Dieses Loblied klingt schief

Marlis Thiels Hommage an eine große amerikanische Dichterin verspricht mehr als sie halten kann

Von Veronika DyksRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Dyks

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2018 brachte die Bremer Schriftstellerin Marlis Thiel ihre Neuübersetzung von Charles Baudelaires Les Fleurs du mal auf den deutschen Buchmarkt. 2020 folgte nun eine weitere Übersetzung gepaart mit eigenen Texten: Von Orpheus zu Edna Millay. Sonette und Übertragungen von Marlis Thiel. Wie der Titel schon verrät, präsentiert Thiel darin eigene Sonette gefolgt von den Collected Sonnets Edna Millays, denen sie ihre Übertragungen ins Deutsche gegenüberstellt.

Die 1892 in Maine geborene Edna St. Vincent Millay war eine international erfolgreiche Dichterin, die nach ihrem Tod 1950 jedoch zunehmend in Vergessenheit geriet. 1923 erhielt sie noch den Pulitzer-Preis für The Ballad of the Harp Weaver, wenige Jahre später kannte kaum noch jemand ihren Namen. Erst anlässlich ihres 100. Geburtstags 1992 feierte man – zumindest in der anglophonen Literaturszene – ihr Comeback, und sowohl die 2004 erschienene Neuauflage von Rudolf Borchardts ausgewählten Millay-Übertragungen als auch Günter Plessows 2008 veröffentlichte Textsammlung Love is not all trugen hierzulande dazu bei, Millays Namen wenigstens zeitweise wieder in Erinnerung zu rufen. Trotzdem kann nicht gerade von einer breiten öffentlichen Rezeption die Rede sein. Das dachte sich auch Marlis Thiel, als sie Edna Millay zum Mittelpunkt ihres neuen Buchs machte:

Millay […] ist in diesem Land bis heute eine Leerstelle geblieben, obwohl sie eine der ganz großen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts war, deswegen ein nicht zu übersehendes Fragezeichen. Was war passiert, dass sie derart vergessen werden konnte, eine engagierte Frauenrechtlerin, ein heller Stern am amerikanischen Literaturhimmel, ein Poesie-Wunder?

Was Thiels Von Orpheus zu Edna Millay von Borchardts und Plessows Übertragungen unterscheidet, ist die erstmalige groß angelegte Übertragung der kompletten Collected Sonnets von 1941. Dieser Band vereint Millays Sonette aus den Gedichtbänden Renascence, A Few Figs from Thistles, Second April, The Harp-Weaver and Other Poems, An Ungrafted Tree, The Buck in the Snow und Fatal Interview sowie den Sonettzyklus Epitaph for the Race of Man. Und diese Sonette öffnen sich den Leser:innen wie ein lang verlorener Schatz: feines Sprachgefühl kombiniert mit eindrücklichen Bildern und einem leichten, zuweilen fast beschwingten Rhythmus und Klang.

Anknüpfend an Petrarca und Shakespeare und doch in einer ganz eigenen Art geht es in Millays Sonetten oft um die Liebe: intensiv, verzweifelt, körperlich. Millay war bisexuell und lebte ihre Sexualität in leidenschaftlichen Affären neben ihrer offenen Ehe mit E. J. Boissevain aus. Ihr – vor allem zu der Zeit – unkonventionelles Liebesleben spiegelt sich in ihren Sonetten wider, die auf fesselnde Weise mit Tradition und Individualität spielen. Neben mythischen und intertextuellen Bezügen (in einem Sonett vergleicht sie sich mit Danae und Europa, die beide von Zeus geliebt wurden), verleiht sie der Liebe einen weltlichen, alltäglichen Bezug jenseits aller Transzendenz. Der Facettenreichtum in Millays Liebessonetten scheint keine Grenzen zu haben: Mal fast kindlich und mal mit unbändiger Weiblichkeit und Sexualität erkundet sie das Gefühl, das untrennbar mit der Gedichtform verbunden ist, de- und rekonstruiert Mythen, Klischees und den männlichen Blick:

Love is not blind. I see with single eye
Your ugliness and other women’s grace.
I know the imperfection of your face,
The eyes too wide apart, the brow too high
For beauty. Learned from earliest youth am I
In loveliness, and cannot so erase
Its letters from my mind, that I may trace
You faultless, I must love until I die.
More subtle is the sovereignty of love:
So am I caught that when I say, “Not fair,”
‘Tis but as if I said, “Not here – not there
Not risen – not writing letters.” Well I know
What is this beauty men are babbling of;
I wonder only why they prize it so.

Das Zusammenspiel von Form und Inhalt erzeugt eine Dichte, die man zuweilen nur stückweise ergründen kann. Millays Sonette ersticken nicht am Korsett ihrer Form, sondern machen es sich zu eigen. Fast könnte man meinen, die Form legt sich um die Texte wie ein Negligé: weiblich, sinnlich, fließend.

Doch nicht nur die Liebe wird in Millays Gedichten thematisiert. In den Sonetten aus An Ungrafted Tree verflechtet die Dichterin Einsamkeit und Trauer mit Motiven des Alltäglichen – wie etwa dem Verstecken hinter Jalousien, um Beileidsbekundungen, versüßt mit Marmelade, zu entgehen –, was die Emotion nur umso stärker wirken lässt. Der abschließende Epitaph for the Race of Man mit seinen Themen Mensch, Natur, Tod, Leid, Kunst und Mythos erinnert an Baudelaire, doch nicht zu sehr. Millay praktiziert eine Ästhetik der Einfachheit und Authentizität, die immer wieder von starken intertextuellen Bezügen zu einem Amalgam aus Alltäglichem und Kunstvollem ergänzt wird. Vermeintlich abgedroschene Motive und Metaphern werden mit einer Mischung aus Witz, Selbstironie und Melancholie völlig authentisch neu interpretiert.

