Literarische Klassiker in der Schule
Ein literaturwissenschaftlich-didaktischer Sammelband erörtert Klassikervariationen und ihr Potenzial für den Unterricht
Von Julia Stetter
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKlassikern in der Schule hängt häufig der Ruf an, etwas öde, verstaubt und mühsam zu lesen zu sein. Gleichwohl gilt ihre Kenntnis als unabdingbarer Bestandteil höherer Bildung und nicht zuletzt als Zugangsmittel zu einer guten Abiturnote und begehrten Studienplätzen. Dennoch haben Schiller, Goethe & Co mehr zu bieten als einen überkommenen Bildungszierrat oder die Möglichkeit zur Einübung von Lesekompetenzen. Schule hat daher nach wie vor die Aufgabe, den subjektiven und persönlichen Wert literarischer Klassikerlektüre zu vermitteln. Wie dies zeitgemäß geschehen kann, untersucht der von Sigrid Thielking und Inger Lison herausgegebene Sammelband Klassikervariationen. Er ist Teil der Hannoverschen Beiträge zur Kulturvermittlung und Didaktik.
Gegliedert ist der Band relativ lose in die drei Teile Dimensionen und Perspektiven, Adaptionen und Transformationen sowie Literaturunterricht und Schulpraxis. Übergreifendes Thema ist die Rezeption von Klassikern im schulischen Literaturunterricht. Insbesondere werden auch intermediale Bearbeitungen sowie Transformationen von Klassikern behandelt. Der Begriff „Klassiker“ bezieht sich in den Beiträgen sowohl auf die Autoren der Weimarer Klassik, das heißt Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, aber auch auf kanonische Schriftsteller anderer Epochen, darunter E.T.A. Hoffmann, Theodor Fontane, Franz Kafka, Else Lasker-Schüler und Friedrich Dürrenmatt. Daneben wird Gegenwartsliteratur von Thomas Melle, Peter Wawerzinek, Ulrich Ritzel und Rick Riordan besprochen. Auch verhinderte Klassiker, die bei anderer politisch-gesellschaftlicher Ausgangslage hätten kanonisiert werden können sowie Kinderliteratur – zum Beispiel Jim Knopf – fehlen nicht.
Herausforderungen bei der Vermittlung von Klassikern, die aus der aktuellen schulischen Lernkultur resultieren, diskutiert Karlheinz Fingerhut. Neben einer literaturdidaktischen Historisierung des schulischen Umgangs mit Kafka zeigt er Entwicklungslinien der schulischen Literaturpraxis allgemein auf: Abgesehen von der Oberstufe geht es im Literaturunterricht nicht mehr wesentlich um Epochen. Stattdessen werden nicht zuletzt in der Folge von PISA gemischte literarische Texte mit Blick auf „möglichst direkten Lebensweltbezug“ und „eingebunden in Problemstellungen des Alltags“ betrachtet. Speziell mit Bezug auf Kafka benennt Fingerhut die Schwierigkeit, dass trotz Polysemie im Schulkontext mehr oder weniger einheitliche Deutungen gefunden werden müssen. Zu denken ist beispielsweise an zentral vorgegebene Erwartungshorizonte, denen die Schülerinnen und Schüler und mithin auch der Unterricht von Lehrerinnen und Lehrern möglichst gerecht werden müssen. Fingerhut führt die Konsultation von Interpretationshilfen einschlägiger Schulbuchverlage sowie die Bereitstellung kontextualisierender Zusatzinformationen als Lösungen an. Der Umgang mit dem Klassiker Kafka sei daher „in hohem Maße durch die schulischen Gebrauchsweisen des Lernens […] geprägt“.
Nichtsdestotrotz ergeben sich aus gegenwärtigen Lernparadigmen auch Chancen. Jan Standke betont die Hinwendung der Literaturdidaktik zur Empirie, was ebenfalls zu einem veränderten Stellenwert von Literatur im Deutschunterricht geführt habe. Aufgegeben werden müsse ein „Anspruch an literarische[] Bildung […], der sich heutzutage kaum noch flächendeckend einlösen lässt“. Dennoch sei zu beobachten, wie literarische Klassiker nach wie vor in Abschlussprüfungen im Mittelpunkt stehen. Zu überdenken ist daher, wie ein zeitgerechter Literaturunterricht Schülerinnen und Schülern Klassiker näherbringen kann. Standke verweist in diesem Zusammenhang auf das Potenzial multimedialer Bearbeitungen. Die Digitalisierung habe zu neuen Zugängen zu Klassikern geführt. Anstatt dass sie verschwinden würden, entstehen Transformationen verschiedenster Art. Als Beispiel führt Standke Jan Böhmermanns Satiremagazin Neo Magazin Royale an, in dem in der Folge Letzte Stunde vor den Ferien (2017) provokant-überspitzte Kurzfilme literarischer Klassiker gezeigt wurden. Standke erläutert, wie sie sich gemeinsam mit den Originaltexten gut im Unterricht einsetzen lassen.
Allerdings warnt Johannes Odendahl davor, Vergegenwärtigungen mit zu geringer Distanz zu wählen. Bei der Besprechung populärer Bearbeitungen von Klassikern müsse darauf geachtet werden, dass die Fremdheit und Eigenheit der literarischen Texte nicht vollständig verloren gehe. Unabhängig von aller Kompetenzorientierung sei wichtig, dass Lehrerinnen und Lehrern die literarischen Texte „am Herzen liegen“. Odendahl plädiert deshalb für eine Haltung der Wertschätzung gegenüber den Texten, sodass ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Distanz und Nähe gefunden werden kann.
