Pilzlikörgeschwängerte Herrengespräche in mörderischer Landschaft
Olga Tokarczuks Roman „Empusion“ taucht den niederschlesischen Kurort Görbersdorf der herbstlichen Vorkriegszeit in eine dichte, anspielungsreiche Schaueratmosphäre
Von Thomas Merklinger
Wenn Frauen schrieben, verschwendeten sie viel zu viel Aufmerksamkeit auf die Ausgestaltung der Zimmereinrichtung, Kleiderdetails und niederer Personen, sie beschrieben „Tapetenmuster“, „ergehen sich in Gefühlsduseleien über Tiere“, Geschlechterfragen und hätten einen unguten Hang zum Übernatürlichen. Bei ihnen finde man „Geister und Traumgesichte“, aber leider keine schlüssige Geschichte, wodurch sich doch wohl erweise, dass Autorinnen „mangelndes schöpferisches Talent“ besäßen.
Was hier im Gespräch unter Männern an (hoffentlich historischen) Klischees geäußert wird, darf als selbstreferenzieller, ironischer Kommentar gelesen werden: Olga Tokarczuks Roman Empusion. Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte (Empuzjon. Horror przyrodoleczniczy) geht immerhin bereits im Untertitel auf die Schauerthematik ein. Auch besitzt die Erzählung durchaus Aufmerksamkeit für kleinere Details, was aber eher eine Stärke des Romans ist. Vor allem die „Dinge zwischen Mann und Frau“, die Geschlechterthematik, ist zentral, und so fügt sich die oben wiedergegebene Haltung in eine Vielzahl weiterer misogyner Vorurteile ein, die Tokarczuk den allabendlichen Männergesellschaft in die Münder legt, denn „[w]orüber die Herren zunächst auch sprachen – früher oder später lief es stets auf das Gleiche hinaus: die Frauen.“ Die so gleichermaßen von der Autorin und ihren Figuren paraphrasierten Geschlechterstereotypen haben ihren Ursprung in einer langen, elfzeiligen Liste kanonisierter Autoren von Aurelius Augustinus bis William Butler Yeats, die im epitextuellen Anhang als Quellen angeführt werden. Dazu gehören dann auch die oben erwähnten Ausführungen zu Literatinnen.
Das Geschlechterdenken der abendländischen Kulturtradition präsentiert sich als historisches Kolorit, dessen starre Binärstruktur im Verbund mit anderen Gesprächsthemen aus den Bereichen Kunst, Politik und Philosophie jenseits der alkoholgeschwängerten Kauserien der Männergesellschaft auf eine weit komplexere, rhizomare Wirklichkeit trifft und daran scheitert. Die Bewohner der Brehmerschen Heilanstalt für Lungenkranke im niederschlesischen Luftkurort Görbersdorf, dem heutigen Sokołowsko, verbringen hier vor den beiden Weltkriegen ihre Tage mit der Heilroutine aus frischer Luft, gesundem Essen und Hydrokuren, ihre Abende mit Gesprächen bei Schwärmerei, einem lokalen Likör, der mit heimischen Pilzen, den Spitzkegeligen Kahlköpfen, angesetzt wird.
Frauen treten dabei, außer im Gespräch, lediglich am Rande auf. Kaum wahrnehmbar bewegen sie sich abseits des Geschehens, wo sie sich um die Haushaltung und das Essen bekümmern. Man weiß kaum etwas von ihnen. Während die dominante Gestalt des Gästehaubesitzers, der aus der Schweiz stammende Wilhelm Opitz, alles zu regeln scheint, taucht seine Frau wie aus dem Nichts nur uneinheitlich als Partialobjekt auf. Morgens schiebt sich ein Schuh in die Türe und ehe man aufblickt, steht bereits das Frühstück im Zimmer. Selbst der tote, auf dem Abendbrottisch aufgebahrte Körper der Frau wird noch stückweise von den Schuhen über ihre Bekleidung nach oben gehend beschrieben. Erst durch ihre Abwesenheit rückt sie ins Bewusstsein der Gäste, weil die Qualität des Essens abnimmt. Ihr Suizid – sie hat sich in ihrer Kammer auf dem Dachboden erhängt – bleibt ebenso unverständlich und projektiv wie ihre Person. Die Frage nach ihrem Motiv läuft auf spekulative Indifferenz hinaus: „Vielleicht hatte sie Sehnsucht nach ihrer Familie. Sie kam aus Böhmen.“ Dass die lieb- und freudlose Atmosphäre, die ihr Mann im Haus verbreitet, etwas mit ihrem Tod zu tun haben könnte, kommt den Männern jedoch nicht in den Sinn. Auch dass Opitz nunmehr seine vierte Ehefrau zu Grabe trägt, weckt allein Mitleid mit seinem Schicksal.