Die Sonette Edna St. Vincent Millays sind das literarische Gedächtnis einer außergewöhnlichen Frau, die es schaffte, Gegenwart und Tradition mit viel Beobachtungsgabe und sprachlichem Talent lyrisch zu vereinen. Marlis Thiels dreiteiliger Zyklus – Der Dichter und sein Mythos, Baudelaire und die Maler und Edna Millay und die Liebe – sowie ihre Übertragungen der Gedichte Millays ins Deutsche sollen eine Hommage an die große Dichterin, „ein Loblied auf das Sonett“ sein. Dieses Loblied klingt jedoch an einigen Stellen schief.

Zu Thiels eigenen Sonetten, die ganz am Anfang des Gedichtbandes stehen und die „Geschichte der Krise des sogenannten lyrischen Ichs“ vom Mythos über Baudelaire bis zu Millay erzählen sollen, ist nicht viel zu sagen. In seiner Thematik ist der dreiteilige Zyklus ganz nett und unterhaltsam, aber spätestens im Vergleich zu Millays Sonetten wirken Thiels Gedichte eher platt und hölzern: Im Gegensatz zu Millay scheint sie sich das Korsett, dass die Sonettform ihr umschnallt, nicht zu eigen machen zu können. Vielleicht hätte hier ein Verzicht auf die strenge Form einen Mehrwert gebracht.

Thiels Übertragungen hingegen reichen von passabel bis ungenügend. In ihrer Gesamtheit schaffen sie es leider nicht, die sprachliche Dichte des Originals wiederzugeben – weder inhaltlich noch formal. Bei der Übersetzung von Lyrik müssen immer Einbußen gemacht werden, da es so gut wie unmöglich ist, Form und Inhalt originalgetreu zu übertragen. Bei Thiel leiden jedoch beide Ebenen: Die Reime klingen oft hölzern, die sprachliche Leichtigkeit Millays wird nicht annähernd erreicht. Weitaus schlimmer sind jedoch die teilweise eklatanten Übersetzungsfehler, die nicht mehr auf die inhaltliche Freiheit der formtreuen Übersetzung, sondern schlicht und einfach auf mangelnde Sprachkenntnisse und unzureichendes Textverständnis der Autorin zurückzuführen sind. So etwa wird die schon zuvor erwähnte Jalousie (engl. blind), die zwischen dem lyrischen Ich in ihrem Haus und der Außenwelt steht, bei Thiel fälschlicherweise mit „blind“ übersetzt:

She let them leave their jellies at the door
And go away, reluctant, down the walk.
She heard them talking as they passed before
The blind, but could not quite make out their talk […]

wird zu

Sie ließ sie mit den Gelees an der Tür stehen
Widerstrebend, aber schon unterwegs.
Sie hörte sie reden blind im Vorbeigehen
Wusste nicht, um was es ging, so war’s stets […]

Noch schlimmer ist jedoch die an Körperverletzung grenzende Verunstaltung der Metapher der Liebe als Gefängnis in einer anderen Übertragung. Nicht genug, dass der Kerker (engl. dungeon) bei Thiel zum „Knast“ wird – die letzten vier Verse sind ein komplett anderer Text:

[…]
But that I would not, boasted I the strength,
Up with a terrible arm and out of here
Where thrusts my morsel daily through the bars
This tall, oblivious gaoler eyed with stars.

wird zu

[…]
Nicht ich mach’s, ich prahle nicht mit Strenge,
Einem starken Arm oder einem Lachen
Darüber, wie ich mich täglich durch die Bars trink
Von Augen bewacht wie Sterne, wenn ich sink.

Die vielen weiteren Beispiele für teilweise höchst zweifelhafte Entscheidungen der Übersetzerin würden an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Aufgrund der Häufung dieser eindeutigen Abweichungen stellt sich die Frage, ob sie vielleicht eine Art Lautübersetzung oder eine übersetzerische Neuinterpretation verkörpern sollen. Dagegen spricht jedoch das recht ausführliche Vorwort, das diese Möglichkeit nicht einmal andeutet. Stattdessen findet man noch ein weiteres Indiz dafür, dass Thiels Übertragungen ein – wohlwollend ausgedrückt – alternativ-kreatives Text- und Sprachverständnis der Originale zugrunde liegt: Ich zumindest sehe keinen Anlass dazu, Epitaph for the Race of Man als „fast heitere[n] Nachruf auf die Menschheit nach der Katastrophe“ zu bezeichnen. Ja, der Zyklus inszeniert den Menschen als Wesen, das auch nach der Katastrophe wieder Kraft schöpfen kann. Allerdings ist es das Wesen des Menschen selbst, das ihn in den Untergang führt; diese Warnung schwebt wie ein erhobener Zeigefinger über dem Motiv des Neuanfangs und macht einen „heiteren“ Grundton unmöglich.

Eines hat Marlis Thiel mit Von Orpheus zu Edna Millay völlig richtig gemacht: Sie hat das Potential einer fast vergessenen Dichterin wiederentdeckt und ihre Texte einem deutschen Publikum zugänglich gemacht. Es bleibt zu hoffen, dass Edna St. Vincent Millay nicht schon wieder aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwindet und ihren Texten endlich die Aufmerksamkeit geschenkt wird, die sie verdient haben. Eine neue, anspruchsvollere Übersetzung wäre wünschenswert. Wer nicht allzu perfektionistisch ist, kann sich in der Zwischenzeit jedoch auch mit diesem Band zufriedengeben.

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Marlis Thiel / Edna St. Vincent Millay: Von Orpheus zu Edna Millay. Sonette und Übertragungen von Marlis Thiel.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
358 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783826070563

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