Die Würde der Rosen

Andrea Tompas „Omertà“ schildert privaten, ethnischen und gesellschaftlichen Schrecken vor dem Hintergrund des rumänischen Stalinismus

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist in deutschen Medien von Siebenbürgen die Rede, sind ethnokultureller Kitsch und Wohlfühlmultikulturalismus („Vielvölkerregion“, „friedliches Zusammenleben zahlloser Ethnien und Religionen“, „harmonisches Landleben“) häufig schnell zur Hand. Anders dagegen die großen Romane der letzten Jahre und Jahrzehnte über die Region: Die Siebenbürgentrilogie von Miklós Bánffy, erst vor Kurzem ins Deutsche übersetzt, behandelt den Untergang der Region vor dem Ersten Weltkrieg, den unaufhaltsamen Niedergang der alten k.u.k-Zeit mit dem ungarischen Adel in der Hauptrolle. Der Siebenbürger Sachse Eginald Schlattner (Der geköpfte Hahn) lässt in seinem Roman, dessen Handlung im Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist, zwar die multiethnische Vielfalt aufblitzen, doch spielt das Kriegswendejahr 1944, das als Beginn des Untergangs des Sachsentums gedeutet wird, darin die entscheidende Rolle. Gewalt auf unterschiedlichen Ebenen ist auch im Roman des Siebenbürger Ungarn György Dragomán (Der weiße König) das Schlüsselwort, Gewalt, die Kinder und Erwachsene einander antun. Im Roman Ostinato des rumänischen Wahlsiebenbürgers Paul Goma wurde Anfang der 1970er Jahre das Gefängnis zur Gesamtmetapher für ein ganzes (sozialistisches) Gesellschaftssystem.

Vor diesem literaturgeschichtlichen Hintergrund verwundert es kaum, dass Gewalt in ihren vielfältigen Facetten eines der Themen des ebenfalls großen (also bedeutsamen und umfangreichen) Romans Omertà der siebenbürgisch-ungarischen Schriftstellerin Andrea Tompa ist. Sie schildert darin vier Lebensläufe und Weltentwürfe im stalinistischen Rumänien in etwa dem Zeitraum 1948/49–1963/64. Obwohl der Kenntnisstand über diese anderthalb Jahrzehnte rumänischer Zeitgeschichte vor allem in Deutschland und im Vergleich mit der späteren Herrschaft Nicolae Ceauşescus viel geringer ist, handelt es sich um eine Phase, in der die Brutalität und die Willkür des Regimes ungleich größer waren als später.

Der Hauptprotagonist des Romans ist Vilmos Décsi, ein Rosenzüchter aus einfachen Verhältnissen, der sich seine Kenntnisse im Eigenstudium aneignete und bereits vor dem Zweiten Weltkrieg Erfolge feierte. Am Stadtrand seiner Geburtsstadt im westsiebenbürgischen Klausenburg (Rumänisch: Cluj-Napoca, Ungarisch: Kolozsvár) konnte er sich dadurch im Krieg Felder kaufen und sich ein eigenes Haus leisten. Sein Garten befindet sich in direkter Nachbarschaft zu den Feldern der „Hóstáter“, einer halb bäuerlichen, halb vorstädtischen Bevölkerungsgruppe. Diese genoss in der ungarischen Stadt (Klausenburg besaß bis etwa 1958/1960 eine ungarische Bevölkerungsmehrheit) wegen ihres Fleißes und der Qualität ihrer landwirtschaftlichen Erzeugnisse hohes Ansehen.

Der Roman besteht aus vier Ich-Erzählungen, drei aus der Sicht von Frauen, die direkt-indirekt mit Décsi verbunden sind und einer, die seine eigene ist. Am Anfang steht die Bäuerin Kali, die aus dem unweit von Klausenburg gelegenen ungarischen Dorf Szék nach Klausenburg flieht, um den Schlägen ihres gewalttätigen Mannes zu entkommen. Sie wird zuerst eine Art Aushilfe im Hause des eingefleischten Junggesellen Décsi, doch kommen sich die beiden näher und was Kali in ihrer eigenen Ehe nicht glückte, ein eigenes Kind zu bekommen, klappt mit Décsi. Dieser wird in der Zwischenzeit vom Arbeiterregime als „Autodidakt des Volkes“ entdeckt, zum Universitätskader und Leiter eines Instituts befördert. Dabei soll er anfänglich vor allem die Obstkultur des Landes durch „Veredelung“ voranbringen, doch darf er sich auch weiterhin seinen Rosen widmen. Die Bindung zu Kali löst Décsi allerdings kurz nach der Geburt des Kindes: Er verschafft ihr ein Haus in einem Dorf, in dem er sie zwar oft besucht, jedoch ihre ständige Gegenwart im eigenen Haus nicht mehr ertragen muss.

