Troja ist gefallen, lang lebe Troja!

Anne-Katrin Federow und Kay Malcher verfolgen die ‚Baugeschichte‘ Trojas nach

Von Christian StorzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Storz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Homer sein am Anfang der europäischen Literaturgeschichte stehendes Epos verfasste, ist der auf den Raub Helenas folgende zehnjährige Krieg zwischen Griechen und Trojanern um Ilion, die namensgebende Stadt der Ilias, in unserem kulturellen Gedächtnis verankert. Der Untergang dieser kleinasiatischen Stadt, deren genaue Lage und die Frage, ob der im antiken Epos geschilderte Krieg tatsächlich auf historischen Begebenheiten beruht, beschäftigt seit jeher die Gemüter und lässt jede Generation sich aufs Neue mit den Taten von Achilles, Hektor, Paris und der Schönheit Helenas auseinandersetzen. Dabei wurde dieser wirkmächtigste Mythos der Antike zu allen Zeiten zur Begründung von Legitimität und zur Selbstinterpretation der eigenen Kultur herangezogen. Vor allem im Mittelalter waren die Erzählungen um diese Stadt ein Phänomen, das sämtliche europäische Kulturen verband.

Mit der Darstellung Trojas in den verschiedenen mittelalterlichen Literaturen Europas beschäftigt sich der von Anne-Katrin Federow und Kay Malcher herausgegebene Band Troja bauen. Vormodernes Erzählen von der Antike in komparatistischer Sicht, dessen Grundlage die Vorträge des Tübinger Mediävistentages im März 2019 bilden und der 2022 erschien – zufälligerweise dem 200. Geburtsjahr des umstrittenen deutschen Archäologen und Trojaentdeckers Heinrich Schliemann, „der in der öffentlichen Wahrnehmung heute ganz besonders für das prekäre Verhältnis von Historizität und literarischer Fiktion im Falle Trojas steht […]: […] Schliemann hat auf uns gewartet“.

Da, so die Herausgeber*innen, die informierende Komparatistik in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zu wenig gewürdigt werde, solle dieses Versäumnis in diesem Band nachgeholt werden, wobei das Erzählen von Troja in der Vormoderne – als welche das Mittelalter aufgefasst wird –, unter dem Heranziehen des sprachlichen Bildes vom Dichter als Baumeister, auf das der Titel anspielt, verglichen werde. Der Großteil der dreizehn Studien aus Anglistik, Germanistik, Latinistik, Romanistik und Skandinavistik untersucht die literarischen Adaptionen des Trojastoffes vom 12. bis zum 16. Jahrhundert. Diese sind mit Blick auf die Sprache und Zeit der interpretierten Texte in Blöcke eingeteilt, wobei sich der erste Beitrag mit der Spätantike und der letzte mit einer englischen Gelehrtendebatte um 1800 beschäftigt. Diese beiden Arbeiten, die die anderen Analysen historisch und epistemisch umklammern, verbindet dabei vor allem das Interesse an der kulturellen Arbeit am Trojamythos, deren Erkennungszeichen die drängende Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Fiktion ist.

Trojas ‚Baugeschichte‘ beginnt somit bei den ‚Fundamenten‘ der mittelalterlichen Vorstellungen von Troja: den spätantiken Texten des Dictys Cretensis und des Dares Phrygius, die Jessica Ammer danach befragt, wie mittelalterliche Autoren mit diesen ursprünglich als Homer-kritisch konzipierten Texten und vermeintlichen Augenzeugenberichten umgingen, die direkt oder indirekt bis weit in die Frühe Neuzeit hinein Werke über Troja beeinflussten. Die folgenden beiden Beiträge bleiben sprachlich beim Latein; Thomas Gärtner untersucht am Beispiel des Troilus Alberts von Stade die mittelalterliche, klerikale Indienstnahme des Trojastoffes, der die pagan-antike Geschichte durch moralisierend-anagogische Überformung zur christlichen Moraldidaxe uminstrumentalisiert, aus der der Lesende ‚aus fremden Fehlern lernen kann‘. Susanna Fischer demonstriert anhand des Urbs erat illustris, eines Gedichts des Hugo Primas, in dem ungewöhnlicherweise ein Grieche den Untergang der Stadt beklagt, die Überlieferungszusammenhänge und -varianz bei der Beschreibung der Ruinen Trojas in der lateinischen Lyrik des 11. und 12. Jahrhunderts. Ihrer Meinung nach bestehe in dieser Klage neben der Erinnerung an Ilion grundsätzlich ein Zusammenhang mit dem Dichterruhm, wenn der Dichter seine Leistung als poeta reflektiere.