Mit Empusion, ihrem ersten Roman nach dem nachträglich für das Jahr 2018 verliehenen Nobelpreis, hat Tokarczuk eine dichte, düstere Erzählung aus dem Herbst des Jahres 1913 verfasst. Die bereits auf dem Klappentext hervorgehobenen zeitlichen und thematischen Parallelen zum Zauberberg ihres Preisvorgängers Thomas Mann ergeben sich zunächst schon dadurch, dass die Behandlungsmethoden Tuberkulosekranker in der von Dr. Hermann Brehmer begründeten Heilanstalt in Görbersdorf als Vorbild für Manns Davoser Sanatorium dienen. Während aber bei Thomas Mann der auktoriale Blick auf einen gesellschaftlichen Mikrokosmos in den auch von einer gewissen Heiterkeit durchwehten Schweizer Bergen fällt, entfaltet sich die untergegangene Vorkriegswelt durch die Perspektive einer kollektiven, mythischen Erzählinstanz hart am Boden einer bedrohlichen Wirklichkeit: „Wir sehen sie, wie immer, von unten“.
Bereits zu Beginn tritt die Hauptfigur Mieczysław Wojnicz aus Lemberg, wie Hans Castorp ein Student der Ingenieurswissenschaften, in einer fast schon filmischen Eröffnung aus dem Rauch der angekommenen Eisenbahn. Von den Bodenplatten arbeitet sich der Erzählerinnenblick über die Schuhe und Mantelspitzen langsam nach oben bis zu dem tuberkulös bleichen Gesicht der „beunruhigenden“ Person, die wie „aus dem Jenseits in diese melancholischen Berge gekommen“ zu sein scheint. Und wirklich passt die zwischen den Sphären wandelnde Gestalt nicht klar in die Bergwelt des Dorfes und die Männergesellschaft des ‚Gästehauses für Herren‘. Obwohl der ankommende Besucher durchaus seltsam wirkt, dürfte dem erzählenden „Wir“ die tatsächliche Andersartigkeit Wojnicz’ zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht bewusst sein. Denn die mit dem Ort verwachsene Erzählinstanz ist zwar überall zugegen, in den Wäldern, Zimmern und Redegrüppchen, dennoch ist sie eingeschränkt. Sie bleibt einerseits sehr eng am Geschehen und den Gesprächen, so dass sie etwa die Unterhaltung über den Diebstahl der Mona Lisa im fernen Paris 1911 wiedergibt und dabei bemerkt, der Dieb habe „das zusammengerollte Bild wie ein Baguette“ aus dem Louvre geschmuggelt. Ihr Wissensstand geht dabei aber offenbar nicht über den der Gäste hinaus, denen wohl ebenfalls nicht bewusst ist, dass Leonardo da Vinci sein berühmtestes Porträt auf Pappelholz gemalt hat. Daneben wiederum tut sich eine andere, höhere, auktorial erzählende Erzählebene auf, die etwa von den „damals noch geheimnisumwitterten Koch’schen Bazillen“ sprechen kann und auch imstande ist, die Empfindungen und Erinnerungen der Hauptfigur wiederzugeben.
