Zerschossene Meisterwerke

Sascha Seiler spricht mit Rolling-Stone-Redakteur und Beatles-Experte Maik Brüggemeyer über die Solojahre der Fab Four

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Seiler: Vor 50 Jahren war die offizielle Trennung der Beatles – im April – und es sind 1970 auch gleich fünf Soloalben herausgekommen, die alle auf ihre Weise ziemlich großartig sind, wie ich finde.

Brüggemeyer: Also die erste war ja Ringos Sentimental Journey. Diese und die Platte danach, Beaucoups of Blues, sind meine beiden liebsten Ringo-Soloplatten. Ganz einfach, weil da nicht jemand versucht hat, extra für Ringo Songs zu schreiben, die dann im Songwriting limitiert sein mussten, weil man immer dachte, man müsse auf Ringo aufpassen – darauf, dass er sich da mit seiner Stimme nicht verhebt –, und die deswegen sehr oft zu einfach gestrickt waren. Und bei diesen beiden Platten ist das eben nicht der Fall. Deshalb hat mir bei den Beatles immer „Act Naturally“ gut gefallen, diese Buck Owens Cover-Version, einfach, weil er sich da ein bisschen anstrengen musste und man das aber so arrangieren kann, dass das gut funktioniert. Deswegen bin ich ein großer Fan von Sentimental Journey und noch mehr von Beaucoups of Blues.

Und McCartney ist vielleicht in gewisser Weise die interessanteste Platte, weil die überhaupt nicht seinem Image entspricht. Man denkt, McCartney – der Ober-Beatle, der, der jetzt sein perfektionistisches Meisterwerk hinlegt, und dann merkt man aber: Nein, das ist eigentlich genau das Gegenteil davon. Das ist unfertig, auf eine sehr interessante Art. Es sind komische Instrumentals darauf und dann eben dieser eine Über-Song, oder vielleicht sind es auch zwei – also „Every Night“ ist irgendwie auch ein Über-Song, aber vor allem natürlich „Maybe I‘m Amazed“. Ein sehr eigenartiges Album, in dem für mich auch die Depression mitschwingt, die er, wenn man den Quellen glauben darf, tatsächlich auch gehabt hat zu der Zeit. Weil ihn das von allen am meisten mitgenommen hat, dass die Beatles auseinander gehen. Weil die Band in gewisser Weise von Anfang an eigentlich sein Traum war, also die Idee, selbst Songs zu schreiben, diese aufzunehmen und so weiter. Solche Ziele hatte Lennon in dem Sinne ja alles gar nicht. McCartney hat das dann eben auch teilweise ohne Rücksicht auf Verluste alles durchgezogen und er war der, der dann am meisten unter der Trennung gelitten hat, und das hört man der Platte auch ein bisschen an, finde ich.

Ja, finde ich auch. Ich mag McCartney sehr. Aber es gibt genug Menschen, die sagen, dass sie nicht soviel taugt, wegen der – wie du schon sagtest – unfertigen Sachen, aber das ist natürlich gerade der Reiz davon, oder?

Ja, also wenn man die ersten drei McCartney-Soloplatten, das erste Wings-Album Wild Life jetzt noch dazu genommen, anschaut – das ist schon irgendwie irre. Das ist total frei auf eine Art, freigeistig, und nicht der Versuch, auf die Kritik zu schielen. Und dass das damals so gar niemandem aufgefallen ist, dass alle gesagt haben, das sei scheiße und Ringo Starr sich sogar in einem Song über McCartney und über sein Solo-Schaffen bis1972 lustig gemacht hat – das ist schon irgendwie der Wahnsinn. Also für mich sind Ram und Wild Life Platten, die irgendwie zum Teil zerschossen sind, die mir aber einfach sehr, sehr gut gefallen. Sehr freigeistige Platten.