Die Reihe der nicht-lateinischen Trojatexte eröffnet Friedrich Wolfzettel mit dem Roman de Troie, mit welchem Benoît de Sainte-Maure erstmals die Texte des Dares und des Dictys in eine Volkssprache übertrug und der zur Quelle für sämtliche weitere Trojawerke des Mittelalters wurde. Dieser altfranzösische Roman bildet auf der Grundlage der spätantiken Berichte quasi das Erdgeschoss, auf welchem das weitere volkssprachliche und auch lateinische mittelalterliche Erzählen aufbaut, um bei der Metapher des Bauens zu bleiben. Dabei zeigt Wolfzettel gelungen, wie Benoît im kontrastiven Wechsel zwischen erzählenden und beschreibenden Passagen sein künstlerisches Können demonstriert und es in die Nähe von Magie rückt.

Mit den Les Illustrations de Gaule et Singularitez de Troye des Jean Lemaire de Belges aus dem frühen 16. Jahrhundert untersucht Brigitte Burrichter eine dreibändige Abhandlung, die als Prinzenspiegel für den späteren Kaiser Karl V. zugleich der Damenunterhaltung dient. Des Weiteren bildet sie ein Kompendium des Wissens, ruft die europäischen Fürsten zum Kampf gegen die Türken auf und stellt gleichzeitig Gallien (womit Lemaire den französischsprachigen Raum seiner Zeit meint) als älter noch als Troja – und diesem somit an Ruhm überlegen – dar.

Positiv fällt an Troja bauen auf, dass die Beiträge sich nicht nur mit den bekannteren westeuropäischen Adaptionen des Trojastoffes beschäftigen. So wendet sich Sabine Heidi Walther den oft vernachlässigten altnordischen Trojatraditionen zu, wodurch ein interessanter Kontrast zu bisherigen literarischen Adaptionen dieses Stoffes entsteht. Denn während in Süd-, West- und Mitteleuropa im Mittelalter die dynastische und genealogische Legitimität durch die Abstammung von Aeneas und anderen Trojanern bedeutsam war, spielt dieses Motiv im Island des 12. bis 14. Jahrhunderts keine prominente Rolle.

In ihrer Untersuchung der Trójumanna saga (Mitte 14. Jh.) stellt Walther dagegen heraus, dass für die mittelalterlichen Isländer aufgrund ihrer eigenen historischen Situation die Verwandtschafts- und Freundschaftsverhältnisse von größerer Bedeutung waren, was sie verständlich nachvollziehbar an den Beispielen der Beziehung von Achilles und Patroklus (die in der Antike homosexuell kodiert war und welche der altnordische Verfasser als ein Ziehbruderverhältnis zeitgenössisch legitimiert) und der trojanischen Königsfamilie (positiv konnotiert aufgrund ihrer verwandtschaftlichen Beziehung) darstellt.

Die folgenden drei Beiträge widmen sich den drei mittelhochdeutschen Bearbeitungen des Trojamythos des 12. und 13. Jahrhunderts. Den Anfang bildet Peter Somogyi, der im Rückgriff auf die literaturwissenschaftliche Modellierung von ‚alternativer Kohärenz‘ jene Ansichten rehabilitieren will, die das Liet von Troye als Kontinuationstext des Eneasroman ausweisen. Dabei untersucht er die in der Heidelberger Handschrift Cpg 368 zusammen überlieferten Dichtungen und zeigt einleuchtend auf, wie Herbort von Fritzlar seinen Text dem Heinrichs von Veldeke voran-baut – und welche Probleme die Interpretation bringen kann, wenn unreflektiert moderne Kohärenzvorstellungen auf das vormoderne Erzählen übertragen werden. Somogyi vergleicht die Figuren des Eneas (Eneasroman) und des Ulixes (Liet von Troye) miteinander, die über ihre Beschreibungs- (Kleinheit, Weisheit) und Zuschreibungsmuster (Schuldige am Untergang Trojas) einander korrespondieren.

