Ein wilder Ritt nach Hause

Im Roman „Ein empfindsamer Mensch“ erzählt Jáchym Topol von Freaks und Dropouts in der tschechischen Provinz

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der märchenhafte Hans im Glück ist ein Mensch, der den sukzessiven Wertverlust seines durch harte Arbeit erlangten Besitzes mit stoischer Gelassenheit aushält. Ihn sorgt es nicht, dass sich der kopfgroße Goldklumpen über verschiedene Transaktionen am Ende in einen profanen Feldstein verwandelt. „So glücklich wie ich“, zitieren ihn die Brüder Grimm, „gibt es keinen Menschen unter der Sonne“.

Ganz so leicht fällt es Mohrle, dem Helden in Jáchym Topols Roman, nicht, seine Glücksgefühle zu behaupten. Dennoch bewahrt auch er, der empfindsame Mensch, angesichts des permanenten Scheiterns aller Versprechen eine erstaunliche Gelassenheit. Um einige Illusionen geheilt, bilanziert er gegenüber einem alten Pauker aus Jugendtagen: „Meine ganze Familie, wir alle sind auf einer tierischen Rolltreppe abwärts gelandet und kriegen die beim besten Willen nicht gestoppt.“ Ja, für einen Moment droht er darob die Fasson zu verlieren, doch Mohrle fängt sich gleich wieder. Auch weil er für zwei Jungs zu sorgen hat – und weil er einen Traum hegt: „Schreiben muss ich.“

Topols Roman Ein empfindsamer Mensch nimmt diesen Traum vorweg, indem er die Geschichte von Mohrle, seiner Familie und der verwandten und bekannten Brut zuhause im südböhmischen Tal der Sázava erzählt. Er tut es – zumindest teilweise – aus der Perspektive des einen von zwei sehr ungleich geratenen Zwillingsbrüdern. Während der eine autistisch veranlagt ist und sich auch in Notfällen weigert, seine Stimme zu gebrauchen, ist der andere so winzig wie ein Kleinkind geblieben, einzig sein Schwengel hat sich prächtig entwickelt. Zusammen mit Mohrles Frau Sofia, die schon bald in einer Klinik verschwindet, glänzten sie und Mohrle als illustres Schauspielerpaar bei vielen Shakespeare-Festspielen in ganz Europa. Doch die Zeiten wandeln sich. Die Zahl der Festivals nimmt ab und Ostler wie sie werden immer häufiger als „Zigeuner“ abgestempelt und systematisch vertrieben. Gleich zu Beginn des Romans widerfährt ihnen genau das auf der britischen Insel. Brexit means Brexit, auch für „polish vermin“ – wer will dabei auf mitteleuropäische Unterschiede achten. Mohrles Entgegnung, sie seien „czech vermin“, geht im Drohgewitter unter. So verlässt die Familie unter Androhung von brexitärer Gewalt schleunigst das Land, um später auch in Spanien, dann in Frankreich vergeblich ihr Glück zu suchen. Nach einem Abstecher in die Ukraine landen sie schließlich in Mohrles Heimat, eben jenem Tal der Sázava.

Es ist ein Weg vom Regen der Fremdenfeindlichkeit in die Traufe einer Heimat, in der die alten Geister weiterhin umgehen. Topol lässt auf Mohrles Weg eine Fülle an liebens- und manchmal auch fürchtenswerten Freaks und Dropouts auftreten, die sich eigensinnig durchs Leben schummeln. Fischschuppe etwa haust in einer wackligen Hütte am Wasser und lebt von Fisch und dem Gemüse, das er in den umliegenden Gärten stibitzt. Der blinde Onkel Lomoz erinnert daran, wie er als junger Kuhtreiber in ein sowjetisches Lager geriet und sich da auf eine Weise behauptete, die „auf keine Kuhhaut“ geht. Und der starke Kája versucht seine kesse Verlobte Svĕtla endlich unter die Haube zu bekommen. Es ist eine sehr sonderbare, sehr männlich geprägte Welt, deren „Realität Merkmale eines Traums aufweist“. 

Hierhin zurückgekehrt tauscht Mohrle – ein Hans im Pech oder im Glück, je nach Sichtweise – die eine Hoffnung gegen die nächste, den einen glücklichen Gewinn gegen dessen sofortigen Verlust ein. Durch Zufall gerät er an einen Packen Geldscheine, der ihm schnurstracks abhanden kommt, oder er entdeckt eine wertvolle Ikone, die umgehend in der Sázava absäuft. So läuft es die ganze Zeit. Dennoch: Von den Opfern abgesehen, die der Alltagstrubel fordert, bewahrt der empfindsame Mensch selbst im Elend seine Haltung und Würde, weil ihm immer auch Solidarität zuteil wird, beispielsweise durch die herzliche Puffmutter Moni. Vielleicht überlebt er deshalb, während andere im tumultuösen Durcheinander untergehen. An dessen Höhepunkt erfolgt der Auftritt von Napalm, einem alten Haudegen, der einen angerosteten sowjetischen Panzer aus der Sázava geborgen und wieder flott gemacht hat. Der Panzer wurde einst von der wehrbereiten Dorfjugend im Fluß versenkt. Nun kommt er nochmals in Fahrt und kartätscht prompt aus Versehen das örtliche Bordell zusammen. 