Im zweiten „Buch“ erfährt der Leser aus der Perspektive Décsis dessen Aufstieg und dessen Sicht auf Kali. Dieser Teil ist der umfangreichste und politischste, in dem vor allem die politisch-kulturgeschichtliche Entwicklung der ungarischen Minderheit einen großen Raum einnimmt. Der dritte Teil des Romans bietet die Perspektive einer Heranwachsenden, der Hóstáter Halbwaisen Annuschka, die Décsi verehrt, seine Geliebte wird, zugleich aber alleine den Hof ihrer Familie versorgen, die Erzeugnisse auf dem Markt verkaufen und, wenn es geht, die noch verbliebenen Felder der Familie bearbeiten muss. Denn ihre Mutter ist längst verstorben, ihr Vater ist ein Trinker und ihre viel ältere Schwester Rózsi ist Nonne geworden. Diese wird nach dem ungarischen Aufstand von 1956 wegen angeblichen Hochverrats verurteilt, doch gehört ihrer Sicht auf die Welt der letzte Monolog des Romans.

Andrea Tompa ist eine faszinierende (private) Aufstiegs- und (ethnische) Niedergangsgeschichte gelungen, die den Leser in ihren Sog zieht, sobald er sich auf die faszinierende Sprache und die Gedankenströme der Protagonisten eingelassen hat. Der soziale und politische Aufstieg Vilmos Décsis korrespondiert mit dem Niedergang der ungarischen Minderheit, deren Rechte und Möglichkeiten zunehmend beschnitten werden und auch gleichzeitig mit dem langsamen Ende der Hóstáter Kultur. Den Charme der Erzählung machen die je eigene Ausdrucksweise und Welt der Bäuerin Kali, des Aufsteigers Vilmos, des gequälten Mädchens Annuschka und der Nonne Rózsi (Eleonore) aus. Kalis derbe, bäuerliche Ausdrucksweise, ihre Fabulierlust verstecken kaum ihre Naivität und Unbedarftheit. Sie denkt in Gegensätzen wie „oben“ und „unten“, „Herr“ und „Magd“, „Stadt“ und „Land“. Dabei beobachtet sie den Aufstieg Décsis kritisch. Dessen Sprache hingegen ist in der zweiten Erzählung eher kurz angebunden, präzise, besteht häufig nur aus knappen Hauptsätzen.

Obwohl sich ihre Wege kreuzen, begegnen die vier Personen einander selten auf Augenhöhe. Dabei können diese Figuren allegorisch gelesen werden: Kali steht zwischen ihren beiden Männern wie die ungarische Minderheit zwischen den beiden Hauptstädten Budapest und Bukarest, denn ihrer Eigenart werden diese Männer genauso wenig gerecht wie auch die beiden Hauptstädte die Besonderheit Siebenbürgens in der Geschichte mehrfach außer Acht gelassen haben. Der Aufsteiger Vilmos Décsi verkörpert trotz seines Widerstrebens gegen den Begriff „Dienen“ die spezifische, in der Zwischenkriegszeit sich herausgebildete Ideologie des „Dienstes für das Volk“, die die ungarischen Intellektuellen bis in die 1980er Jahre prägte. Die Nonne Rózsi wiederum versinnbildlicht eine gängige Metapher der siebenbürgisch-ungarischen Literatur, die Perle, die unter größtem Leid der Muschel entstehe. Rózsi leidet stellvertretend für die Menschen für das Gute in der Welt.

Die Autorin widersteht erfolgreich den Verlockungen, die vielfältigen ethnischen, sozialen und politischen Problemlagen des Romans in ihrer Komplexität zu reduzieren. So ist der Roman kein Klageroman über die Benachteiligungen der ungarischen Minderheit, denn Angehörige dieser Gruppe werden als überzeugte Kommunisten wie als Mitarbeiter des gefürchteten Geheimdienstes Securitate gezeichnet.

