Die Materialkultur der Zünfte und Handwerker in der Frühen Neuzeit

Andreas Tacke, Birgit Münch und Wolfgang Augustyn erzählen die Sozialgeschichte des Künstlers anhand von Objekten

Von Stefanie LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus dem Forschungsprojekt „Artifex“, für welches der Trierer Kunsthistoriker Andreas Tacke im Jahr 2010 den Preis des Europäischen Forschungsrates „ERC Advanced Grant“ erhielt, sind insbesondere in den letzten beiden Jahren in dichter Folge Monografien zu unterschiedlichen Aspekten der Sozialgeschichte des frühneuzeitlichen Künstlers hervorgegangen.

Der Band Material Culture bildet diesbezüglich die jüngste Publikation, hervorgegangen aus einer namensgleichen internationalen Tagung am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München im Jahr 2016. Daher sind Beiträge in englischer wie in deutscher Sprache enthalten. Wie aus dem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren hervorgeht, haben international renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ebenso wie Promovierende gleichrangig zu diesem Band beigetragen. Auch das Geschlechterverhältnis ist erfreulich ausgewogen.

Im Zentrum der Untersuchungen stehen die seit einigen Jahren auch in der Kunstgeschichte intensiver diskutierten Fragen, wie Objekte der materiellen Kultur Wissen transportieren und was sie über soziale Gruppen, deren Riten und Handlungen sowie über bisher weniger erforschte weltliche und geistliche Vereinigungen der Vormoderne aussagen können. Hierfür werden neben bekannten Kunstgattungen wie dem Tafelgemälde auch Objekte in den analytischen Fokus genommen, die den meisten Leserinnen und Lesern weniger vertraut sein dürften: beispielsweise Prozessionsstangen, Malstöcke, Zunftscheiben oder auch der Stuhl des Malers Peter Paul Rubens. Diese Auswahl lässt bereits ahnen, wie breit der Blick der Beteiligten auf die Formen der materiellen Kultur ausfällt und welche überraschende Einsichten er für die Lesenden bereithält. Lobenswert ist in diesem Zusammenhang die flüssige und inhaltlich aufeinander abgestimmte Darstellungsweise, die es leicht macht, den vorgebrachten Argumenten zu folgen, zumal diese stimmig in ihren jeweiligen historischen und kunsthistorischen Kontext eingebettet sind. Dazu trägt auch die Kürze und Prägnanz der Beiträge bei. Das Buch eignet sich somit nicht nur als Vertiefung, sondern auch als erste Einführung in den Forschungsgegenstand.

Die buchkünstlerische Gestaltung des Imhof Verlages ist wie immer ästhetisch und inhaltlich gelungen: Neben den zunächst rätselhaft anmutenden Prozessionsstangen auf dem Titelblatt ist vor dem Inhaltsverzeichnis und am Schluss des Buches sowie im Kopf jedes Aufsatzes ein schwarz-weißer Holzschnitt des Ständebuchs von Jost Amman eingefügt, der auf den Inhalt des Bandes einstimmt. In den Fließtext sind zahlreiche hochwertige farbige Abbildungen der vorgestellten Kunstwerke eingefügt. Die hellgrau vom Fließtext abgesetzten Anmerkungen und Literaturnachweise erschweren jedoch die Lesbarkeit.

Der Inhalt untergliedert sich in drei Kapitel mit den Titeln „Die Stadt als Bühne für Künstler und Zünfte“/ „The city as stage for artists and guilds“, „Konkurrenz im Kirchenschiff“ / „Competition in the nave“ und „Zünfte und Repräsentation: das marginalisierte Objekt“ / „Guilds and representation: the marginalized art object“.

Sabine von Heusingers Aufsatz stellt eine überzeugende Einführung in die zugrundeliegende Problematik dar. Am Beispiel der Straßburger Goldschmiedezunft wird gezeigt, dass Anton Legners normsetzende Monografie Der Artifex die Zunfteinbindung des frühneuzeitlichen Künstlers gerade nicht thematisierte, da sie dem Postulat des ungebundenen, freien Künstlers entgegensteht. Wichtige Ausprägungen dieser Vereinigungen werden kurz vorgestellt, namentlich die gewerbliche Zunft, die Bruderschaft, die politische Zunft und die militärische Einung.