Ja, das geht mir bei Wild Life genauso. Es wirkt irgendwie überhaupt nicht routiert. Das ist etwas misslungen auf der einen Seite, aber andererseits, sehr… ja zerschossen, wie du sagtest, und deshalb auch sehr spannend. Gerade, wenn man sich dann seine späteren Sachen anhört, die eher glatt geraten sind…

Ja, ich habe ihn einmal interviewen dürfen, wobei, ‚interviewen‘ übertrieben ist. Ich war in den Abbey-Road-Studios, als er die dritte Platte seines Projekts The Fireman vorgestellt hat. Man hörte sich diese Platte an, dann gab es umsonst zu trinken, alle unterhielten sich und wurden langsam betrunken. Irgendwann trat Paul McCartney in den Raum, sagte „Hello, Guys“ und dann ging er von Grüppchen zu Grüppchen und jeder durfte ihm ein paar Fragen stellen. Ich habe ihn dann damals – schon mit etwas Mut angetrunken – gefragt: „Die ersten drei Solo-Platten finde ich so super, warum bist du danach dann wieder auf so relativ konventionelles Zeug gegangen und hast „My Love“ geschrieben und versuchst jetzt wieder, ein Schnulzier zu sein?“ Er hat dann gesagt: „Naja, es war meine Karriere und ich hatte das Gefühl, alle anderen haben Hits und ich habe keinen. Also habe ich mir gedacht, ich muss mal ein bisschen Ernst machen.“ Wenn man dann noch mal nachguckt, ist es so, dass selbst Red Rose Speedway, die Platte, auf der besagter Hit „My Love“ drauf war, eigentlich auch als Doppelalbum und wesentlich anarchischer und grandioser geplant war, als sie dann letztendlich erschienen ist. Also ich denke, von daher hat er da eigentlich sogar noch weiter gemacht und auch bei Band on the Run… Eigentlich hat er schon sehr lange sehr viel Mut bewiesen, auch in seinen Solo-Jahren – das muss man schon sagen. Man hat das Gefühl, mit Lennons Tod flacht das dann ein bisschen ab.

Wobei, da würde ich dann gleich mal vorgreifen: Würdest du bei Red Rose Speedway, gerade in Bezug auf die Geschichte, dass es als Doppelalbum herauskommen sollte und dann doch nicht als solches erschienen ist, einen Bruch sehen in seiner Karriere? Dass er ab dann versucht hat konventioneller zu werden? Immerhin kam ja vor eineinhalb Jahren im Zuge der Wiederauflage auch eine LP-Pressung der eigentlich intendierten Doppel-LP heraus. Ein regelrecht anarchisches Werk, wenn man es als Ganzes nimmt. Trotz „My Love“…

Ja, also, wenn die McCartney-Platte die Depressions-Platte war, dann war Ram die manische Platte, dann war Wild Life der Versuch des Neuanfangs und Wiederaufbaus – die Rekonvaleszenz quasi – und dann war er wieder auf dem Damm in gewisser Weise. Der Erfolg, vor allem der James Bond-Single „Live and Let Die“, hat ihn natürlich dann auch rehabilitiert, auch bei der Kritik. Und sein Solo-Meisterstück Band on the Run, die direkt nach Red Rose Speedway herauskam, war ja auch eine Platte, die unter chaotischen Umständen aufgenommen worden ist. Und trotzdem hat man das Gefühl, dass er mal wieder die Musik der damaligen Zeit gehört hat. Da ist Glam Rock drin und da ist in gewisser Weise sogar Prog. Gerade bei Band on the Run hat man das Gefühl, er versucht wieder zeitgeistig zu sein. Das hat er auf Ram nicht gemacht und auf McCartney und bei Wild Life auch nicht, da war er sehr in seinem ganz eigenen Ding gefangen. Aber ganz allmählich öffnete er sich und das hört man den Platten auch an.

Auf einmal kommen die Einflüsse, beim späteren Wings-Werk Venus and Mars hört man sogar Queen raus. Man hat das Gefühl, er hat sich jetzt geöffnet für diese zeitgenössischen Sachen. Man kann darüber hinaus sagen, das sei eben Mainstream geworden auf eine Art, aber es ist eben auch tatsächlich eine Neuerfindung gewesen. Band on the Run klingt eben vor allem nicht wie ein Beatles-Album, es ist überhaupt nicht beatleesk, wie man so schön sagt. Das hat er sich dann einfach nicht mehr gegönnt oder er hat gesagt „Nein, ich mache jetzt was anderes“. Das hat er relativ lange durchgezogen, eigentlich bis Tug of War, die 1982 erschienen ist, was dann ja wiederum eine Antwort auf Lennons Tod war und dementsprechend dann natürlich auch vermehrt Beatles-Untertöne hatte. Aber bis dahin, muss man sagen, hat er sich davon ferngehalten.

