Der Magier, die Assistentin und der Flinke Jack
Graham Swift verzaubert in „Da sind wir“ mit einem Ausflug in die fünfziger Jahre
Von Georg Patzer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNoch in den fünfziger Jahren sind die Seebäder Englands voll von kleinen Varieté-Häusern, viele von ihnen auf großen Piers direkt über dem Wasser. Kleindarsteller und Sängerinnen, Jongleure und Akrobatinnen, Tänzerinnen und Zauberkünstler treten hier auf, und das Sommerferienpublikum genießt die unterhaltsamen Abende, durch die stets ein Conférencier führt. In Brighton ist es „der Flinke Jack“: „Ein bisschen Geplauder, ein paar Witze, manche schlüpfrig, ein bisschen Singen, ein bisschen Tanzen, ein wenig Steppen. Er mache die Einführungen und Überleitungen, hatte aber auch ein paar eigene Auftritte, und am Ende rundete er die Show mit seiner Schlussnummer ab.“ Aber vor den Auftritten schleicht er sich auch manchmal ins Publikum, um vor allem dem einen Paar zuzusehen, das er mit aufgebaut und groß gemacht hat: Pablo und Eve.
Pablo heißt eigentlich Ronnie Deane. Das Zaubern hat er bei Pflegeeltern gelernt, wo er wohl die schönste Zeit seines Lebens verbrachte. 1939 brachte seine Mutter Agnes den Achtjährigen von London aufs Land, in die Nähe von Oxford, damit er dem drohenden Krieg entgeht. Und Ronnie hat Glück: Er kommt zu einem Ehepaar, das sich gut um ihn kümmert, ihn aufzieht wie einen eigenen Sohn. Eric und Penelope haben keine eigenen Kinder, aber sie haben ein Haus mit Garten und Freunde, die sich fein anziehen, wenn sie zu Besuch kommen: für Ronnie eine völlig neue Erfahrung, und er kommt sich vor wie im Paradies:
Ronnie vergaß den Krieg ziemlich schnell, und bald war er überzeugt, dass der Ort, an den er geschickt worden war, sein eigentliches Zuhause war und sein vorheriges Leben mitsamt dem Haus in Bethnal Green und seinen Eltern Agnes und Sid auf einer Verwechslung oder einem Missverständnis beruhte.
Irgendwann erfährt er, dass sein neuer Vater als Zauberer auftritt, und wieder tut sich eine neue Welt für ihn auf, und er beschließt Zauberer zu werden. Und das wird er auch, gegen den Widerstand seiner Mutter.
Da sind wir erzählt in einer verzaubernden Geschichte, wie sich Ronnie langsam hocharbeitet. Vor allem aber erzählt der Roman die Liebesgeschichte zwischen ihm und seiner Assistentin Eve und jene zwischen Eve und seinem alten Kumpel, dem „flinken Jack“, der sie nach Brighton holt. In sich manchmal wiederholenden Schleifen wird aus Sicht der alten Eve erzählt – ein kompositorischer Trick, den Swift auch in Ein Festtag verwendete, der allerdings nicht immer so ganz überzeugt. Gleichwohl gelingt es dem Autor aber, eine schwebende, leicht melancholische, auch etwas geheimnisvolle Atmosphäre zu beschwören, vom unsicheren Leben freier Künstler in einer Zeit, in der die Fernsehunterhaltung auf dem Vormarsch ist (Jack erkennt das sehr früh und wird erfolgreicher Schauspieler), und von der Liebe, die ein Geheimnis ist wie die Zauberei.
In vielen anrührenden Szenen erzählt Swift von der neugierigen und offenen Eve, dem verschwiegenen Ronnie, dem sie auch als seine Verlobte kaum etwas von seiner Vergangenheit entlocken kann und der sie auch nie seiner Mutter vorstellt. Und von Jack, der Ronnies Abwesenheit ausnutzt, um Eve seine Liebe zu gestehen. Überraschenderweise ist die Liebe gegenseitig.
Denn darum geht es in diesem schmalen Buch: um Liebe und um Entscheidungen, die zu einem anderen Leben führen, wie in Ronnies Fall. Oder ist es doch Schicksal, das Ronnie nach Oxfordshire geführt hat? Eve und Jack jedenfalls leben fünfzig Jahre glücklich miteinander, während Ronnie, von seiner Verlobten verlassen, am Abend seines letzten Auftritts in Brighton spurlos verschwindet: „Der Zauberer hat sich weggezaubert.“
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