Der Hauptprotagonist Décsi ist ebenfalls eine komplexe, widersprüchliche Person. Er behauptet zwar als Antwort an die gläubige Kali, nicht dienen zu wollen, dennoch widerstrebt es ihm nicht, „dem sozialistischen Staat [zu] dienen“, womit er allerdings auch seinem eigenen Aufstieg dient. Kein überzeugter Sozialist, dennoch lässt er sich opportunistisch gerne vor den Karren des Regimes spannen, weil die Aussicht, als großer Züchter Anerkennung zu erfahren, ihn blendet. Dabei verrät er zum Zwecke seines Vorankommens auch die Hóstáter, deren Felder in sein neu gegründetes Institut eingegliedert werden, obwohl es dazu Alternativen gegeben hätte. Dies war der Anfang vom Ende dieser Gruppe, deren Kultur heute verschwunden ist. Décsi ist sich bewusst, dass der Teufel „einen Preis für seine Hilfe“ (275) verlangt, die Eitelkeit treibt ihn dennoch zur Mitarbeit am Aufbau des Sozialismus an. Denken in nationalen Kategorien ist ihm zwar fremd (wie er auch jeglichen abstrakten Überlegungen und Idealen als Mensch der Praxis kritisch gegenübersteht), dennoch erkennt er in den Tagen des ungarischen Aufstands 1956 pragmatisch und schnell, dass dieser scheitern und selbst in Siebenbürgen Vergeltungsmaßnahmen des Regimes gegen die Minderheit nach sich ziehen werde. Er schützt allerdings nicht nur seine ungarischen Mitarbeiter, als er sie aus der Stadt Klausenburg, einem Ort möglicher Protestkundgebungen entfernt, sondern auch sich, seinen Aufstieg und sein Institut. Und er registriert genau, wie die rumänischen Behörden ungarische Institute schließen, Politiker und Wissenschaftler wegen vermeintlicher und längst zurückliegender Aussagen und Taten unter fadenscheinigen Gründen verhaften und somit insgesamt die Minderheit diskriminieren.

Décsi liegt es an der „Veredelung“ von Rosen, wozu er die Methode des sowjetischen Wissenschaftlers Mitschurin benutzt. Die Veredelung soll u.a. durch Adaptation an neue klimatische Bedingungen erfolgen. Der Begriff ist hierbei eine wunderbare Metapher für den Versuch des „real existierenden Sozialismus“, den neuen, sozialistischen Menschen heranzuzüchten. Und so wie es im Nachwort heißt, Décsi habe nach seiner frühzeitigen Verrentung seinen Glauben an die Mitschurinsche Methode verloren, diese sei also letztlich gescheitert, so scheiterte auch der sozialistische Versuch der Menschenveredelung.

Das sozialistische Experiment sollte zudem zur Überwindung jener Entfremdung beitragen, der die ausgebeuteten Arbeiter im Kapitalismus wehrlos ausgesetzt sind. Die Entwicklung Décsis zeigt allerdings ebenfalls die Entfremdung des Menschen von sich selbst und seinem Wesen zum Zwecke des Erfolgs. Die Parallele „Rosenzucht“ und „Menschenerziehung“ drängt sich beim Lesen des Romans förmlich auf. Und auch Décsi weiß darum: „Wenigstens ist diese Kali hier. Eine sehr kluge Frau, im Übrigen. Wie eine remontante Rose: stark, mit vielen Dornen und widerstandsfähig gegen Krankheiten. Und gerade jetzt remontiert sie“ (218).

Individuelle Stärke und Dornen sonderbarer Persönlichkeiten, Eigenart und Identität, Selbstbewusstsein und Selbstbehauptung von vier Angehörigen einer ethnischen Minderheit, die sich trotz der widrigen politischen Umstände ihre Würde bewahren wollen: Darum geht es also in diesem Roman, der sprachlich wie inhaltlich zu fesseln vermag.

Neben „dienen“ und „Veredelung“ ist „Gewalt“ ein weiteres Schlüsselwort des Romans. Der Stalinismus rumänischer Prägung gilt als eine der brutalsten Formen dieser Zeit mit besonders perfiden und gewalttätigen Menschenexperimenten (Stichwort „Experimente von Piteşti“). Offene und direkte Gewalt wird von Tompa nicht als Mittel eingesetzt. Die Gewalt ist dennoch stets und in vielfältiger Form im Roman präsent, sei es als häusliche Gewalt von Kalis erstem Mann, als die um sich greifende willkürliche Gewalt des Regimes, die jede und jeden von einem Tag auf den nächsten und für Jahre ohne Urteil ins Gefängnis bringen konnte (so die unten erwähnten Jordáky und Balogh).