Wie stehst du zu den Wings im Nachhinein?

Ich mag die Wings ganz gerne. Ich habe lange Zeit nur einzelne Platten gerne gehört, aber mittlerweile habe ich sogar die Platten entdeckt, die ich immer nicht mochte – London Town mochte ich nie so gerne und Back to the Egg. Aber wenn man sich seit 34 Jahren mit den Beatles, mit McCartney, beschäftigt – ich habe die erste McCartney-Platte gekauft, da war ich zehn –, dann hört man natürlich auch irgendwann die Stinker-Platten. (lacht) Das macht die dann auch gut. Und es hat ja tatsächlich auch irgendwann ein Shift stattgefunden in der ‚McCartney-Forschung‘, dass man auf einmal Back to the Egg für eine gute Platte hielt und verglichen mit vielem, was danach kam, ist das auch eine gute Platte. Verglichen mit Driving Rain ist das eine gute Platte. Oder Give My Regards to Broad Street oder Off the Ground. Also so gesehen ist das nicht so schlecht und ich finde, dass die Wings, auch wenn die in dem Sinne nie eine richtige Band waren, schon gut sind. Die Platte Wings over America zeigt dann auch, dass sie teilweise – auch wenn es ein komisch frankensteinischer Versuch ist, eine Band zu gründen – dann eben auch tatsächlich funktioniert und gelebt haben als Band, auf eine Art. Das finde ich schon interessant.

Gehen wir mal zu George Harrison und ins Jahr 1970 zurück. All Things Must Pass wird ja von vielen als das größte Beatles-Soloalbum überhaupt bezeichnet. Wie stehst du dazu?

Es ist sicher nicht mein liebstes, aber es ist sicher das in gewisser Weise bedeutungsvollste, weil die interessanteste Geschichte dahintersteht. Derjenige, der immer nur zwei Lieder auf einer Platte haben durfte, macht ein Dreifach-Album, lädt sich die Crème de la Crème der Musikzene ein, hat zig Hits auf der Platte, sie verkauft ein Vielfaches an Exemplaren von dem, was die ersten Solo-Platten von Lennon, McCartney und Starr verkauft haben, die auf einmal kommerziell gesehen als eben jene Gartenzwerge dastehen, die auf dem Cover von All Things Must Pass zu sehen sind. Die drei Gartenzwerge sind ja quasi Lennon, McCartney und Starr. Und viele der Stücke waren wesentlich besser als die Stücke, die Harrison dann auf die Beatles-Alben nehmen durfte. Also, wenn man sich anschaut, dass auf dem Weißen Album Songs wie „Piggies“ und „Savoy Truffle“ drauf sind und gleichzeitig weiß, dass „Isn‘t it a Pity“ schon zweimal durchgefallen war. Das ist schon bei Revolver durchgefallen, dann später noch mal. Oder auch „Not Guilty“, das er dann viel später erst, auf George Harrison, veröffentlicht hat, auch das ist ein besserer Song als „Piggies“.

Die haben de Harrison schon sehr sehr klein gehalten. Das Album ist natürlich zu lang, die dritte Platte hätte es nicht gebraucht, aber andererseits finde ich es als Statement natürlich cool zu sagen „Hier,das habt ihr davon, ich mache jetzt ein Dreifach-Album“. Ich mag übrigens die Produktion überhaupt nicht, ich bin kein großer Phil Spector-Fan. Das hat vielleicht bei den Girlbands und bei den Righteous Brothers in den mittleren 60ern funktioniert, aber dieser Art von Musik fehlt jede Dynamik, die steht so still, weil da eben eine Mauer ist, der Spectorsche ‚Wall of Sound, und das hat mir nie besonders gefallen. Ich finde einige der Songs auf der Platte toll, „Beware of Darkness“ und natürlich das Dylan-Cover „If Not for You“. Komisch produziert, aber ein Statement auf jeden Fall. Und sicherlich die Platte, die auf eine Art dann von allen Beatles-Solowerken die größte Signifikanz hat. Klar, weil sie eben auch die Beatles weitererzählt und wesentlich mehr über die Beatles erzählt als die anderen.

