Wir leben im Westen

Klaus Theweleits „Pocahontas“-Projekt schließt mit „Warum Cortés wirklich siegte“, einer Anthropologie des Kolonialismus

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist vollbracht. Über 20 Jahre hat Klaus Theweleit an seinem Pocahontas-Komplex gearbeitet, seiner Kulturgeschichte des westlichen Kolonialismus. Der Name leitet sich von der gleichnamigen Prinzessin aus dem Stamm der Algonquin im heutigen Virginia her. Angeblich hatte sie 1607 dem englischen Siedler John Smith das Leben gerettet und wurde dafür später zu einer mythischen „Ur-Mutter“ für die Staatsgründung der USA verklärt. Die reale Pocahontas, deren „Rettungsakt“ keineswegs belegt ist und die mit einem anderen Engländer verheiratet wurde, um den Erbanspruch der britischen Krone auf das Land zu sichern, war demnach das erste Opfer des Mythos. Sie wählte Theweleit zur Zentralfigur seines Vorhabens. Von Anfang an hatte der Freiburger Autor vier Bände zu festgelegten Themenkomplexen veranschlagt. Dass es über 2000 Seiten wurden, war nach seinen anderen Großprojekten, den Männerphantasien (1977) und dem Buch der Könige (19881994) zu erwarten; letzteres ist bis heute ein Torso geblieben. Dass es so lange dauern würde, nicht unbedingt. Aber neben vielen anderen Projekten, Gastdozenturen und einer Professur in Karlsruhe kam noch dazu, dass Theweleits langjähriger Hausverlag Stroemfeld in die Insolvenz ging, was die Fertigstellung des ganzen Projekts gefährdete. Glücklicherweise sprang der Matthes & Seitz Verlag in die Bresche, der außerdem die anderen, teils vergriffenen Pocahontas-Bände wieder auflegte.

Wer sich in diesen Kosmos hineinbegibt, muss die Bücher in keiner vorgegebenen Reihenfolge lesen. Es sind eher überlappende Themen und Motive als eine feste Struktur, die das Ganze zusammenhalten. Der erste Band, Pocahontas in Wonderland (1999), arbeitete den historischen Wissensstand zum Pocahontas-Mythos auf und thematisierte den Umgang mit den Native Americans in den heutigen USA. Ein weiterer Schwerpunkt war Shakespeares Sturm, der schon seit den 1980er Jahren als Drama zur Diskussion um die kurz zuvor errichtete Kolonie in Virginia und den Umgang mit den dortigen Bewohnern begriffen wird.

Band Drei, Das Buch der Königstöchter (2013), zog verblüffende Parallelen zwischen griechischen und römischen Gründungsmythen und der kolonialen Praxis der Europäer in der „Neuen Welt“ – die Aneignung des Territoriums liefe demnach jeweils über den Körper der „Königstöchter“, die sich mit den Eroberern verbünden. Pocahontas gehörte demnach in eine Reihe mit der Medea des griechischen Mythos und der Aztekin Malinche, die als Dolmetscherin für Hernán Cortés wesentlich an der Eroberung des heutigen Mexiko durch die Spanier mitwirkte.

You Give Me Fever (1999), der vierte und deutlich schmalere Band, war da schon fast ein Postskript, eine ausführliche Exegese von Arno Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas (1953). An der Oberfläche erzählt Schmidt die Geschichte einer sommerlichen Affäre am Dümmer, einem See zwischen Osnabrück und Bremen, in dessen Verlauf der Ich-Erzähler Joachim Bomann die von ihm geliebte Selma Wientge zur „roten“ Pocahontas stilisiert. Theweleit liest Schmidts Erzählung als Feier der Sexualität im muffigen Westdeutschland der Adenauer-Ära. Das leuchtet umso mehr ein, als Schmidt für die Seelandschaft tatsächlich eine Klage wegen Pornographie und Gotteslästerung an den Hals bekam. Erst seit kurzem weiß man, dass hinter der Anzeige zweier „empörter“ Anwälte das Erzbistum Köln steckte.