Der Romantext ist immer wieder von eingefügten historischen Ansichten Görbersdorfs durchbrochen, die den Text in ein doppeltes Licht tauchen. Durch die menschenleeren körnigen Fotografien entsteht zunächst ein authentischer Eindruck der vergangenen Welt, gleichzeitig schleicht sich eine unheimliche Stimmung ein, die durch die Erzählung weiter vertieft wird. Das zwischen bewaldeten Bergen hingestreckte enge Tal könne nur durch eine schmale Öffnung betreten werden (ja, auch Sigmund Freuds Name taucht im Anhang auf) und besitze durch seine einzigartige Lage eine besondere Heilwirkung. Auf einem unterirdischen See gelegen und nach außen hin abgeschlossen wird es aber auch mehrfach mit einer Leidener Flasche verglichen, so dass nach oben quellende mythische Sinndimensionen und geistige Spannungen eine zwischen Natur und Kultur changierende unheimliche Atmosphäre stiften, die sich in der titelgebenden ‚Empusion‘ niederschlägt. Der Neologismus greift zum einen die auch in Europa beheimatete Familie der Fangschrecken (Empusidae) auf – in Görbersdorf begegnet der Hauptfigur prompt ein solches Raubinsekt, allerdings in Gestalt einer Gottesanbeterin, die hier ihr nördlichstes Verbreitungsgebiet besitzen soll –, verweist aber insbesondere auf die ebenso bedrohlichen weiblichen Schreckgestalten der Empusen aus der griechischen Mythologie. Dass zudem ein parasitärer Pilz (Empusa muscae) mit dem Namen assoziierbar wird, eröffnet ein vielfältiges mythisches Myzelgeflecht, das die kulturelle Ordnung herausfordert.
Nicht nur wegen des beständigen Konsums des lokalen, hallozinogenen Alkohols verlieren sich die Kurgäste alsbald in der unheimlichen Talwelt Görbersdorfs mit ihren seltsamen Erscheinungen und Geschehnissen. Die Gegend selbst scheint ein ungutes Eigenleben zu entwickeln, „die Landschaft tötet“, sie „ist eine Mörderin“, behauptet der junge Thilo von Hahn kurz vor seinem Tod, als sich seine Fieberkurve schon dem Bergpanorama angeglichen hat. Der „Ort war ein Gefäß, in dem ein seltsames Gericht vor sich hin köchelte“, heißt es an anderer Stelle. Und so wird auch das Essen fremd: In einem Spezialitätenrestaurant des Ortes serviert man etwa weißlich-bandartige Fischparasiten, die nachts von der Seeoberfläche abgeschöpft werden. Im Wald wiederum leben Köhler, die zur Triebbefriedigung Tuntschis schaffen, also aus Naturmaterialien geformte Frauenkörper, und im November tauchen hier regelmäßig zerfetzte Männerkörper auf. Selbst die Realität scheint instabil zu werden, vom Dachboden des Gästehauses sind gurrende Geräusche ohne erkennbare Ursache zu vernehmen (oder sind das gar die Disputationen der Gäste, die irgendwie zurückhallen?) und es scheint, als würden sich hier nach Belieben neue Türen und Räume auftun. Die Konturen lösen sich auf und die Welt wirkt teilweise kulissenhaft wie „aus Sperrholz“. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die hiesige Welt nicht den irdischen Gesetzen folge, wie einer der Kurgäste bemerkt. Und doch gebe es keine anderen – darüber existiere lediglich Gott.
Der Roman Tokarczuks gestaltet in der Tat eine dämonische Welt, in der mythische weibliche Wesenheiten regieren und erzählen. Dem entgegen stehen die Männergespräche mit ihren Paraphrasen des Bildungsdiskurses, deren Perspektiven die urgründigere Wirklichkeit des Ortes zwar verfehlen, auf einer höheren Ebene aber doch kommentieren. Die misogynen Paraphrasen der Herren etwa werden von dem klassisch gebildeten Wiener Schriftsteller August August eingeordnet, wenn er bemerkt, dass das Zitat durchaus eine eigene Kunstform sei. Um es allerdings zu verstehen, muss man sich auf Augenhöhe bewegen, „nur ein Ebenbürtiger war imstande, es zu erfassen.“ Diese Einsicht aber fehlt den Herren notwendigerweise, die zudem darüber philosophieren, wie es sich wohl anfühlen mag, geistig über mehr Dimensionen zu verfügen. Und auch über das Wesen des Dämonischen wird gestritten. Sind die Empusen und Tuntschis nicht bloß eigene innerpsychische Dämonen oder gehören sie tatsächlich der äußeren Welt an? In letzterem Fall müssten sie in einer ‚mittleren Welt‘ zwischen Mensch und Gott existieren. Selbst wenn sie sich der menschlichen Rationalität verschließen, sind sie doch göttlich hervorgebracht und stehen wohl, in platonischer Tradition, für das Vielfältige, Chaotische und Inkommensurable. Wie schon die Männergruppe höchst unterschiedlich ist und lediglich durch kulturelle Vereinheitlichungen homogenisiert wird, besitzen auch die weiblichen Wesenheiten unterschiedliche Ursprünge. Die Empusen entstammen der griechischen Mythologie, die Tuntschis dem Alpenraum, und im Wald soll es einer (fiktiven) Lokalsage nach eine Gruppe verschollener Frauen geben. Das „weitverzweigte, urmütterliche Geflecht“ der Pilze im Boden leitet zudem Nachrichten über die Kurgäste weiter: „Die Menschen sollten sich daran gewöhnen, dass sie beobachtet werden.“ Wer oder was genau die Augen auf die männlichen Figuren richtet, bleibt allerdings verbogen.