Der folgende Beitrag von Pascale Rihouet widmet sich der materiellen Ausstattung der Annunziata-Bruderschaft im Perugia des 14. bis 17. Jahrhunderts und kann unter anderem anhand eines Altarbilds, das vermutlich bei Prozessionen mitgeführt wurde, die identitätsstiftende Funktion der Objekte für die religiöse Vereinigung nahelegen. Fortgeführt wird das Thema von Dan Ewing, der eine Gruppe niederländischer Tafelgemälde des Heiligen Lukas beim Malen der Jungfrau mit Kind als Mittel der Selbstrepräsentation der Antwerpener Lukasgilde vorstellt. Daran schließt Petra Maclot mit Bezug auf die Antwerpener Gildehäuser in der Nähe des Rathauses und der Kirche Unserer Lieben Frau an. Deren Äußeres ist nicht nur von einer augenfälligen Bezugnahme auf die all’antica Architektur des städtischen Verwaltungssitzes, sondern auch dem Wunsch nach Selbstdarstellung der ausführenden Bildhauer geprägt, während in ihrem Inneren kostbare Kunstsammlungen vom Vermögen der Gilden zeugten. Neben der all’antica-Architektur waren die Antwerpener Gildenhäuser auch durch etwas weniger kostspielige Fassadenmalerei geschmückt, was nach Martin Möhle auch für die Zunfthäuser am Markt und Rathaus der Baseler Altstadt galt und großflächige Dekorationen der Interieurs einschloss. Am Beispiel des dortigen Schmiedezunfthauses erörtert er die Frage nach der internationalen Anschlussfähigkeit der gemalten Ausstattungen durch die Verwendung druckgrafischer Vorlagen. Ein weiterer interessanter Gesichtspunkt ist auch die Inanspruchnahme der Fassadenmalerei als Mittel öffentlicher Selbstdarstellung, nachdem dies in den dortigen reformierten Kirchen nach 1529 nicht mehr möglich war.

Etwas aus dem inhaltlichen Rahmen fällt dagegen der Beitrag von Megan C. Blocksom: Hier geht es um die Selbstinszenierung des Amsterdamer Leprösenhauses durch das Festhalten der jährlichen Leprösenprozession im Tafelbild und dessen Verbreitung im Kupferstich als Teil des kulturellen Gedächtnisses der Stadt. Der Selbstrepräsentation der Brabandter Militärgilden in Gruppenporträts in ihren Versammlungsräumen, die uns allen durch Rembrandts Nachtwache bekannt ist, widmet sich Beatrijs Wolters van der Wey. Sie weist zu Recht darauf hin, dass diese Räumlichkeiten nicht jedermann zugänglich waren und ihre Ikonografie in Bezug auf die dort ausgestellten Objekte noch weiterer intensiver archivalischer Forschung bedarf. Anschließend wird der Fokus von Suraiya Faroqhi auf das Osmanische Reich hin ausgeweitet, wo Paraden von Handwerkern, die ihre Erzeugnisse oder Fähigkeiten vorführten, Teil der höfischen Kultur waren und in Festbüchern oder Werken der Miniaturmalerei aufwändig festgehalten wurden. Daraus geht hervor, dass diese zu Rivalitäten zwischen Handwerkern und Händlern führten und für die Sultane eine Möglichkeit boten, die Zünfte in ihre Politik einzubinden.

Im folgenden Kapitel geht es um Objektkultur im sakralen Kontext: Stefan Bürger macht in seinem Beitrag einleitend auf ein wichtiges Defizit bisheriger kunsthistorischer Forschung aufmerksam, nämlich das Verständnis sakraler Räume als künstlerisch geschaffene Orte sozialen Handelns, das sich heute fast nur mehr anhand einzelner wandfester Ausstattungsteile manifestiert und aufzeigen lässt. Hierfür nimmt er eine Gruppe von Kirchen in Mitteldeutschland in den Blick, von denen er besonders zur bisher leider fast unbearbeiteten künstlerisch hochkarätigen Ausstattung der Nikolaikirche in Geithain zu bemerkenswerten Ergebnissen kommt: Diese war eine landesherrliche Eigenkirche und ihre Altäre (insgesamt sieben) wurden von unterschiedlichen religiösen Bruderschaften für Messen genutzt und die Kirche somit Ort eines intensiven bürgerschaftlichen Engagements. Wie der Autor abschließend deutlich macht, sind derartige Zeugnisse materieller Kultur im Zuge der Reformation fast vollständig beseitigt worden und heute daher weitgehend entschwunden.