Wie passt nun der neue Band, die Nummer Zwei des Plans, in dieses heterogene Gebilde? Überhaupt nicht – und sehr gut. Die Frage, die sich Theweleit vor zwanzig Jahren gestellt hat – wie gelang den Spaniern der Sieg über die Azteken bzw. den Europäern die Überwältigung anderer, zahlenmäßig oft weit überlegener Kulturen? – wird eigentlich gleich im Vorwort beantwortet: mit einem Verweis auf das bahnbrechende Werk Guns, Germs and Steel (1997) des US-Kulturhistorikers Jared Diamond. Dieser sah den Schlüssel in der Domestikation von Haustieren, welche den eurasischen Kulturen besser gelungen war als anderen. Sie ermöglichte nicht nur, gemeinsam mit dem Pflanzenanbau, die Sesshaftwerdung und eine extensive Landwirtschaft, sondern auch die allmähliche Abhärtung gegen allerlei Krankheiten, die vom ursprünglichen Wirtstier auf den Menschen übersprangen. Diesen Krankheiten, vor allem Viren, war die indigene Bevölkerung des amerikanischen Doppelkontinents schutzlos ausgeliefert, so dass etwa 90% der Bewohner*innen im heutigen Mittelamerika binnen kurzer Zeit starben. Theweleit findet diese Erklärung zwar schlagend, aber nicht hinreichend.

Bei der Domestikation beginnt aber auch er seine mehr als 600-seitige Tour de Force, geht dann aber weit darüber hinaus und trägt Stück für Stück Faktoren zusammen, die nach seinem Befund ebenfalls zur europäischen Dominanz beigetragen haben – dazu zählen die Etablierung bestimmter Religionsformen ebenso wie die Kunst der Metallschmelze, die Geometrisierung des Raumes, die Kunst der Kartographie und der Linearperspektive, der Schiffbau ebenso wie die Erfindung des Vokalalphabets zur schriftlichen Speicherung von Sprache. Auch die Entwicklung der Psychoanalyse und der Roman werden nicht vergessen. Segmentierung und Sequenzierung heißen Theweleits Zauberworte. Diese beiden Prinzipien sind die gemeinsamen Nenner der doch sehr unterschiedlichen Phänomene.

Dabei bezieht sich Theweleit auf den ganzen Reichtum der kulturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte, ohne selbst ausgewiesener Experte eines Teilbereichs zu sein. Die Qualität und Herkunft seiner Quellen ist sehr unterschiedlich: mal bezieht er sich auf einschlägige Monographien, mal „nur“ auf einen Artikel in der taz oder der Süddeutschen Zeitung. Letzteres kann man aus wissenschaftlicher Perspektive skeptisch sehen. In der Summe ist Warum Cortés wirklich siegte trotzdem ein faszinierendes Buch, eine anthropologische Anatomie des „westlichen“ Menschen, vor allem des Mannes. Dabei schreibt Theweleit wie immer rhythmisch, assoziativ, und in seiner Synthese unterschiedlichster Wissens- und Kunstbereiche liegt eine große Stärke. Allerdings argumentiert er hier insgesamt stringenter, disziplinierter als in anderen Teilen seines Werks. Der Lesbarkeit kommt das unbedingt zugute.     

Trotzdem hat das Buch seine Schwachpunkte. Wer mit Theweleits Schreibweise vertraut ist, weiß, dass er regelmäßig die körperlichen Auswirkungen, die buchstäbliche Verinnerlichung kultureller Phänomene betont. Hier argumentiert er mit „Verschaltungen“ im menschlichen Hirn, die nicht nur kulturell determiniert, sondern auch vererbbar sein sollen. Es komme zu regelrechten „Gehirnsprüngen“. Implizit lässt sich das aber als physiologisch fundierte, „reale“ Überlegenheit der Europäer über die Entworfenen verstehen – ein Punkt, den bereits die Neue Zürcher Zeitung in ihrer Besprechung des Buches monierte, auf dessen Konsequenzen Theweleit als überzeugter Linker aber wohl kaum hinauswollte. Tatsächlich thematisiert er auch die Kehrseite der „Ich-Spaltungen“ und permanenten Flexibilisierungen, die dem Individuum in der westlichen Moderne permanent abverlangt werden – am extremsten im Fall der Shoah, in der selbst Menschen, die von ihr wussten und den Juden helfen wollten, ihr Wissen abspalteten und gleichsam isolierten, um nicht daran zugrunde zu gehen.

