Alles ist mit allem verbunden
In ihrem Opus magnum plädiert Olga Tokarczuk auf historischer Folie für den Erkenntniswert des Fremden und die Wertschätzung von Vielfalt
Von Karsten Herrmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLange musste die vor wenigen Wochen nachträglich für 2018 gekürte Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk im deutschsprachigen Raum einen Verlag für ihr Opus magnum suchen. Schließlich kam sie beim erst im letzten Jahr gegründeten kleinen Schweizer Kampa-Verlag unter – ein Wagnis, das sich nach der höchsten literarischen Auszeichnung der hierzulande noch weithin unbekannten Autorin für den Verlag auszahlen dürfte.
Ein Wagnis ist das knapp 1200 Seiten umfassende Werk Die Jakobsbücher auch für den Leser, der schon auf dem Cover ein Vorgeschmack auf das zu Erwartende bekommt: „Eine große Reise über sieben Grenzen durch fünf Sprachen und drei große Religionen… Eine Reise, erzählt von den Toten und von der Autorin ergänzt, mit der Methode der Konjektur, aus mancherlei Büchern geschöpft und bereichert durch die Imagination.“
Tokarczuk erzählt in diesem genresprengenden Roman die Geschichte der historischen Figur Jakob Franck, der 1726 im polnischen Korolówka geboren wurde und 1791 in Offenbach am Main gestorben ist – eine schillernde Persönlichkeit zwischen Prophet, Mystiker, Scharlatan und Sektenführer. Bevor wir diesen Franck kennen lernen, breitet Togarczuk aber zunächst über viele Seiten das zeitgenössische Leben in dem kleinem polnischen Dorf Rohatyn aus – mit seinem bunten Markttreiben, der Armut und dem vom Misstrauen geprägten Nebeneinander von christlicher, orthodoxer und jüdischer Religion. Ganz zart glimmen bereits die Vorzeichen der Aufklärung am Horizont und so macht sich auch der wissbegierige Pfarrer Chmielowski daran, Grenzen zu überschreiten und sich der Welt der jüdischen Religion und Philosophie anzunähern. Und hier erfährt er vom jüdischen Medicus Asher Rubin: „Die wahre Kunst liegt in der Kunst, alles mit allem zu verbinden, dann tritt die wirkliche Gestalt der Dinge zutage.“
Mit dieser mystisch-philosophischen Erkenntnis ist auch schon das Grundprinzip von Tokarczuks Roman beschrieben: Mittels eines multiperspektivischen Schreibens beleuchtet sie die Geschichte aus subjektiven Blickwickeln einer großen Zahl ganz unterschiedlicher Menschen: Könige, Bischöfe, Pfarrer, Rabbi, Mediziner, Adelige, Händler, Wirtsleute oder Huren. Nur die zwischen Leben und Tod schwebende Jonta sieht die Welt von oben und nimmt eine auktoriale Erzählerstimme ein.
Wie in einem Patchwork wird in diesem Roman so der historische Hintergrund der polnisch-litauischen Adelsrepublik und seiner Nachbarländer sowie das Leben des Jacob Franck durch die vielfältigen Erzählstimmen rekonstruiert. Fast programmatisch verweist der Name Franck dabei auf das Fremdsein und „Fremd zu sein bedeutet frei zu sein“.
Und so durchstreift dieser Jacob Franck die Lande vom Osmanischen Reich über Griechenland und Bulgarien bis ins heutige Polen und erwirbt sich durch sein unerschrockenes Auftreten den Ruf eines Weisen. Er gründet eine Glaubensbewegung der Kabbalisten und Sabbatianisten und proklamiert die „Befremdliche Tat“, mit der man all die Dinge, die bisher verboten waren, nun tun soll. Später ruft er eine „Republik der Häretiker“ aus, in der alles allen gehört und die bereits einen Vorgeschmack auf die Kommunen der 1960er Jahre gibt. Trotz solcher Tabubrüche und Skandale sieht die katholische Kirche die Chanc,e diese Häretiker in ihren Schoß zu integrieren. In einer öffentlichen Disputation kommt es in der Lemberger Kathedrale zu einem Showdown zwischen den Juden und den „Antitalmudisten“ mit fürchterlichen Anschuldigungen.
Nach einer Reihe von Verfolgungen, Bannsprüchen und Internierungen zieht Franck mit seiner Gefolgschaft schließlich nach Brünn, wo er einen eigenen Hofstaat bildet und mit seiner Tochter königlich residiert. Doch stets bleibt er überall der Fremde, „Nur der Fremde versteht die Welt“, denn „wer fremd ist, gewinnt einen neuen Standpunkt, er wird, ob er will oder nicht, ein wahrer Weiser.“
Olga Tokarczuks taucht tief in die Zeit des 18. Jahrhunderts ein und breitet eine fast schon erschlagende Vielzahl von historischen und sozialgeschichtlichen Fakten vom Essen über Kleidung bis zu Sitten und Gebräuchen aus, in denen der Leser sich hin und wieder durchaus zu verlieren droht. Überaus detailreich und ausführlich beleuchtet sie insbesondere die jüdische Religion und ihre mystische (Zahlen-)Kabbala. . Als Psychologin zeichnet sie aber auch feine und vielschichtige Personenporträts und ihre dem Sound der Zeit angepasste Prosa ist überaus sinnlich und magisch-mythisch grundiert.
Aus der Geschichte des multiethnischen Polens und der religiösen Auseinandersetzungen kristallisiert Olga Tokarczuk letztlich eine klare Botschaft für die Gegenwart heraus: „Wenn der Mensch sich seines wertvollsten Gutes bedien soll – des Verstandes –, dann verlieren Hautfarbe, Herkunft, Religion, ja sogar das Geschlecht jede Bedeutung.“ So hält sie ein Plädoyer für die Wertschätzung der Vielfalt und gegen die nicht zuletzt in ihrem Heimatland grassierende Tendenz zu rechtspopulistischen Ausgrenzungen und Diskriminierungen.
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