Eine englische Entdeckung

Edward Thomas und das Geheimnis der Leichtigkeit

Von Sylvia HeudeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Heudecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eltern von Vorschulkindern kennen sie und vielleicht hat man in der eigenen Kindheit schon gern darin geblättert, jene Wimmelbücher, die sich unendlich lang betrachten lassen. Geschichten über Geschichten kommen darin zum Vorschein, Kinder, Erwachsene, Alte, Landschaften, Städte, Dörfer, Häuser, Wege, Fahrzeuge, Vögel, Hunde, Katzen, Bäume, Sträucher, Dinge. Die Arrangements verschränken sich, überall geschieht etwas. Als literarischer Leser hat man selten den Eindruck, ein Buch könne dieses Erleben von Gleichzeitigkeit allen Geschehens bewirken. Wer aber Edward Thomas‘ Die Unbekümmerten in die Hände bekommt, hat genau ein solches seltenes Exemplar gefunden.

Edward Thomas wurde am 3. März 1878 in London als Kind einer walisischen Familie geboren. Er fiel als britischer Soldat im Ersten Weltkrieg an der französischen Front nach nur kurzem Kampfeinsatz am 9. April 1917 bei Arras. Zeit seines Lebens quälten ihn depressive Verstimmungen. Er suchte ihrer Herr zu werden durch gewaltige Märsche, in denen er 30 Kilometer und mehr am Tag durch die englische Hügellandschaft zurücklegte. Auch die Arbeit als Literaturkritiker und Autor von Natur- und Reisebüchern sollte die Schwermut vertreiben, bewirkte aber nicht selten das genaue Gegenteil. Denn der junge Autor fühlte sich bedrückt von Auftragsarbeiten, die ihn zwangen, pünktlich abzuliefern. Doch als Vater einer jungen Familie musste er für den Lebensunterhalt seiner Frau und zweier Kinder sorgen. Edward Thomas lebte zwar nach seinem Geschichtsstudium in Oxford vom journalistischen Schreiben, seine eigentliche Leidenschaft galt jedoch der Poesie. Dafür, dass er hier Ausgezeichnetes leistete, verbürgt sich Dylan Thomas, wenn er sagt „Unter allen Dichtern dieses Jahrhunderts spricht keiner mit größerer Vertraulichkeit als Edward Thomas.“

Die Unbekümmerten, im englischen Original The Happy-Go-Lucky Morgans ist der einzige Roman von Edward Thomas. Er erschien erstmals 1913. Daneben behauptet sich ein kleines Oeuvre kurzer Erzählungen. In Celtic Stories, Norse Tales, Rest and Unrest, Light and Twilight sowie Four-and-Twenty Blackbirds sind sie zusammengefasst. Über achtzig, teils neunzig Jahre wurden diese Bücher nicht nachgedruckt. Da verdient es Anerkennung, dass der Steidl Verlag Die Unbekümmerten 2005 in einer deutschen Übersetzung erstmals herausbrachte und das Buch 2017 anlässlich des hundertsten Todestages von Thomas erneut auflegt. Es würde sich lohnen, wenn das deutsche Publikum die Gelegenheit wahrnähme, diesen englischsprachigen Autor zu entdecken.

Zu entdecken gibt es in Die Unbekümmerten das beglückende Gefühl, eins zu werden mit der Natur. Die englische und walisische Landschaft mit ihren Schönheiten, die Vegetation der britischen Inseln, die Küste und das Meer, die Tierwelt, sie sind zweifellos wichtige Protagonisten des Geschehens. Thomas interessiert sich für den „Erfindungsreichtum der Schöpfung“ in ihrer ganzen Vielfalt, dazu gehören auch die Menschen, besonders die überflüssigen, mit denen nichts anzufangen ist, jene, die ein „kurzes, verzaubertes Leben ohne Arbeit“ führen.

Das physische Zentrum des Romangeschehens ist Abercorran House. Ein riesiges, herrschaftliches, heruntergekommenes Haus am Rande Londons, in dem die achtköpfige, walisischstämmige Familie Morgan lebt. Dort herrscht eine liebenswürdige Anarchie, die besonders Kinder magisch anzieht – und Exzentriker. Wer allerdings gesellschaftlich angepasst ist, sich ins soziale Korsett der Zeit einfügt, dem bedeutet Abercorran House nichts. Routinen wie feste Essenszeiten, Sauberkeit oder Ordnung spielen keine Rolle. Wer kommt, kommt, wer bleibt, bleibt. Es gibt keinen Zwang zu irgendetwas. In Bildern entwirft Thomas diese Welt, etwa das Esszimmer, wo sich eine riesige Anrichte befindet, auf der immer Braten, Käse, Brot, Obst, Kuchen und Bierflaschen stehen. Tritt man aus dem Haus, so sind dort die Tauben, das Gewächshaus, die Fahrräder, eine Drehbank mit allen möglichen halbfertigen und übriggebliebenen Sachen.