Décsi ist sich daher stets bewusst: „Heutzutage muss man sehr aufpassen. Wenn man so einen im Mantel sieht, wird man sofort nervös. Heutzutage sitzen so viele Menschen im Gefängnis“. Décsis ständige Angst, als Ungar in ein Fettnäpfchen zu treten, wofür er des Nationalismus bezichtigt und inhaftiert werden könnte, resultiert letztlich aus dieser versteckten Omnipräsenz der Gewalt. Die Gewalt des Alkohols, dem Annuschkas Vater nicht entkommt, ist ebenfalls eine Macht für sich. Allerdings gibt es da auch noch die Sprach- und Wortgewalt der vier Protagonisten, die sie benutzen, um gegenüber der Übermacht der Umstände, Zeiten und Strukturen, welchen sie ausgeliefert sind, den Versuch der Selbstbehauptung entgegenzusetzen.

Diese Sprachgewalt kann jedoch erst durch die erstklassige Übersetzung Terézia Móras zur Geltung kommen. Insbesondere im Monolog Kalis überzeugen die gefundenen, teils ländlich-bäuerlichen, teils derben Ausdrücke. Einige wenige Schnitzer sind lediglich, wenn die kommunistische Zeitung Scânteia fälschlich als ein ungarisches Blatt bezeichnet oder der Fluss „Alt“ mit „Alter“ übersetzt wird. Dass die Übersetzerin die ungarischen Ortsbezeichnungen belassen hat, ist auch eine historisch korrekte Entscheidung, denn die allermeisten erwähnten Orte hatten zur Zeit der Romanhandlung eine ungarische Bevölkerungsmehrheit. Im Glossar am Ende kann man schließlich die rumänischen und deutschen Bezeichnungen nachschlagen (allerdings sind dabei Bruck für Bonchida und Frauenbach für Nagybánya die historisch verbürgten und richtigen Entsprechungen, nicht die angegebenen).

Andrea Tompas Roman ist eine Mischung aus einem Schlüsselroman und einer Epochencharakteristik. Eine gewisse Inkonsequenz ist insofern gegeben, als sie Décsi zwar nach einem tatsächlichen Vorbild geformt hat: Den Rosenzüchter Rudolf Palocsay (1900–1978) hat es tatsächlich gegeben und die allermeisten Begebenheiten im Leben Décsis sind Palocsays Biographie entnommen. Während für Palocsay aber im Roman ein anderer Name benutzt wurde, kommen im Roman viele weitere Personen, die ebenfalls gelebt haben, mit ihrem Klarnamen vor: Décsis Freund Lali (Lajos Jordáky, 1913–1974), Edgár Balogh (1906–1996), Ernő Gáll (1917–2000), András Bodor (1915–1999) usw. Warum diese Personen, die wegen ihrer Lebensläufe (Holocausterfahrung, Gefängnisaufenthalte im Stalinismus, eigene Denkansätze) alle je eine eigene Biographie verdient haben, keinen anderen Namen im Roman tragen, ist dem Rezensenten nicht ganz verständlich. (Ernö Gáll z.B. entwickelte nach seinen Erfahrungen im Holocaust, dem Stalinismus und dem rumänischen Nationalkommunismus eine heute noch aktuelle Ethik der Würde und Verantwortung, die in den Identitätsdebatten unserer Zeit mit ihrer Formel von der „Würde der Eigenart“ herangezogen werden könnte, wenn sie bekannt wäre.)

Der Haupt- und der Untertitel (Omertà. Buch des Schweigens) bedürfen auch einer Erklärung, denn zum einen ist ein so opulenter Roman mit beinahe 1.000 Seiten alles andere als ein „Buch des Schweigens“. Zum anderen ist das mafiotische Schweigegebot durchaus mit dem sozialistischen Unrechtsstaat und Verbrecherregime in Einklang zu setzen, aber eine solche Erklärung ist bestimmt nicht für jeden Leser sofort einleuchtend.

Omertà ist unlängst mit der Siebenbürgentrilogie von Miklós Bánffy verglichen worden. Der Vergleich ist nach Ansicht des Rezensenten unpassend, denn weder zeitlich, noch von den handelnden Personen her lassen sich schlüssige Analogien herstellen. Während es in Bánffys Roman um das Ende des historischen Ungarn kurz vorm Ersten Weltkrieg geht, schildert Tompa über weite Strecken den Willen zum Aufbau einer neuen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Daher erscheint eher ein Vergleich mit Pal Bodors Die Schweizer Villa oder Eginald Schlattners Rote Handschuhe angebracht, deren Handlung im Siebenbürgen der 1940er und 1950er Jahre spielt. Tompas Gesellschaftsroman gehört zweifellos in diese Reihe und er ist uneingeschränkt als der große Roman einer neuen ungarischen Autorin zu empfehlen.

Titelbild

Andrea Tompa: Omertà.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
950 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430613

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