Das weist den Weg zu einem weiteren Kritikpunkt: Über dem Detailreichtum von Theweleits Erzählung und seinem stupenden Wissen gerät der Schreibanlass – der Kolonialismus – passagenweise aus dem Blickfeld. Hier werden kaum Primärquellen analysiert, die Perspektive der Unterworfenen kommt praktisch nicht vor, die eigentliche Eroberung Mexikos nur episodisch. Für Letzteres muss man schon das Buch der Königstöchter lesen. Insofern werden hier sicher keine Postcolonial Studies betrieben. Waren die ersten Pocahontas-Bände noch Pionierarbeiten für den deutschen Sprachraum, sind die hiesigen Kultur- und Literaturwissenschaften heute oft weiter in ihren kritischen Ansätzen.

Eine andere Frage ist, inwieweit das entworfene Modell auch auf andere kolonisierte Weltteile anwendbar ist. Lässt sich mit Theweleits Ansätzen auch die Unterwerfung Afrikas oder von Hochkulturen wie Indien und China erklären, die sicher nicht über die Linearperspektive verfügten, aber trotzdem über Jahrhunderte, sogar Jahrtausende große Macht ausübten? Wurden dort keine Haustiere domestiziert? Teilten sie nicht wesentliche Elemente der eurasischen Kulturen, die Theweleit ins Zentrum seines Buches stellt? Haben sie nicht ausreichende oder fehlerhafte Praktiken der Sequenzierung und Segmentierung betrieben?

Andererseits gewinnt Warum Cortés wirklich siegte gerade durch seine inspirierenden Querverweise bis hin zu Hannah Arendts Totalitarismustheorie, der aktuellen Asylpolitik der EU und sogar zum Umgang mit Corona, wie er sich im Frühjahr 2020 abzeichnete; auch durch diese Assoziationen verankert Theweleit sein Buch im Hier und Jetzt. So gelungen wie nie ist die für fast alle seine größeren Arbeiten charakteristische assoziative Integration von Fotos, Filmstills und Kunstwerken. Sie illustrieren den Text nicht nur, manchmal kommentierten sie ihn auch oder eröffnen Assoziationen in andere thematischen Richtungen. Manches fungiert geradezu als Leitmotiv, wie die immer wiederkehrenden Bilder von Containerschiffen. Dass Text und Bild diesmal besonders gut zusammenwirken, liegt wohl nicht nur daran, dass die visuellen Elemente erstmals farbig sind, sondern vielleicht auch an der Zusammenarbeit mit Sohn Max Theweleit, der die grafische Gestaltung übernommen hat. Dafür müssen wir diesmal auf die wunderschönen Montagen von Monika Theweleit-Kubale verzichten, die auf den Einbänden der Stroemfeld-Erstausgaben zu sehen waren.    

Theweleit wäre nicht Theweleit, wenn er seinen manchmal düsteren Diagnosen nicht auch Ansätze zur Hoffnung entgegenstellte. Auch diesmal kommen sie aus der Musik, was nicht überrascht bei einem Autor, der selbst Musiker, enthusiastischer Hörer und Autor einer Jimi-Hendrix-Biographie ist. Diesmal dienen ihm das Art Ensemble of Chicago und das afrofuturistische Sun Ra Arkestra als wichtigste Beispiele. Und auch der Verschmelzung von Natur und (digitaler) Technologie bis hin zur körperlichen Veränderung des Menschen kann Theweleit positive Seiten abgewinnen, ohne die negativen zu verschweigen. Alles in allem ist Warum Cortés wirklich siegte sehr zu empfehlen. Nicht als das letzte Wort zu seinen Themen, sondern als Groß-Essay, der neue Denkanstöße liefert – ein „Inzitament“, wie Novalis geschrieben hätte. Und als Einladung, die anderen Bände des Pocahontas-Zyklus wiederzulesen.

Titelbild

Klaus Theweleit: Warum Cortés wirklich siegte. Technologiegeschichte der eurasisch-amerikanischen Kolonialismen. Pocahontas 3.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020.
616 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783957578655

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