Von alltäglichen Sehnsüchten und Träumen

Viktorija Tokarjewa bleibt sich mit ihren neuen Erzählungen „Auch Miststücke können einem leidtun“ selbst treu

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf den Klappentexten von Viktorija Tokarjewas Büchern findet man seit vielen Jahren dasselbe Foto der Autorin, die heuer bereits ihren 80. Geburtstag feiern darf. Das Bild zeigt die Schriftstellerin in etwas jüngeren Jahren – gewiss: Einer Dame sei dies erlaubt. Allerdings ist das auch ein wenig bezeichnend für das literarische Werk Tokarjewas, das sich im Grunde genommen über die Zeit hinweg nicht spürbar entwickelt hat, das stets Variationen derselben Themen bereithält und mithin recht vorhersehbar ist. Als Leser kann man auf zwei ganz unterschiedliche Arten auf diesen Befund reagieren: Wer ein Fan dieser Autorin ist, wird jedem neuen Erzählband mit Ungeduld entgegenblicken. Wer Tokarjewas Themen und ihren Stil hingegen inzwischen durchschaut hat, den vermögen neue Bücher dieser Autorin kaum mehr zu überraschen.

Nachhaltig bewusst geworden ist mir dies, als mir vor einigen Monaten zufälligerweise gleich ein halbes Dutzend älterer Erzählbände und Romane Tokarjewas in die Hände gefallen ist. Ich habe sie gleich alle in einem Zug durchgelesen, dabei freilich die Lektüre auch nicht etwa abgebrochen. Die Bücher lasen sich allesamt gut und leicht, man fieberte mit den meist weiblichen Hautfiguren durchaus mit, gewann sie in der Regel auch recht lieb, so unterschiedlich sie auch sein mochten. Am Schluss verfestigte sich dann jedoch der Eindruck, man habe alles in allem nur einen einzigen Text über verschiedene Frauenschicksale gelesen – dermaßen ähnelten sich die Geschichten in inhaltlicher wie auch in sprachlicher Hinsicht.

Was charakterisiert nun aber Tokarjewas Themen und Stil? Die Antwort kann man stellvertretend an ihrem neuen Erzählband mit dem schönen Titel Auch Miststücke können einem leidtun geben. Meist geht es in Tokarjewas Erzählungen um Frauen und ihre Beziehung(en) zum anderen Geschlecht. Bisweilen liegt der Fokus stärker auf dem Mann – dieser steht dann oft zwischen zwei Frauen: der Ehefrau und einer Geliebten. Tokarjewa schreibt von den ganz alltäglichen Sehnsüchten und Träumen ihrer Figuren, etwa nach einem schönen Leben und einer erfüllenden Liebesbeziehung. So heißt es über eine Frau einmal: „Sie brauchte einen Weihnachtsmann mit einem Sack voller Geschenke: eine Wohnung, ein Auto, eine Datscha und eine große Liebe.“ Anders als manche ihrer Figuren weiß die Autorin allerdings, dass man das Glück nicht erzwingen kann – dass es nicht einmal ein Anrecht darauf gibt. Dabei ist unerheblich, dass uns die Werbewelt mit ihren Versprechungen von Selbstverwirklichung und -optimierung genau das ständig glauben lassen will. Wenn Tokarjewa ihre Figuren trotzdem nicht fallen lässt, so zeugt dies immerhin von ihrem zutiefst humanistischen Menschenbild.

In sprachlicher Hinsicht darf man in Tokarjewas Texten immer wieder auf den leisen Humor und die feine Ironie hinweisen, welche die oft doch eher banalen Sujets und Konstellationen einigermaßen brechen. Humor und Ironie könnte man als „elegisch“ oder „melancholisch“ bezeichnen, denn die Figuren aus den verschiedenen Erzählungen müssen die gewisse Gelassenheit gegenüber ihrem Schicksal in der Regel hart abringen. Überhaupt deckt die Autorin in ihren Erzählungen die ganze emotionale Bandbreite von der Zärtlichkeit bis hin zur Tragik ab. Bisweilen führt Tokarjewas Sprache zu aphoristischen Verdichtungen, die sich wiederum aus der Lebenserfahrung der Protagonist(inn)en speisen. Diese Stellen sind dann zugleich eine Stärke und eine Schwäche der Autorin. Zum einen zeugen sie tatsächlich meist von einem geschärften Sensorium für all das, was in den Wechselbeziehungen zwischen Frau und Mann, aber auch in den Unbilden des Lebens passieren kann. Zum anderen tappt Tokarjewa dabei aber auch in eine Falle: Die Lebensweisheiten wirken manchmal banal oder gar lächerlich. Das ist an und für sich kein Problem – aber nur solange klar ist, dass die betreffenden Sprüche und Gedanken einer Figur aus dem Text zuzuschreiben sind. Doch gerade daran gibt es in Tokarjewas Erzählungen hie und da Zweifel: Die Präsenz einer Autorenstimme ist in den Texten nämlich stellenweise doch sehr deutlich zu spüren. In diesem Fall entsteht der Eindruck, hier melde sich direkt die Autorin namens Viktorija Tokarjewa zu Wort.