Mit dem Aufsatz von Ingrid Falque wird der Fokus etwas unvermittelt auf die niederländische Tafelmalerei gerichtet. Eine Bezugnahme auf den vorhergehenden Beitrag von van der Wey hätte hier die auffälligen ikonografischen Parallelen zwischen profanen und sakralen Gruppen- und Einzeldarstellungen der Zünfte und Bruderschaften zeigen können. Anschließend widmete sich Heny Luttikhuizen der Beziehung zwischen dem Maler Geertgen Tot Sins Jans und der Haarlemer Johanniter-Bruderschaft, für die er ein Triptychon schuf. Einen Höhepunkt innerhalb dieses an Einsichten reichen Buches bietet Philipp Zitzlsperger, der anhand von Befunden aus der Kostümkunde nachweisen kann, dass sich Anton Pilgram durch den Pelzbesatz seines steinernen Selbstbildnisses als Ratsherr darstellt. Astrid Zenkert gelingt es hingegen nachzuweisen, dass die unter dem Versammlungsaal der venezianischen Rochusbruderschaft einst wie in einer Kirche kryptenartig aufbewahrten Kultgegenstände für diese eine selbstvergewissernde Wirkung hatten.

Mathijs Jonker verknüpft im Anschluss an den einführenden Beitrag von Bürger die figurale und gemalte Innenausstattung der Capella di San Luca in Rom mit dem Selbstverständnis der Mitglieder der Academia del Disegno und späteren Zunftmitglieder. Aus zeitgenössischen Beschreibungen und Quellen geht hervor, dass die Kapelle ebenso das Zentrum der Akademie wie den Kapitelsaal der hier ebenfalls ansässigen Servitenkongregation darstellte. Demgemäß kam der Trinitätsdarstellung in der Ausschmückung der Kapelle auch eine Doppelfunktion zu. Neben der religiösen Bedeutung bildete sie die Metaebene für die Darstellung des disegno beziehungsweise Entwurfs als Grundlage der Hauptgattungen der Kunst. Leider erst an dieser Stelle anstatt im Anschluss an Zitzlspergers Aufsatz folgt Gábor Enrődis Beitrag über Anton Pilgrams Bildnisbüsten im Wiener Stephansdom als Ausdruck der Autonomiebestrebungen der deutschen Steinmetzenbruderschaft gegenüber ihren italienischen Kollegen, weshalb sie Pilgram als legendären Vorgänger zu ihrer Selbstvergewisserung und -bestätigung in Anspruch nahmen.

Peter Paul Rubens’ Stuhl hingegen diente Nils Büttner zufolge als sinnfälliger Ausdruck der engen Verbindungen zwischen ihm und der St. Lukas-Gilde in seiner Heimatstadt Antwerpen. Einen bisher wenig erforschten Bestandteile der zünftischen Kultur, namentlich kostbare Wachskerzen und deren Zurschaustellung mittels künstlerisch gestalteter Prozessionsstangen beziehungsweise Aufbewahrung in wertvollen Schränken als Teil eines aufwändigen und differenzierten sakralen Beleuchtungswesens zur Stärkung der Gruppenidentität sowie der Außendarstellung, rückt Vera Henkelmann in den Fokus ihrer Betrachtungen. Ebenfalls wenig bekannte Objekte der Sachkultur stellen zünftische Scheiben und Wappentafeln dar, deren vielfältige Funktionen Jens Kremb aufzeigt: bildliches Verzeichnis der lebenden und toten Mitglieder und hiermit Ausdruck von Kontinuität, durch Verzeichnung vom Ämtern Ausdruck der sozialen Differenzierung und Hierarchie, durch Streichung von der Tafel infolge von Vergehen auch sichtbares Sanktionsmittel. Unmittelbar zur Praxis des Malers führen Audrey Ginoux Ausführungen zum Malstock, für dessen prominente Rolle als Bildgegenstand und symbolischem Vertreter des Künstlers sie eine Vielzahl interessanter bildlicher Belege aus Oberitalien anführen kann. Martin Roland setzt den Endpunkt, indem er die bildliche Ausschmückung von mittelalterlichen Bruderschafts- und Zunft-Urkunden untersucht und zu dem Ergebnis kommt, dass diesen vorrangig repräsentative Funktion zukommt.

Der inhaltlich vielfältige und reiche Band richtet sein Erkenntnisinteresse auf das bisher weniger im Rampenlicht stehende Untersuchungsfeld künstlerisch gestalteter Objekte aus dem handwerklichen und gewerblichen Bereich und untersucht diese hinsichtlich ihrer Funktionen und Aussage im sozialen Umfeld ihrer Zeit. Es bleibt zu wünschen, dass die hier vorgestellten Forschungen Anregungen für zahlreiche weitere Untersuchungen dieser Art bilden.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Andreas Tacke / Wolfgang Augustyn (Hg.) / Birgit Münch: Material Culture. Präsenz und Sichtbarkeit von Künstlern, Zünften und Bruderschaften in der Vormoderne.
Michael Imhof Verlag, Petersberg 2018.
445 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783731903925

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