So thematisiert der Roman auch die Art des Schauens und die jeweilige Perspektive. Wojnicz wird eine andere Sichtweise durch den Kunststudenten Thilo vermittelt, der durch seine Homosexualität selbst am Rande der Herrenrunde steht und krankheitsbedingt zudem meist auf seinem Zimmer bleibt. Was wir als Landschaft wahrnehmen, erklärt er, werde durch ein bereits vorgefertigtes Inventar von Anschauungen bestimmt. Wir sehen einen Weg, weil wir wissen, was das ist und gelernt haben, ihn zu erfassen. Diese eingeübte Art des Sehens aber versperre einen losgelösten und transparenten Blick auf die Wirklichkeit. Am Beispiel des Gemäldes Landschaft mit Opferung Isaaks veranschaulicht Thilo seine Theorie. Das Gemälde des flämischen Renaissancekünstlers Herri met de Bles hat er aus seinem Elternhaus gestohlen und mit nach Görbersdorf gebracht. Schaut man an den abgebildeten Figuren vorbei, ergeben sich im Hintergrund ganz eigene, neue Zusammenhänge: „Jeder sieht anderes.“ Wojnicz erblickt dann auch direkt zwei glühende Augen – ist es ein wildes Tier, ein höheres Wesen oder etwa Gott? Später im Wald jedenfalls tauchen diese Augen erneut auf. Und wieder bleibt offen, wer hier schaut. Sicher ist nur, dass das Schauende verschmäht, die hilflose Gestalt zu vernichten. Liegt es daran, dass Wojnicz selbst als mittleres Wesen erkannt wird? Er ist schließlich nur äußerlich, dem väterlichen Nomos gehorchend, als junger Mann zu lesen. Oder liegt es daran, dass Wojnicz, dem ein leichtes Schielen attestiert wird, die Welt ein wenig verfehlt und dadurch nur umso genauer sieht?
Indem der Roman eine Gruppe männlicher Kurgäste in dem abgeschlossenen historischen Kurort Görbersdorf auf eine dämonische Welt weiblicher Wesen treffen lässt, werden die diskursiv verhandelten Geschlechterkonstruktionen vor dem Hintergrund einer vielfältigen, inkommensurablen Wirklichkeit nicht nur herausgefordert, sondern in Gestalt einzelner Männer gar wörtlich zerrissen. Dennoch geht es dabei nicht um eine bloße Verkehrung der Geschlechterverhältnisse oder gar eine plumpe Rachefantasie, die selbst wiederum in Binäroppositionen stecken bliebe. Der Roman eröffnet vielmehr einen Blick auf eine hintergründige Realität, die unter einem kulturellen Film verborgen ist, und mit einer unheimlichen, pilzlikörgeschwängerten Atmosphäre einhergeht. Daraus ergibt sich ein dichtes, unterhaltsam kluges Geflecht unterschiedlicher Einflüsse, Verbindungen und Anspielungen, eine düstere „Feerie“, die Mythos mit historischem Kolorit verbindet und dennoch ganz zur Gegenwart spricht. Der von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein gut lesbar ins Deutsche übertragene Roman Empusion gestaltet eine in sich selbst von vielfältigen horizontalen wie vertikalen Bezügen durchwebte Welt, die selbstreflexiv, intellektuell anregend und unterhaltsam zugleich ist und dabei von einem höheren, schöpferischen Geist zeugt, der dies so eingerichtet hat.
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