Wie erging es J.M.R. Lenz in Russland?

Das aktuelle Lenz-Jahrbuch gibt Antworten

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Lenz-Jahrbuch erforscht nicht nur personen- und werkbezogen Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792). Seine Biografie steht vielmehr zentral für eine weit strahlende Phase der deutschen Literaturgeschichte, in der „Sturm und Drang“, „Empfindsamkeit“ und „Spätaufklärung“ in wechselseitiger Beeinflussung das ästhetische, kulturpolitische und soziale Klima bestimmten. Vor diesem Hintergrund untersucht das Jahrbuch anhand unterschiedlicher Autoren und Quellen die Kultur-, Medien- und künstlerische Kreativgeschichte im deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der vorliegende Themenband macht eine Ausnahme, denn er präsentiert Ergebnisse einer Tagung, die der Herausgeber Heribert Tommek im November 2017 in Regensburg veranstaltete, bei der tatsächlich der Dichter Lenz im Zentrum stand. Genau ging es um seine letzten zwölf Lebensjahre in Russland und um ihre Einordnung in die Biografie und Werkgenese des Künstlers wie in den Kontext der europäischen Spätaufklärung, inklusive Russlands.

Lenz’ Leben war wohl zu keinem Zeitpunkt problemlos. Der seiner realen Person nachmodellierte Büchnersche Protagonist gleichen Namens („Lenz“, 1839) irrt von psychotischen Schüben getrieben 1778 durch das Elsass. Zwei Jahre zuvor hatte sich der echte Lenz am Weimarer Hof als Literat zu empfehlen bemüht, war aber gescheitert, womöglich wegen jener obskuren „Eseley“, die Goethe nur erwähnt, die aber als zutreffend angenommen werden kann, denn auch seriöse Stimmen halten Lenz für einen „Meister des Fauxpas“. Die Weimarer Episode jedenfalls markiert den Moment, ab dem die Beschwernisse des Stürmers und Drängers zunehmen und es mit seiner Karriere bergab geht. Bald bricht die psychische Krankheit aus, die Existenz wird zunehmend prekär und die literarische Produktion leidet. Im Juni 1779 bringt sein Bruder Johann Christian den Angeschlagenen zurück in die baltische Heimat, von wo aus der Anfang 1780 weiter gen Osten nach St. Petersburg reist, weg aus dem Bannkreis des strengen Vaters. Mit den zahlreichen Versuchen, sich zuerst in der Hauptstadt Russlands und ab Herbst 1781 in Moskau zu etablieren, beginnt und vollendet sich die letzte, die russische Etappe seines Lebens.

Heribert Tommek resümiert in der Einleitung die anhaltende Herausforderung, Lenz’ Denken und Schaffen, sein Hoffen und Scheitern in diesen letzten zwölf Jahren zu entschlüsseln. Als Quelle dienen seine Schriften, vor allem diejenigen Texte, inklusive Briefe, die er in der Moskauer Zeit (1781–1792) verfasst hat. Sie gelten seit jeher als sperrig, die Rede ist gar von ‚spleenigen‘ Dokumenten, weil sie neben einer durchaus präzisen und konventionellen thematischen und adressatenbezogenen Situiertheit mehrheitlich „radikale formale (Ab-)Brüche, groteske Motiv- oder Symbolkopplungen, einen ‚unsinnigen‘ Sprachgebrauch und ‚phantastisch-projektive‘ Ideen“ aufweisen. Anders gesagt, sie sind schwer verständlich und rätselhaft, manche muten nachgerade verrückt an. Sieben Beiträge bieten Ansätze, dieser ‚pathologischen‘ Textproduktion kritisch Sinn abzuringen. Eine Zeittafel auf neun Seiten, die die Aufenthaltsjahre mit den Engagements, Kontakten, Anstellungen und dem Befinden von Lenz korreliert, beschließt den Band. Tommek sucht in Anlehnung an die von Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelte „Schizo-Analyse“ in Lenz’ ‚irrationalen‘ Texten nicht länger nach der „‚unbewussten Repräsentation‘ eines (pathologischen) Subjekts“. Ihm geht es um eine Bestimmung der textgenerierenden Anteile, die durch spezifische Produktionsprozesse der Gesellschaft und des Wunsches bedingt sind. Einen entgegengesetzten Zugang, nämlich den einer subjekt- und vaterzentrierten Sicht auf Lenz’ rätselhafte Textproduktion, wählt Heinrich Bosse. Er lässt sich bei seiner literaturpsychologisch informierten Lektüre des umfangreichsten fiktionalen Textes aus dem Moskauer Nachlass Ueber Delikatesse der Empfindung (um 1789) von der Hypothese leiten, dass auch ‚unsichtbare‘ lebensgeschichtliche Energien Literatur strukturieren. Im Fall des rastlosen Dichters betrifft das vor allem seine Selbstverständigungstexte, in denen unter anderem jene inneren Konflikte für Beunruhigung und Irritation sorgen, die aus seiner lebenslangen Autonomiebestrebung gegenüber dem Vater resultieren. Bosse zufolge ist genau diese symbolisch verschlüsselte Konvergenz von Leben und Werk mit verantwortlich für die Schwierigkeit des Spätwerks.

