Synchronoptische Geschichtsschreibung
Tom Holert nähert sich in „ca. 1972“ den Versprechen und Ernüchterungen der Zeit nach 1968
Von Werner Jung
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Aufregung um Tom Holerts Buch, das bei der diesjährigen Leipziger Buchmesse mit dem Preis für das beste Sachbuch ausgezeichnet wurde, hat mindestens der Rezensent nicht verstanden. Schon gar nicht, warum dieses Buch, wie Jens-Christian Rabe in der Süddeutschen Zeitung (22.3.2024) titelt, als „eine Art Coffee-Table-Buch für Volksbühnen-Ultras“ anzusehen ist. Doch milder klingt es dann, wenn er schreibt, dass man bei Holert „eine riesige Fundgrube vor sich [hat], die ungleich kundiger und sensibler ist für den Einfluss von Sub- und Popkulturen aller Art als die ‚große‘ Kulturgeschichtsschreibung.“ Das trifft schon eher Holerts Intention, die, wie er im Vorwort formuliert, eine „synchronoptische Geschichtsschreibung“ betreibt und einen „Zeit-Raum mit Ausfransungen“ zu analysieren versucht.
Unter methodisch-methodologischen Hinweisen auf den sogenannten spatial turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften der letzten zwanzig Jahre nähert sich Holert dem Zeit-Raum „ca. 1972“ an, wobei das „ca.“ im Titel deutlich machen will, dass es um kein fixes Datum geht, sondern dass sich Anfang der 70er Jahre zugleich Versprechen und Ernüchterung (der Zeit nach 68) zeigen,
dass die Epoche/Epoché ‚ca. 1972‘ als Zeit-Raum von Kämpfen (um Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Wahrnehmbarkeit und so weiter) verstanden werden sollte; dass diese Kämpfe von den inneren und äußeren Peripherien und Semi-Peripherien der imperialen Ordnungen des Kalten Kriegs ausgingen; dass zugleich die globale Ausstrahlung des revolutionären Ereignisses ‚1968‘ im Schwinden begriffen war; und trotzdem (oder gerade deswegen) Anlass besteht, mit ‚ca. 1972‘ ein Ethos der Konnektivität ohne Totalität zu assoziieren, eine eigentümliche Konstellation von ausgelaugten Orthodoxien und vitalen Häresien.
Entsprechend weitgespannt erstrecken sich die Felder von Holerts Darstellung, die in acht Kapiteln sich mit Fragen der Identität, von Gender und Rollenspielen über die Umweltbewegungen, die Grenzen des Wachstums, indigene Selbstbehauptung, Vietnam-Lektüren und die internationale Radikalisierung bis zu Widerstandskämpfen in Gefängnissen (wo auch immer auf der Welt) beschäftigt und hierzu unterschiedliche Schreibweisen und Darstellungsformen bemüht. Holert vermag gut essayistisch zu schreiben, d. h. er changiert zwischen einem Erzählton und diskursiven Beschreibungen und kann auf diese Weise – um mit Lukács bzw. Adorno zu sprechen, dem Holert mehrfach Reverenzen erweist – die Mitte zwischen Literatur und Wissenschaft halten. Dazu passt, dass Holert seine Erzählungen und Beschreibungen (darin mag man zudem Anleihen bei der Kunstgeschichte erkennen) entlang eines umfangreichen Fotomaterials und Abbildungskorpus, das von Bildern über Platten- und Buchcover bis zu Flugblättern und Underground-Dokumenten reicht, entwickelt.
Klar ist, dass sich Holerts Darstellung in „ca. 1972“ auf keinen Generalbass einstimmt und auch kein schlüssiges Gesamtbild oder -panorama vorführt. Wie auch? Wusste doch schon einer der Gründerväter der Soziologie, Georg Simmel, dass Differenzierungen nur im Nebeneinander entstehen. Man hüte sich vor (falschen) Totalitäten.
Im umfangreichen Nachwort zu seinem Buch geht es nicht zuletzt um einen den Zeit-Raum „ca. 1972“ zentral beschäftigenden Begriff, das Radikale bzw. die Radikalität, was die – mit Holert – als „Neue Subjekte“ anzusprechenden gesellschaftlichen Akteure (anders als die Altvorderen 1968) besonders affiziert hat.
Denn der historische Horizont der Moderne war dabei, seine orientierende Funktion zu verlieren. Die Leuchtfeuer des Fortschritts verblassten, politische Projekte kamen an ihr Ende. Gleichzeitig betraten neue, zuvor ausgegrenzte Akteure mit ihren Identitäten, Organisationsformen und Politikstilen die Bildfläche. Alternative Kartografien einer ‚dritten‘ und ‚vierten‘ Welt wurden sichtbar. Das Schicksal der ‚Umwelt‘ und des Planeten rückte auf die Agenda.
Wie hieß das seinerzeit noch so schön bei den Spontis? Immer radikal, niemals konsequent!
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
|
||