All das erzählt Topol mit einem Hang zur schrägen Burleske in einer vitalen, derben, auch liebevoll melancholischen Sprache, die die armseligen provinziellen Verhältnisse sehr direkt spiegelt und gerne ins Dialektische abgleitet, wenn etwa Mohrles dubioser Bruder auftritt und ihm radebrechend seine unverbrüchliche Bruderschaft anbietet. In solchen Passagen demonstriert die Übersetzerin Eva Profousová ihre Meisterschaft. Auch ohne einen Blick ins Original ist die immense Arbeit zu erkennen, die sie für die Übersetzung dieser widerborstigen Prosa geleistet hat. Wenn dennoch leise Zweifel an ihrer Wirksamkeit auftauchen, ist dies gewiss nicht ihr, der Übersetzerin, anzulasten. Viel grundsätzlicher stellt sich die Frage, ob Topols Roman überhaupt in einer anderen Sprache verständlich gemacht werden kann.

Topol, einst jüngster Unterzeichner der Charta 77, wegen Wehrdienstverweigerung in die Psychiatrie eingewiesen und heutiger Direktor der Vaclav Havel-Bibliothek in Prag, lässt die alten Geister der end- und postkommunistischen Ära nochmals aufleben. Sie gehen noch immer um und leisten Widerstand – wogegen nur? Gegen die eigene Trägheit oder gegen eine globale Moderne, die im Tal der Sázava noch kaum angekommen ist. „Die heutigen Alten“, doziert einer im Roman, „Kindheit Hitler, Jugend Stalin. Und als die das dann im Sozialismus so halbwegs abgeschüttelt hatten, da kriegten sie die Freiheit geschenkt… Mit solchen Alten sollen wir nach Europa?“ Wie in Jiri Menzels Filmparabel Lerchen am Faden von 1969 spielt der Schrottplatz hier weiterhin eine zentrale Rolle. Die postsowjetische Stagnation mündet in eine präapokalyptische Vision, die der Autor mit lustvollem Sarkasmus ausmalt. Er nimmt dafür auch ein Ungleichgewicht innerhalb der Textdramaturgie in Kauf. Ein empfindsamer Mensch beginnt als Road-Novel, um über wenige, summarisch erzählte Stationen schnell im Sumpf der tschechischen Provinz steckenzubleiben. Irgendwie wirken die ersten Kapitel wie Fremdkörper, die dem Kern der Geschichte vorangestellt sind. Das eigentliche Epizentrum des Romans ist die Gegend um Poříčí nad Sázavou, die der Autor aus eigener Erfahrung gut kennt. 

Ein empfindsamer Mensch liest sich über weite Strecken fantastisch und erquickend. Immer wieder sorgen melancholische Einsprengsel für Rhythmuswechsel im wilden erzählerischen Ritt. Die Fülle des Personals ebenso wie rasante Perspektivwechsel und unscharfe Gesprächsfetzen bewahren etwas Widerspenstiges, das vielleicht auch darauf hinweist, dass die formidable deutsche Übersetzung ein Missverständnis in sich birgt: Ist die Skurrilität des Originals ohne die lebhafte Anteilnahme an der tschechischen Sprache und ohne die vertiefte Kenntnis der kulturellen Codes in ihrer Tragweite überhaupt erfassbar?

Topols Roman stellt sich in die  Schwejksche Tradition, die den Repräsentanten der Macht weder gefallen kann noch will. Nicht zufällig – so wird berichtet – hatte der frühere Staatspräsident Vaclav Klaus den Autor wegen dieses Buches wüst als unwahren Tschechen beschimpft. Er spielt mit der Tradition und bürstet sie gegen den Strich der nationalen Heroengeschichte. Er lässt ihre Widersprüche aufleben, indem er etwa von besagtem Lomoz erzählt oder andeutet, dass mehr hinter der Figur des Katers Mikesch steckt als eine Unterhaltung für Kinder. Im deutschen Sprachraum ist dieser durch die Augsburger Puppenkiste und die einebnende Übersetzung von Otfried Preußler bekannt geworden, doch in Tschechien liebt man den Mikesch-Autor Josef Lada auch wegen seiner legendären Schwejk-Illustrationen.

In jenen Winkeln der Dramaturgie, wo sich der überdrehte Roman hin und wieder verzettelt, stellt er solche Fragen nach einem grenzüberschreitenden Verstehen. Vielleicht besteht genau darin das Fantastische, das uns Topol erzählt. Forsch und unverblümt schreibt er seiner Prosa etwas ein, das über die kulturellen Grenzen hinweg unverständlich bleiben muss und sich so dem Gemeinsamen einer globalisierten Erzählkultur listig entzieht.

Titelbild

Jáchym Topol: Ein empfindsamer Mensch. Roman.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Eva Profousová.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
487 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428641

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