Daniel Čerepanov führt vor, wie Lenz seine früheren religiös getunten Erziehungskonzepte, vor allem aus Straßburger Tagen, angesichts der konkreten sozialen Umstände in Russland anpasst, ohne grundlegende Prinzipien aufzugeben. Walter Koschmal interessiert die konfliktreiche Fremderfahrung, der sich Lenz bei seiner Übersiedlung nach Russland ausgesetzt sieht; zudem, wie das im Grunde genommene absolute, dabei aufschlussreiche Missverstehen beziehungsweise Nicht-Erkennen der (ur-)russischen Kultur in einer kyrillisch verfassten Schrift von Lenz an einen unbekannten Grafen zum Ausdruck kommt. Jürgen Link unternimmt einerseits einen Interpretationsanlauf des als hermetisch geltenden Hymnenentwurfs von Lenz Le jour d’Helene … (1789), zum anderen bietet er im Anhang eine eigene deutsche Übersetzung des Stücks. Judith Schäfer will anhand zweier Dramenfragmente nachvollziehen, wie sich in den Stücken Schrift und Zeichnung verschränken, mit welchen schreibenden und zeichnenden Operationen Lenz sein szenisches Denken in Sinn und Form bringt und wie als Effekt dieser szenografischen Arbeit die (papierne) Seite zur ‚paginalen Bühne‘ wird, auf der die Stücke quasi im Schrift-Zeichen-Raum zur Aufführung kommen. Alexej Volskij spielt abschließend die Möglichkeit durch, für eine Deutung des Verhältnisses von Lenz und Russland den Dichter aus dem unmittelbaren historischen Umfeld herauszunehmen und mit Gesinnung und Poetik der modernen russischen Dichtung zu korrelieren beziehungsweise zu kontrastieren.

Tommeks, Bosses und Links Artikel sind aufgrund ihres Zugangs und Spezialwissens (schizoanalytisch, sozial-, literaturpsychologisch, kollektivsymbolische Deutung) voraussetzungsreich. Die Auseinandersetzungen von Čerepanov, Koschmal, Schäfer und Volskij sind leichter zugänglich, weil bei ihnen ein bekannter Lenz (Autor des Hofmeister; Satiriker; umtriebiger, ideenreicher, konfliktbeladener Zeitgenosse) in Konstellationen gestellt ist (Fremdling in Russland; Freimaurer; Dramatiker, der auch als Szenograf um Anschaulichkeit ringt; Paul Celans Sympathie für Lenz und Affinität zur modernen russischen Dichtung; schließlich Lenz als jemand, der nicht auf den grünen Zweig kommt), die an die Lebenssituationen und Schaffensvoraussetzungen der Vor-Russland-Zeit anknüpfen. Ein Publikum, das von Lenz elektrisiert ist, wird in allen Beiträgen Aspekte finden, die Lenz’ Aufenthalt in Russland erhellen. Auf einen Umstand, der dem Rezensenten in dem Maße bislang unbekannt war, sei zum Abschluss hingewiesen. Stellt man die Ausführungen von Walter Koschmal und Alexej Volskij eng nebeneinander, tritt eine bedeutende Diskrepanz in Lenz’ Kunstvermögen – also seiner Sensibilität und Fähigkeit, das Wesenhafte der jeweiligen Zeit- und Lebensumstände wie der Menschen zu ‚erkennen‘ und literarisch darzustellen – hervor. Einerseits ist Lenz mit seinem Dichtwerk bemüht, den Dingen auf den Grund zu gehen, sie in ihrem wahren Gehalt hervortreten zu lassen und so eine automatisierte Weltwahrnehmung zu durchbrechen. Er ist scharfsichtig am Werk, will sich über die nationalen Differenzen erheben und sich in fremde Sprachen und Kulturen einfühlen. Dazu gehört, zwischen Deutschen und Russen zu vermitteln, dass die eine Kultur die andere besser versteht, wozu die Übersetzung russischer Literatur gehört, damit sie Deutschen zugänglich wird. Anderseits zeigt Koschmal – eingedenk der Unwägbarkeiten, die in dem Text aus der Moskauer Zeit stecken, den er analysiert –, wie Lenz in seiner vieljährigen Kontaktaufnahme mit Russland daran scheitert, das Volk und damit die urrussische Kultur zu verstehen. Man möchte im Vergleich zu der Lenz grundsätzlich eigenen Scharfsichtigkeit hier von Myopie sprechen. Nicht nur dürfte er Russisch bis zuletzt nur mangelhaft gesprochen und geschrieben haben, er vermag in der russischen Volkskultur nur heidnische, asiatische, abergläubische, auch orthodox gläubige, deshalb nicht weniger irrationale Züge zu erkennen, die ihn erschrecken. Deshalb nimmt er Zuflucht zum aufklärerisch-rationalen Russland der Eliten, das ihm vertraut ist. Gleichwohl hat sich Lenz bemüht, seine im Kern eben nicht allumfassend aufgeklärte Haltung, zumindest gegenüber Russland, zu überwinden. Womöglich war er dazu wegen seiner psychisch-existentiellen Einschränkung nicht in der Lage. Aber ihm war auch keine ausreichende Hilfe von außen vergönnt.  

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Heribert Tommek (Hg.): Lenz in Russland. Lenz-Jahrbuch 25. Litertaur – Kultur – Medien.
Herausgegeben von Nikola Roßbach, Ariane Martin und Georg-Michael Schulz.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2019.
180 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783865257000

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