Daran anschließend liest Andrea Sieber Schlüsselszenen des mit 40.000 Versen Fragment gebliebenen Trojanerkriegs Konrads von Würzburg unter der Frage narrativ kalkulierter Latenzstrukturen, denn ihr alternativer methodischer Ansatz besteht darin zu zeigen, dass diese Latenzstrukturen als die bedeutendsten Fundamente für Ambivalenzen und Kippfiguren auf der Textoberfläche berechnet seien. Exemplarisch am Kleid der Helena oder dem Apfel der Discordia versteht Sieber diese poetologisch zentralen Beschreibungen als gewollte Herausforderungen der Vorstellungskraft der Textrezipient*innen.

Diesem auch für Zeitgenossen bedeutendsten mittelhochdeutschen Trojaroman gegenüber versucht Kay Malcher anhand des anonym überlieferten Göttweiger Trojanerkriegs, eines „Außenseiters“ unter den mittelalterlichen Romanen, die Implikationen herauszuarbeiten, die mit der literaturwissenschaftlichen Unterstellung einhergehen, es handle sich dabei um einen kaum konsistente Sinnangebote machenden und sich ästhetischen Normen weitgehend verweigernden Text. Dazu verwendet er statt des monologischen, autororientierten ein triadisches Textmodell, dessen Elemente von den Instanzen Verfasser, Erzähler und Figur vertreten werden und von denen keine als herausgehobene Repräsentation des Textganzen, als sein Kommunikator, fungieren könne, wodurch die Stimmen im Göttweiger Trojanerkrieg ohne Hierarchie mit den Rezipierenden kommunizieren würden und das Erzählen damit Partizipation ermögliche.

Nach den deutschsprachigen Adaptionen folgen die mittelenglischen Bearbeitungen des Trojastoffes. Die Beiträge von A. C. Spearing und Margitta Rouse beschäftigen sich mit Geoffrey Chaucers Trojawerken aus den 1380er-Jahren, dem Versepos Troilus and Criseyde und dem Traumgedicht The House of Fame.

Spearing kritisiert in seinem Beitrag die beiden zentralen Voraussetzungen moderner Erzählforschung an Troilus and Criseyde. Chaucer behandelt in seiner Dichtung in erster Linie nicht Troja selbst oder dessen Belagerung durch die Griechen, sondern die erstmals von Benoît erfundene Liebesgeschichte zwischen dem trojanischen Prinzen Troilus und der Priestertochter Criseyde, die im Mittelalter immer wieder aufgegriffen und noch von Shakespeare behandelt wurde. Dabei beschreibt er dennoch auch die Stadt, aber seine hingebungsvolle Rekonstruktion dieser, sein Bauen an Troja, besteht nicht in ihrer materiellen Substanz oder in politischen Parallelen zum London des späten 14. Jahrhunderts. Stattdessen befasst sie sich mit deren paganer Religion und Philosophie, indem Chaucer seinem Publikum die antiken Trojaner als nicht unähnlich seinen Zeitgenossen beschreibe und pagane Bräuche mit christlich-mittelalterlichen Idiomen wiedergebe.

In Chaucers etwa zeitgleich entstandenen und stark an Dantes Commedia orientierten Traumgedicht The House of Fame ‚vergesse‘ der Ich-Erzähler, so Margitta Rouses These, in einer Nacherzählung der Aeneis die berühmten Pforten, durch die Träume und auch Aeneas und die Sibylle die Unterwelt verlassen, bewusst nicht. Stattdessen sei diese elliptische Ekphrasis Teil einer prozesshaften Auseinandersetzung mit wirkmächtigen Trojawerken und Chaucer verfolge damit in seinem Text die literarischen Schaffensprozesse nach, indem er in der Abstraktion deren beide Aspekte aufzeige: die Auslassung und die Möglichkeit der Verknüpfung. Dafür führt Rouse auch die ‚O‘s auf einer Handschriftenseite des House of Fame an, die an die Aus- und Eingänge des titelgebenden Hauses des Ruhms erinnern.

