell an die „mühselige und monotone Arbeit“, wobei man damit einem häufigen Topos der japanischen Prekariatsliteratur begegnet: Körperliche Erschöpfung befreit zu einem gewissen Grad von „emotionaler Instabilität“.

Indigene Traditionen, individuelle Träume und die Gesetze der Natur

Sukegawa, frisch entdecktes Talent des Dumont Verlags, schildert in der Erzählung, die im Original und dem Inhalt angemessener „Die Insel der Ziegen“ (Pinza no shima) heißt, wie sich drei unterschiedliche  Charaktere, die bereits die Erfahrung von Existenznöten (das japanische Stichwort lautet ikitsurasa) gemacht haben, mit der indigenen südjapanischen Kultur und ihren archaischen Gebräuchen auseinandersetzen. Die Insel birgt manche Geheimnisse – und auch Ryosuke hat ein verborgenes Motiv für seinen Aufenthalt. Er möchte einen alten Kameraden seines Vaters treffen und ihn zu dessen Tod befragen. Zunächst begegnet er jedoch den tierischen Bewohnern des Eilands – sein erster Kontakt mit den Ziegen erfolgt unter dramatischen Umständen, denn Ryosuke hätte beinahe erneut der Verlockung der Selbstauslöschung nachgegeben, wenn ihn eine wilde gefleckte Ziege nicht davor bewahrt hätte.

Allmählich löst sich der Protagonist aus seiner Vereinsamung. Er schließt mit dem ehemaligen Host Club-Boy „Jimmy“ Ichizo Tachikawa und mit der üppig gepiercten Kaoru Motomiya Freundschaft und offenbart sich als Sohn des verstorbenen Geschäftspartners gegenüber Soichi Hashida, der nach dem Fehlschlag der gemeinsamen Unternehmung auf der Insel Zuflucht gefunden hat. Aufgrund seines wachsenden Interesses an den Ziegen will Ryosuke nun zusammen mit den Kumpanen und mit Hashi als Mentor in der Nachfolge des Vaters ein zweites Mal das Wagnis eingehen, Ziegenmilchkäse herzustellen. Ziel ist es, sich eine Existenz aufzubauen. Mehr und mehr faszinieren Ryosuke die Natur und die Interaktion mit den Tieren. Die Vision eines gelungenen Ziegenkäses erfüllt ihn derart, dass er sich unermüdlich der Verwirklichung dieses Traums widmet.

Unsanft kollidieren die Wünsche der jungen Tokyoter dann mit den Traditionen der Inselbewohner. Der Vorsitzende beansprucht das zweite Zicklein von Hashis Hausziege Hanayo als Festmahl für eine große Feier. Hashi zwingt Ryosuke, der dem Tierkind den Namen Puno gab, die Denkweise des Inselkollektivs zu achten und sich den Gesetzen einer ruralen Existenz zu unterwerfen: Um mit tierischen Produkten seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, muss man den Tod der Tiere akzeptieren. Ryosuke überwindet sich, Puno zu schlachten und wird mit der harten Realität konfrontiert. Er gibt seine Pläne auf, die zwei Freunde kehren nach Tokyo zurück. Als ein Sturm über die Insel fegt, ergreift  Ryosuke die Chance und wählt einen völlig neuen Weg.

Robinsonade mit dem Totenschiff

Der Einstieg in den Text fällt nicht ganz leicht. Passagen, in denen die Akteure über die Herstellung von Käse diskutieren, ermüden ein wenig, was keineswegs an der Sprache der deutschen Übersetzung liegt. Der japanische Leser denkt eventuell bei der Schilderung der Ziegenmilchverwertung an einen Betrieb wie die Hagoromo Farm in der Burgstadt Nakagusuku, Präfektur Okinawa; der Ort gehört seit dem Jahr 2000 als archäologische Stätte des Königreichs der Ryūkyū-Inseln zum UNESCO-Welterbe, und so mag die Anspielung einen touristischen Fingerzeig enthalten.

Als Prekariatsliteratur berichtet die Insel von der Vulnerabilität und den Anpassungsschwierigkeiten der jüngeren Generation im globalisierten Wettrennen um Lebensgrundlagen. Diese Narration entwickelt sich zu einer „Literatur der Heilung“ (iyashi bungaku), in der sich die positive Veränderung des Protagonisten meist in imaginierten südlich-exotischen Gefilden vollzieht. Sukegawas asiatischer Süden ähnelt indes weniger dem spirituellen Okinawa einer Banana Yoshimoto, sondern weist gewisse Übereinstimmungen mit dem chthonischen Kumano des bekannten literarischen Folkloristen Kenji Nakagami (1946–1992) auf: Die Insulaner sind dem Aberglauben verhaftete Raufbolde, die auf ihren Tabus und Ritualen beharren. Spontane Sinneswandel ermöglichen andererseits auch Tabubrüche ohne böse Folgen – der Autor wendet offensichtlich ein geopsychologisches Model an und beschreibt den Wirkungszusammenhang zwischen dem indigenen Temperament und der maritim-unberechenbaren Umwelt.

Das Ende der Erzählung bringt jenseits eines nationaltherapeutischen Narrativs von Resilienz und wiedergewonnenem Lebenswillen oder von Adaption an die Gegebenheiten des Daseins noch eine willkommene Steigerung der spannenden Sturmepisode ins Absurd-Anarchische. Der Fremdling aus Tokyo besteigt ein rituelles Boot und rudert mit der vor ihrem grausamen Schicksal geretteten Ziege „Fleckchen“ aufs Meer hinaus, wo er dann, wie zu hoffen wäre, auf eines der unbesiedelten Eilande stößt, um fern der Technikmetropole und auch in gebührendem Abstand zu den Aburi-Insulanern – als zweiter Robinson mit Ziege – sein eigenes Paradies zu errichten.

PS: Durian Sukegawas Roman wurde im August 2017 vom Sender NHK als Hörspiel aufgeführt.

Titelbild

Durian Sukegawa: Die Insel der Freundschaft. Roman.
aus dem Japanischen von Luise Steggewentz.
DuMont Buchverlag, Köln 2017.
348 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783832198619

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