Danach ist es allerdings mit Harrison schon ein bisschen schwierig. Die Nachfolgeplatte Living in the Material World fand ich schon immer ganz anständig –

Die mag ich sehr gerne! Die funktioniert ja lustigerweise als Album dann auch viel besser als All Things Must Pass, weil sie eben natürlich die Kunst der Beschränkung hat.

Ja –sie ist kompakter.

Da hat er dann wahrscheinlich keine Songs mehr gehabt (lacht). Die mag ich gerne, also ich finde, als Album funktioniert die gut. Aber danach geht es wirklich rapide bergab.

Ja, das wollte ich sagen. Danach geht es äußerst rapide bergab. Woran liegt das? Ich meine, es kommen ja eigentlich bis Cloud Nine keine –

Moment! Ich bin ein großer Fan von der Platte George Harrison von 1979, da ist etwa „Blow Away“ drauf – ein toller Song – und „Here Comes the Moon“ und der Opener, „Love Comes to Everyone“. Eigentlich ist das schon eine Art von Cloud Nine-Platte. Eine sehr geleckt produzierte Pop-Platte, die echt ganz gute Songs hat und die tatsächlich, glaube ich, das Album der Solo-Beatles ist, das ich am häufigsten auflege. Die davor, Thirty Three & 1/3, ist auch nicht so schlecht. Da ist „Crackerbox Palace“ drauf, also schon ein paar Lieder, die ganz gut sind. Aber die ist nicht so durchgängig gut wie George Harrison. Und davor, Extra Texture, das ist leider eine fürchterliche Platte, aber da hat er sich halt auch die Stimme total zerschossen durch zu viel Kokain und den Versuch, eine Tour zu machen. Und er war eben kein großer Sänger. Wenn man auf Tour geht und nicht so richtig gut singen kann, ist das für die Stimme nicht so ideal. Und dann noch auf Koks – einfach keine gute Idee.

Ich glaube, er hat sich dann einfach auch für andere Sachen interessiert lange Zeit. Also, was heißt lange Zeit: All Things Must Pass war 1970, Living in the Material World war 1973, die noch gut war, und dann kam Dark Horse und Extra Texture, die nicht so gut waren, und dann ging es ja eigentlich schon wieder bergauf. George Harrison hat dreieinhalb gute Platten gemacht in den 70ern, eine davon war ein Dreifach-Album – das ist nicht so eine schlechte Bilanz. Das kriegen heute nicht so viele Leute hin, mal abgesehen davon, dass die Leute gar nicht so viele Platten veröffentlichen. Ich weiß nicht, wie lange man in der Zeit zurückgehen muss, um insgesamt drei U2-Platten zusammen zu kriegen. Dann ist man, glaube ich, in den frühen Nullerjahren. Also von daher finde ich das alles vollkommen okay. Der hat die Karriere eigentlich gut hingekriegt bis dahin, bis 1979, und ist dann in den 80ern ein bisschen geschlittert, aber dann kam 1987 auch schon Cloud Nine, wieder eine gute Platte. Ich glaube, er hat einfach tatsächlich dann das Interesse irgendwann verloren. (lacht)

Es kam ja auch nichts mehr nach Cloud Nine.

Genau, dann kam noch Brainwashed.

Da war er schon tot, das war ja eine posthume Veröffentlichung

Genau, ja.

Was mich wundert, denn Cloud Nine halte ich für eine fantastische Platte.

Ja, das war meine erste quasi Beatles. Naja, doch nicht. McCartneys Weihnachtssingle Once Upon a Long Ago hab ich noch früher gekauft.

Ja, Cloud Nine war auch mein ersten Beatles-Solo-Album…

Ich mag den Sound auch, aber ich glaube, es gab mehrere Gründe, warum er dann aufgehört hat, Platten zu machen. Einer war die Live-Erfahrung: Er ist auf Japan-Tour gegangen mit Eric Claptons Band und hat dann wieder einmal gemerkt, das ist eigentlich überhaupt nichts für ihn, live zu spielen. Dann war der Konkurs seiner Filmproduktionsfirma HandMade Films ungefähr zu der Zeit. Das heißt, er brauchte dringend Geld. Und hat daraufhin die Beatles-Anthology mit angeleiert. Der hauptsächliche Grund der Beatles-Anthology war, dass George Harrison wieder flüssig wird. (lacht)

Das wusste ich jetzt gar nicht, ok. (lacht)

Ja und das ging ja auch, bis wann war das nochmal – 1995?