Weiß man um Edward Thomas‘ Lebenslauf, um die Faszination, die die Natur auf ihn ausübte, um seinen Kampf mit der alltäglichen Mühsal des Erwerbslebens, so drängt sich auf, Die Unbekümmerten als Kulmination seiner komplexen Lebenserfahrungen zu lesen. Das Buch öffnet Türen der Phantasie, die ein bedrängtes Leben erträglich machen. Thomas kommt dabei auch immer wieder auf den Tod zurück. Doch das Ende eines menschlichen Lebens ist hier nicht mit Schrecken verknüpft, oft sind erst die Toten jene, die der Qual der Existenz entkommen und wahrhaft befreit sind.

Die Erzählstruktur des Romans ist bemerkenswert. Freilich nicht, weil es eine klassische Rahmenhandlung gibt, in der der Ich-Erzähler auf seine eigene Vergangenheit als Teil der Abercorran-Gemeinschaft zurückblickt. Die Binnenhandlung selbst entfaltet kein stringentes Geschehen, vermag den Leser aber in einen seltsamen narrativen Sog zu ziehen. Und das, obwohl die Versatzstücke des Romans äußerst heterogen sind. Der Erzähler vertraut dem Leser eigene Erinnerungen an, erzählt aber auch Erinnerungen anderer Figuren, er fügt Tagebucheinträge ein, rollt Biografien auf, gibt Anekdoten zum Besten, flicht Legenden und Märchen ein. Auch der Lyriker Edward Thomas gibt sich zu erkennen in zahlreichen versifizierten, oft liedhaften Einschüben. So entsteht eine wirklich verwirrende Vielfalt, deren wichtigste narrative Aufgabe es ist, die Aufmerksamkeit des Lesers zu bannen. Der Autor beauftragt sein Publikum nicht mit der kognitiven Durchdringung einer fiktionalen Welt. Es gibt kein Ende, das man erreichen könnte, keine solitäre Erkenntnis. Aber es gibt eine Dimension des individuellen Erlebens dieser Welt, das für Thomas höchsten Wert zu besitzen scheint: Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Phantasie durchdringen sich in jedem Moment unserer Existenz. Wer dies zulässt ist reich, frei und unbekümmert.

Die Übersetzung von The Happy-Go-Lucky Morgans besorgte Friedhelm Rathjen mit gutem Gespür für die poetische Leichtigkeit des Originals. Doch nicht immer fließt die Übertragung ins Deutsche so geschmeidig dahin, wie man sich es wünscht. Das trifft besonders auf die lyrischen Passagen zu, die leider meist zu holprig daherkommen.

Das Buch selbst ist herrlich gemacht: Auf dem orangefarbenen Leinenband hüpft ein Junge Seil. Die Augen geschlossen, den Kopf beglückt himmelwärts gerichtet, gibt er eine lustige Figur. Seine Füße stecken in absurd spitz zulaufenden Schuhen und er trägt einen weiten, dünnen Morgenmantel, der locker mit einem an den Enden fransigen Strick gebunden ist. Alles fliegt auf, Seil, Mantel, Haare, und er scheint in einem Zustand himmlischer Beschwingtheit. So wie der Junge keinen Boden mehr unter den Füßen spürt, so verlassen auch die Buchstaben des Titels Die Unbekümmerten ihren angestammten Platz und kommen selbst ins Hüpfen, sie drehen und wenden sich, steigen auf und ab. Die Bewegung der Buchstaben auf dem Einband setzt sich auf jeder Seite des Romans fort, doch nicht indem die Wörter durcheinanderflögen – die Seitenzahlen schlagen Purzelbäume. Vermutlich hätte Edward Thomas großen Gefallen an diesem Daumenkino gefunden. Victor Balko ist mit der Gestaltung des Buchs, unter anderem durch die Verwendung einer Illustration von William Heath Robinson (1872-1944), ein wirklicher Wurf gelungen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Edward Thomas: Die Unbekümmerten. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Friedhelm Rathjen.
Steidl Verlag, Göttingen 2017.
284 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783958292970

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