Eine Möglichkeit des gelingenden intermedialen Vorgehens zeigt Ina Henke anhand Andrea Grosso Cipontes und Dacia Palmerinos Graphic Novel zu E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann auf. Sie schlägt vor, im Unterricht zunächst die Graphic Novel, das heißt den Comic zu lesen, um im Anschluss zu Hoffmanns Original überzugehen. Derart soll verhindert werden, dass der Comic nur als eine Art Leseerleichterung eingesetzt wird. Stattdessen solle der Unterricht von Grund auf intermedial angelegt sein, sodass der Comic und seine ästhetischen Mittel selbst Gegenstand des Lernens werden. Auf diese Weise könne eine reduktionistische Lesart sowohl des literarischen Texts als auch des Comics vermieden werden.
Einen intermedialen Ansatz wählt ferner auch Michael Hofmann, wenn er den Film Die geliebten Schwestern (2014) als möglichen Unterrichtszugang zu Schiller vorstellt. Der Film handelt von einer Dreierbeziehung zwischen Schiller, seiner späteren Frau Charlotte von Lengsfeld und deren Schwester Caroline von Beulwitz. Obwohl eine Vorliebe Schillers für die Schwester Caroline suggeriert wird, heiratet Schiller später Charlotte. Sie hält ihm als Hausfrau „als Autor den Rücken frei“, während die schließlich geschieden lebende Schwester in Krisen gerät. Der Film bietet Hofmann zufolge gute Möglichkeiten der Identifikation für junge Zuschauer, da es um Liebe, Freiheit und bürgerliche Zwänge geht. Zugleich eröffne er eine neue Perspektive auf bestimmte Textauszüge Schillers, die historisierend vor dem Hintergrund von Gender-Diskursen gelesen werden können. Es bestünden allerdings Diskrepanzen zum Beispiel zwischen dem Frauenbild in den Räubern und demjenigen in der Glocke. Mediale Transformationen mit Blick auf Goethe hat demgegenüber sehr umfangreich Ursula Klingenböck anhand der Ballade Der Erlkönig zusammengestellt. Auch die umgekehrte mediale Verschiebung, das heißt nicht von der Literatur zur Vertonung, sondern von ‚klassischen‘ Songs zu (Pop)literatur lässt sich im Deutschunterricht aufgreifen. Laut Carlo Brune führe sie Schülerinnen und Schülern vor, „wie sehr auch ihre Auffassung von sich selbst und der ‚Welt‘ durch das kulturelle Archiv […] geprägt ist“.
Politische Einflüsse auf Kanonisierungsprozesse thematisieren darüber hinaus Dieter Wrobel und Inger Lison. Während Wrobel Auswirkungen der NS-Bücherverbrennung und der Wende 1989/90 beschreibt, erörtert Lison Entscheidungen der Political Correctness hinsichtlich des ‚Neger‘-Kinds Jim Knopf. Die Bücherverbrennung sei nicht folgenlos geblieben, auch wenn bestimmte Autoren ihrer ungeachtet den Status als Klassiker erlangt haben – zum Beispiel Bertolt Brecht und Erich Maria Remarque. Andere Autoren hätten aber ohne NS-Unterdrückung ebenfalls Potenzial gehabt, etwa Alex Wedding und Friedrich Wolf. Zu Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer hat Lison verschiedene Entscheidungsträger befragt: Bärbel Dorweiler, zuständige Verlegerin, verteidigt die Wahl, ein ‚Neger‘-Zitat im Jim Knopf nicht gestrichen zu haben. Es sei Teil des Werks und verdeutliche Michael Endes „antirassistische Intention“, wie aus dem Textzusammenhang hervorgehe. Dagegen kam es in verschiedenen Theaterinszenierungen des Buchs zu einer Besetzung eines Jim Knopfs mit weißer Hautfarbe. Lison reflektiert in ihrem Beitrag, wie „auf diese Weise […] eine bedeutende politische und historische Dimension des Textes verloren“ geht. Die Verleihung des Status zum Klassiker beziehungsweise die Form, in der Klassiker weiterbestehen, sind demnach immer auch geprägt durch gesellschaftspolitische Konstellationen der jeweiligen Gegenwart.
Insgesamt ist der Sammelband primär für schulisch-literaturdidaktisch interessierte Leser anregend. Vielfältige Beispiele liefern Ideen, auf welche Texte und Medien man für eine aktuelle Vermittlung von literarischen Klassikern zurückgreifen kann. Je nach Bedarf lassen sich Einzelbestandteile aus Beiträgen entnehmen, um bestimmte Sequenzen des eigenen Unterrichts effektvoller gestalten zu können oder aber auch ein ganzes Unterrichtsbeispiel nachlesen. Letzteres findet man im Beitrag von Wolfgang Wangerin und Verena Fleischer, die die Vermittlung von Lyrik in einem detailreichen Unterrichtsentwurf schildern. Jedoch liefert der Band darüber hinaus keine weiteren ausführlich erprobten Beispiele, sondern eher nur Empfehlungen. Mit seinem vielfältigen Themenspektrum ist er in erster Linie sehr gut geeignet, um einen Einblick in aktuelle literaturdidaktische Diskurse sowie Schwierigkeiten und Chancen gegenwärtiger Schulpraxis zu erhalten.
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