1995/96

Ja, bis 1996. Und dann hat er, glaube ich, schon wieder angefangen, an Brainwashed zu arbeiten. Aber dann kam eben die Krankheit dazwischen. Dann kam dieser Einbrecher, der ihn niedergestochen hat. Und diese ganzen Sachen, die kamen dann dazwischen und dann… (seufzt) deswegen, hat er es dann, glaube ich, einfach nicht mehr hingekriegt.

Ja, ist schade.

Ja, das wäre sicherlich schön gewesen, wenn da nochmal was gekommen wäre…

Ok, kommen wir zuletzt zu John Lennon… Plastic Ono Band ist ja eine sehr nackte Platte, eine sehr emotionale Angelegenheit. Ich bin nicht so der Lennon Fan, muss ich sagen, aber die mag ich sehr. Bei Imagine ist das ganze vielleicht ein bisschen glatter und kommerzieller gemacht, aber danach kann ich überhaupt nichts mehr damit anfangen, zumindest bis zu Double Fantasy. Was ist denn deine Meinung?

Ja also, erstmal muss ich sagen, dass John Lennons Solo-Werk mir grundsätzlich schlechte Laune macht. 

Das ist nachvollziehbar.

Es ist immer dieses zerrissene Genie. Und das, was mich eigentlich an Lennon immer fasziniert hat, was man aber lustigerweise in Song-Form gar nicht so oft hört, ist der Wortwitz, ist die Schlagfertigkeit und all das. Und das findet man im Solo-Werk von Lennon sehr sehr wenig. Also entweder er ist sehr gemein zu Leuten oder er ist sehr banal. Plastic Ono Band ist sicherlich die beste Platte, aber auch die macht mir schlechte Laune.

Die macht schlechte Laune – ja. (lacht)

Das ist ein sehr düsterer Sound, ein Urschrei und er versucht, seine Kindheitstraumata nochmal zu erleben. Es ist schon eine gute Platte, aber jetzt keine von denen, die ich besonders oft auflege, weil ich denke: ‚Hey, ich hör mir mal ne Lennon Platte an.‘ Und das Interessante ist, dass Imagine, auch wenn das nie jemand schreibt, eigentlich ein vertonter ‚Writer‘s Block‘ ist. „Imagine“ selbst ist, wie jetzt später erst klar wurde, hauptsächlich auf Yoko Onos Mist gewachsen, die auch seit drei Jahren einen Songwriting Credit hat, den Lennon ihr damals nicht gegeben hat. So viel zum Feministen John Lennon. Dann „Gimme Some Truth“, ein alter Beatles Song, schon bei den Get Back-Sessions ausprobiert. „Jealous Guy“, das 1968 noch „Child of Nature“ hieß: Noch ein alter Beatles-Song. Und dann ist da gar nicht mehr so viel.

„I Don’t Wanna Be A Soldier“ ist kaum ein Lied, so schwachbrüstig wie das daherkommt. Und“ It’s So Hard“… Man hat das Gefühl, so richtig viel war da gar nicht mehr, aber es ist halt irgendwie überzuckert produziert mit dem Klavier und allem. Mein liebster Song auf der Platte ist „Gimme Some Truth“. Und vieles andere finde ich unfassbar sentimental, sodass man es kaum ertragen kann. „How?“ zum Beispiel halte ich für ein ganz fürchterliches Lied. Und „Imagine“ – gut – das ist einfach totgedudelt, das kann man eigentlich auch nicht mehr hören, auch wenn das wahrscheinlich der Solo-Beatles-Song ist, den alle kennen. Selbst Leute, die die Beatles nicht hören, kennen John Lennons „Imagine“. Es überstrahlt sogar alle Lennon-Beatles-Stücke, was die Bekanntheit angeht. Die sind aber alle viel besser. Wenn ich Sympathie habe, dann tatsächlich eher für Sometime in New York City.

Ja, ein ungeliebtes, aber meiner Meinung nach überzeugendes Album, weniger musikalisch als von der Attitüde her.