Wolfram R. Keller untersucht mit der Destruction of Troy des John Clerk und dem anonymen Laud Troy Book zwei mittelenglische spätmittelalterliche Adaptionen der Historia destructionis Troiae des Guido delle Colonne, die wegen ihrer vermeintlichen Anspruchslosigkeit und öden Bearbeitung des Trojastoffes nur selten interpretiert wurden, und will beweisen, dass es sich hierbei mitnichten „lediglich um die langweile Bearbeitung eines ohnehin schon langweiligen Textes“ handele. Clerk sehe sich laut Keller mit seiner Übertragung lateinischer Prosa in mittelenglische Stabreime als poetischer Wiederaufbauer Trojas, der zudem vom Untergang der Stadt berichten könne.

Den Abschluss des Bandes, sozusagen das Dach des Troja-Hauses, bildet Bernd Rolings Beitrag, der einen fast zehn Jahre währenden Gelehrtenstreit des endenden 18. Jahrhunderts um die Geschichtlichkeit des Trojanischen Krieges rekonstruiert, der im Umfeld des englischen Antiquarismus ausgetragen wurde. Der berühmte Mythograph und Theologe Jacob Bryant kritisierte die geographische Verortung Trojas anhand von Angaben in den homerischen Epen, womit er eine Flut von positivistischer Forschung freisetzte, die die Ilias und Odyssee sowie auch die Versuche, die kleinasiatische Stadt zu lokalisieren, verteidigten. Roling stellt dabei heraus, dass es in dieser Debatte interessanterweise nur die beiden Möglichkeiten gab, entweder Homer und seine Epen vollkommen abzulehnen oder ihnen vollen Glauben zu schenken.

Wie die Beiträge demonstrieren, findet sich die Metapher vom Dichter als Baumeister und Architekt in sämtlichen literarischen Traditionen des vormodernen Europas: Von den mittellateinischen Trojagedichten, in denen die Ruinen der Stadt nicht nur Ursache und Gegenstand der Klage sind, sondern auch für die Erinnerung und den Ruhm der Poeten stehen, bis zu den späteren volkssprachlichen Dichtern, die sich als Erneuerer und literarische Wiedererbauer des zerstörten Ilions darstellen, faszinierten die Erzählungen vom Trojanischen Krieg die verschiedensten Autoren und ließen sie ihre Versionen der Ereignisse kreieren. Troja bauen zeigt auf, wie basierend auf denselben ‚Baumaterialien‘ die namhaften und anonymen Verfasser diese auf individuelle Weise und mit ihrem jeweiligen dichterischen Können immer wieder neu und anders zusammenfügten.

Das Verdienst dieses Bandes besteht zum einen in der Auswahl und dem Vergleich der unterschiedlichsten bekannten und weniger bekannten Trojatexte sowie in deren Interpretation durch Wissenschaftler*innen aus den verschiedensten Disziplinen, wodurch die Leser*innen einen Eindruck von den vielen Möglichkeiten gewinnen, wie derselbe Stoff je nach historischer Epoche und darin vorherrschenden ästhetischen Vorstellungen umgesetzt, aber auch wie er entgegen diesen nach den persönlichen Ansichten des Autors behandelt werden konnte. Zum anderen zeigt der Band, wie Menschen zu fast allen Zeiten an die Wahrhaftigkeit der in narrativen Ausdrucksformen verewigten und sich immer wieder an die zeitgenössischen Bedürfnisse anpassenden Geschehnisse des Trojanischen Krieges glaub(t)en und glauben woll(t)en. Gerade der letzte Beitrag über die Auseinandersetzung mit diesem Thema in der Neuzeit verdeutlicht komparatistisch zu den vorherigen Arbeiten über die mittelalterlichen Werke, in denen es noch keine der modernen Differenzierung gleichende Grenzziehung zwischen Faktum und Fiktion gab und den antiken Quellen zumeist unhinterfragt geglaubt wurde, welche Bedeutung der ewigen Frage nach Wahrheit und dichterischer Erfindung Trojas zukommt, deren Beantwortung auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Dass der Untergang Ilions die Imagination der Menschen auch weiterhin beschäftigt und beschäftigen wird, wird mit Troja bauen auf eindrucksvolle Weise bewiesen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Anne-Katrin Federow / Kay Malcher (Hg.): Troja bauen. Vormodernes Erzählen von der Antike in komparatistischer Sicht.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2022.
268 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783825348038

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