Das einfache Leben
Ralf Theniors Reisen in Osteuropa
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIch erinnere mich vage an eine stern-Reportage, die ich als Kind las, in der (Vor-) Weihnachtszeit. Das Elend der „Zigeuner“, wie man damals sagte, wurde mir da in trüben Bildern und Texten zu Bewusstsein gebracht. Fünfzig Jahre später lese ich erneut davon, bei Ralf Thenior, der einen Einheimischen, einen jungen Rumänen, sprechen lässt:
Ich muss an das Zigeunerviertel denken, das wir in Varna sahen. Auch dort im Zigeuner-Ghetto gab es eine Hierarchie, Reiche, Arme und ganz Arme. Die ganz Armen pissten und schissen vor ihre Behausungen, weil es keine Kanalisation gab. Es stank. Kleine Kinder spielten in dem Dreck.
Diesem Eindruck kontrastiert der Autor eine Ferienanlage in Sfanti Gheorgiu bei Mahmudia, wo man einen „lauwarmen orientalischen Kartoffelsalat“ bekommt, der durch „seine Einfachheit entzückte“:
Gekochte Kartoffeln, in Scheiben, eine dünne kleine Gurke in Würfel geschnitten, große schwarze Oliven und Zwiebelringe, darüber eine einfache Essig-Öl-Vinaigrette.
Der Autor fühlt sich ins 19. Jahrhundert zurückverzaubert und imaginiert sich als Alter ego E.T.A. Hoffmanns:
Das Abendessen bei langsam fallender Dämmerung […] milderte die Enttäuschung über den Verlust des Erwarteten. Das langsam verglühende Sonnenrot hinter den Dächern zog das Herz zusammen und erzeugte ein Weh, welches unvermittelt in den Lehnstuhl an des Vetters Eckfenster versetzte.
Ein Duft von Kebaptsche (Hackfleischröllchen), Kjufte (Frikadellen) und Nadenitschki (Knackwürste) zieht in die Nase. Das einfache Leben, es ist gut:
Für eine Weile in Echtzeit zwischen Menschen einer anderen Kultur zu atmen, ist das Erlebnis. In diesen Stunden berühren die Lebensläufe vieler Personen das eigene Leben, man lernt eine andere Zeit kennen, ahnt Schicksale, die vorher undenkbar gewesen wären. Für einen taumelnden Augenblick vermischt sich das eigene Leben mit vielen anderen und man ist sich glücklich fremd.
Diese Fremdheit prädestiniert den Beobachter zu kleinen, ethnologischen Studien. „Dichte Beschreibung“ nannte Clifford Geertz das Verfahren, sich einer fremden Kultur anzunähern. Ralf Thenior tut genau dies, er kontrastiert seine eigene Erfahrungswelt, von der Kindheit an, mit der exotischen Atmosphäre dieses europäischen Außenraums:
Die Birnen fallen mir wieder ein, die der Navigator in Peripravo am Donauanleger gegenüber der Ukraine den Mädchen vom Baum schüttelte und die schmeckten wie die gestohlenen Birnen meiner Kindertage.
Ralf Thenior reist mit einfachen Mitteln: Im „Sindbad-Bus“ von West nach Ost, nach Kołobrzeg, schniefende und rotzende Mitreisende um sich herum. Eine Tortur. Der aus Bad Kudowa (Kudowa-Zdrój) gebürtige Wahl-Dortmunder bereist die Herkunftsräume seiner Altvorderen, Ober- und Niederschlesien: „Meine Eltern waren Flüchtlinge.“ Natürlich sprach der Vater auch polnisch, und der Sohn bedauert jetzt, nicht viel davon aufgenommen zu haben: „Hamburg war unser Wille zu sein. […] Hier hatte ich sprechen gelernt, hier war mein Lebensmittelpunkt, von hier aus ging es in die Welt.“
Osteuropa ist nicht die Welt, aber doch welthaltig genug, sodass sich farbig davon erzählen lässt.
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