Ja, im Gegensatz zu Mind Games – da sind auch ein paar ganz nette Lieder drauf. Mind Games ist insgesamt relativ belanglos.

Eigentlich ein überflüssiges Album…

Aber er hat das gleiche Problem wie fast alle britischen Musiker, die irgendwann in die USA gegangen sind, um Platten zu machen: Rod Stewart, Elton John, John Lennon – die sind nicht besser geworden, wenn sie da mit den ganzen Koksnasen rumgehangen haben im Studio (lacht). Und ich habe mittlerweile große Sympathien für Double Fantasy, aber die hatte ich auch nicht immer. Damals, als die Platte raus kam, ist sie ja von der Kritik auch ziemlich niedergemacht worden. Dann ist Lennon gestorben, sie ging überall auf Platz Eins und auf einmal bekamen diese Lieder eine andere Bedeutung. „Life is What Happens To You While You’re Busy Making Other Plans“, und solche Songzeilen erschienen plötzlich in einem anderen Licht. Als sie erschien, galt sie nicht als großer Wurf, aber mittlerweile mag ich sie eigentlich ganz gerne. Ich mag auch diese Spannung zwischen den Liedern von Lennon, die alle dann doch sehr gemütlich sind und von einem Angekommenen handeln, und von Yoko Ono, von denen nicht alle gut sind, aber so zwei bis drei, bei denen man das Gefühl hat, das hat schon so einen ‚New Wave-Charme“ irgendwie. Sie ist dann so eine Art Eiskönigin des New Wave.

Und die beiden besten Songs aus der Zeit, also der beste Lennon-Song, „Nobody Told Me“, und der beste Yoko Ono Song, „Walking on Thin Ice“, die wären dann auf der nächsten Platte gewesen, die dann nicht mehr richtig fertig geworden ist. Milk and Honey, die ansonsten aber auch irgendwie enttäuschend ist, weil Grow Old With Me als Demo darauf ist. mit George Martins Streichern, das ist nicht wirklich schön. Aber „Nobody Told Me“, das ist wieder der alte Lennon, die alte Schärfe. So hätte man gerne ein ganzes Album von ihm gehört.

Ich sehe, du bist auch nicht so der Lennon-Fan und eher ein McCartney-Typ, oder?

Ja, bin ich tatsächlich. Ich glaube, es ist so wie bei den meisten Leuten: als Kind mag man Ringo, als Teenager mag man John Lennon, als sinnsuchender Student mag man George Harrison und wenn man dann so allmählich die Sachen besser durchblickt, das Leben besser versteht, auch die Beatles besser versteht, Beziehungen und Freundschaften besser versteht, mag man McCartney am liebsten. Und wenn man dann auf dem Todesbett liegt, dann denkt man: ‚Vielleicht war es doch Ringo?‘ Aber bis dahin ist es für mich McCartney, einfach auch, weil ich das Solo-Werk am spannendsten finde.

Das hast du sehr schön gesagt…

Ich finde, dass Lennon seine besten Lieder 1965 geschrieben hat. Danach gab es noch vereinzelt Sachen, die toll waren. „Strawberry Fields Forever“ natürlich, aber seine Hochphase, die ganzen tollen Sachen, „Help!“ und „Girl“ und „Norwegian Wood“ und „In My Life“ und so weiter, das war eigentlich alles 1965. Danach ging es dann ein bisschen abwärts und man hat das Gefühl, er hatte auf viele Sachen gar keinen Bock. Am Ende hat er ja bei den Beatles auch immer nur Sachen aufgewärmt, weil er eigentlich nichts mehr anzubieten hatte. „Dig A Pony“ und solche Sachen, bei denen man dann merkt, da war dann einfach nicht mehr viel zu holen. McCartney war eben der Motor, weil er es immer allen beweisen musste.