Ein Beispiel aus der Erzählung Der Schuss mag dies verdeutlichen: Darin geht es um einen älteren Mann, dessen Frau zunehmend dement wird. Die beiden leben nun auf der Datscha. Dort lernt Viktor Petrowitsch eine Nachbarin kennen, die von ihrem Mann getrennt lebt und aus der Scheidungsmasse nur eine Hütte und ein Pferd zugeteilt bekommen hat. Tanja und Viktor sind einsam und nähern sich einander bald an – dabei entwickelt sich eine überaus berührende Liebesgeschichte. Über Tanja heißt es dann jedoch: „Ein Mensch muss von irgendjemandem gebraucht werden. Und sei es ein Pferd, das ist auch jemand…“. Falls diese Bemerkung der Wahrnehmung Tanjas entspringt, so ist sie gelungen: Sie charakterisiert die Figur noch einmal sehr treffend, besonders ihr Denken. Doch leider ist man bei Viktorija Tokarjewa nie ganz sicher, ob sich hier nicht unvermittelt die Autorenstimme selbst, quasi von oben herab, zu Wort meldet – denn allzu oft schöpft man bei dieser Autorin einen derartigen Anfangsverdacht. In diesem Fall aber klänge die dargebotene „Weisheit“ kitschig, ja geschmacklos. Es ist im Übrigen zu vermuten, dass Tokarjewas Erzählungen nicht alle gleichermaßen elaboriert und „fertig“ sind – zumindest würde dies gewisse Schwächen im dramaturgischen Aufbau der Texte, aber auch im Hinblick auf Stil oder Erzählperspektive erklären. In einigen kürzeren Texten wie etwa Ljuska aus Bakowka oder Überflüssige Wahrheit ist jedenfalls ein erzählendes Ich zu vernehmen, das ganz eng an die Autorin angelehnt sein dürfte. Für so eine Lesart sprechen zahlreiche biografische Realia, die in den Texten erwähnt werden. Es stellt sich in diesen Fällen letztlich die Frage, ob man hier überhaupt noch von Erzählungen sprechen kann oder ob nicht die Grenze zu autobiografischen Aufzeichnungen bereits überschritten ist.

Letzteres wiederum mag damit zusammenhängen, dass Tokarjewa auch Filmdrehbücher schreibt. Vielleicht schwankt der Status ihrer Texte aus diesem Grund manchmal zwischen verschiedenen Genres: Nicht selten kommt es vor, dass die Autorin eine Erzählung in ein Drehbuch umschreibt oder umgekehrt. Dies war etwa der Fall beim letzten Text des Bandes Warum nicht?, der zugleich einer der längeren ist. Am Anfang stand hier ein Drehbuch für Usbekfilm, das Tokarjewa später literarisiert hat. Seinen filmischen Hintergrund merkt man diesem Text nach wie vor noch an – was nicht unbedingt als Mangel gewertet werden muss. Wie auch immer: Diese Geschichte ist sicher eine der besten in Tokarjewas neuestem Band, auch wenn manches aus dem Leben der Hauptfigur nur episodenhaft geschildert wird. Im Zentrum steht eine angesehene usbekische Professorin und Mutter aus Samarkand, Asisa Usmanowa, deren Privatleben gehörig durcheinander gerät. Die Geschichte erzählt eine Art Emanzipation einer emanzipierten Frau. Das klingt vordergründig nach einem Paradox. Doch ist es zugleich auch eine Kurzformel für das, was möglicherweise Tokarjewas größte literarische Leistung darstellt: Sie versteht es, in ihren Erzählungen Frauen zu porträtieren, denen es – wider Erwarten und allen Widerwärtigkeiten zum Trotz – doch stets gelingt, ihrem eigenen Frausein (man kann auch allgemeiner formulieren: ihrem Menschsein) zusätzliche Facetten abzugewinnen. Dabei entstehen freilich auch Porträts von Frauen, die nicht immer dem entsprechen, was der westliche Mainstream möglicherweise gerne sehen würde. So kann eine Heldin bei Tokarjewa durchaus auch einmal festhalten: „Der Schlussakkord der Liebe: Die Schwangerschaft.“ Nicht jeder Leser wird dem zustimmen.

Ein paar unnötige Übersetzungsfehler trüben die Lektüre ebenfalls. Einen „Chan von Chiwinsk“ gab es nie (richtig ist: Chan von Chiwa); die „Stunde des Kommandanten“ wäre korrekt auf Deutsch ganz einfach die „Ausgangssperre“ gewesen. Und das russische „poėtessa“ ist mit „Poetessa“ eine äußerst unglückliche Verlegenheitslösung. Tokarjewas neun Erzählungen sind zeitlich meist in der Endphase der Sowjetunion und/oder in der Zeit unmittelbar danach angesiedelt. Für die Texte selbst ist das wichtig, denn gerade unter den sich rapide verändernden Rahmenbedingungen geraten die Lebensläufe von Tokarjewas Heldinnen und Helden ins Schlingern. Die Figuren müssen sich neu definieren und sich den Gesetzen der Marktwirtschaft anpassen. Zwar werden sie auf weite Strecken durch das wirtschaftliche, soziale und politische Umfeld bedingt. Aber Viktorija Tokarjewa ist keinesfalls eine politische Autorin, die aus den Schicksalen ihrer Charaktere irgendwelche weiter reichenden soziopolitischen Forderungen ableiten würde. Allzu sehr interessiert sie vorwiegend die „private“ Dimension der Menschen. Der Autorin gelingt es immer wieder, ihren Heldinnen und Helden überaus nahe zu kommen, ihre feinsten Regungen zu erfassen. Sie gestaltet ihre Figuren bei all deren inneren und äußeren Widersprüchen durchwegs glaubhaft und sympathisch. Gerade letzteres könnte einen zunächst in Erstaunen versetzen, denn die Frauen und Männer in Tokarjewas Erzählungen sind meist durchaus problematische Persönlichkeiten, die man normalerweise nicht ohne Weiteres lieb gewinnen kann. Aber die Autorin beweist es ja mit ihren Geschichten: Auch Miststücke können einem leidtun!

Titelbild

Viktorija Tokarjewa: Auch Miststücke können einem leidtun.
Übersetzt aus dem Russischen von Angelika Schneider.
Diogenes Verlag, Zürich 2016.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257069761

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