Das ist nicht unbedingt ein sympathischer Charakterzug, immer der Streber zu sein bzw. derjenige, der zeigen muss, dass er es draufhat. Aber es ist halt ein ganz guter Motor für eine Band und das hat er danach, zumindest bis zu Lennons Tod, mit den Wings auch immer noch weiter gemacht. Dass er immer wieder versucht hat, nochmal was hinzukriegen, was dann vielleicht auch John Lennon beeindruckt, hat ja sogar bis zum Schluss geklappt. Lennon hat Double Fantasy ja nur gemacht, weil er im Radio „Coming Up“ von McCartney II gehört hat und dachte, „Mensch, McCartney macht noch mal was Interessantes, hat seinen Arsch dann doch hochgekriegt und macht nicht mehr diese komische 70s Rockmusik“ und daraufhin hat er auch wieder angefangen. Er hat sich dann einen Plattenspieler besorgen lassen von seinem Assistenten Frederic Seaman, hat dann diese Platte immer gespielt und hat angefangen, wieder Lieder zu schreiben. Und das ist doch eigentlich ganz schön, dass sie dann doch bis zu Lennons Ende einander sehr beeinflusst haben. 

Da sieht man natürlich, dass das Wunderbare an dem Solo-Werk, gerade in den 70ern, ist, dass diese Verbindungen immer wieder auftauchen. Und nicht nur die kleinen Verbindungen, die eindeutigen, wenn der eine etwa auf der Platte des anderen mitspielt, sondern auch die unzähligen unsichtbaren künstlerischen Berührungen, die hier stattfinden.

Ja, oder der eine dem anderen einen mitgibt.

Ja, das natürlich auch immer gerne! Aber genau diese Dinge machen doch den Reiz der Solo-Beatles aus…

Ja. Und man muss eben einfach sagen: Bands funktionieren nur so lange, wie alle ungefähr dieselbe Vision von dem haben, was sie machen wollen. Und wenn das auseinanderbricht, wie das eben bei den Beatles der Fall war, muss man Schluss machen. Wahrscheinlich hat es die Beatles auf eine Art auch gerettet, dass sie auseinandergebrochen sind zu dem Zeitpunkt. Wer weiß, was da für langweilige Platten gekommen wären. Bands sind ja immer Kompromisse, und wenn man dann feststellt, wir alle gehen nur noch Kompromisse ein, dann hat man nachher eine Platte wie Goat’s Head Soup von den Rolling Stones, und das will man ja wirklich nicht. Und dann eben plötzlich nicht mehr nur eine sondern vier, oder sagen wir mal drei, künstlerische Visionen zu haben über die ganzen 70er Jahre hinweg, das ist schon sehr spannend, auch wenn natürlich nicht alles gelungen ist, was sie veröffentlicht haben. Alle vier haben schwache Platten gemacht in den 70ern; und danach sowieso. Aber ich glaube schon, dass die 70er als Beatles-Jahrzehnt, indem die Beatles nachhallen, ein unheimlich interessantes Solo-Jahrzehnt war. 

Kannst du am Ende deine fünf Lieblings-Soloalben nennen?

(lacht) Ja, also –

Ganz subjektiv.

Ja ja, ganz subjektiv. George Harrisons George Harrison, Ram von Paul und Linda McCartney, Band On the Run von Wings, Paul McCartneys Chaos and Creation in the Backyard und All Things Must Pass von George Harrison.

Sehr gut. Obwohl ich wie gesagt kein großer Lennon-Fan bin, wären bei mir, anders als bei dir, gleich zwei Lennon-Platten dabei: Plastic Ono Band und Imagine. Dazu auch All Things Must Pass, Cloud Nine von Harrison und tatsächlich McCartney. gerade weil sie so zerschossen ist.

Nr. 1 wäre bei mir Ram.

Bei mir wohl Plastic Ono Band. Aber ich kann auf deiner Liste alles unterschreiben, bis auf George Harrison. Die muss ich jetzt unbedingt nochmal anhören, ist immer so ein bisschen an mir vorbeigegangen. Die habe ich seit bestimmt 20 Jahren nicht mehr gehört.

Ich finde sie wirklich schön. Da ist ja auch der alte Beatles-Track „Not Guilty“ endlich drauf, der es nicht aufs Weiße Album geschafft hat. Also die gefällt mir wirklich gut, quasi das Companion Piece zu Cloud Nine.

Super, vielen Dank! Sehr spannend.

Maik Brüggemeyer schreibt als Redakteur des Rolling Stone über Musik, Film und Literatur. Jüngst ist sein Buch Pop. Eine Gebrauchsanweisung im Penguin Verlag erschienen.