Gegen die Entzauberung der Welt

Ilija Trojanow hat eine „Gebrauchsanweisung fürs Reisen“ geschrieben

Von Charlotte LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Lamping

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die im Oktober erschienene Gebrauchsanweisung fürs Reisen von Ilija Trojanow kam quasi im richtigen Augenblick heraus, zu einer Zeit, in der die Urlaubsplanungen in vollem Gange sind – für das kommende Jahr oder auch für den Herbst- oder den Winterurlaub in diesem. In seinem Buch nimmt der Autor seine Leser in 12 Etappen an die Hand und erzählt von den eigenen Erfahrungen oder denen Fremder und würzt das Ganze mit Zitaten aus der Literaturgeschichte. Eingefügt sind zuweilen kurze Intermezzi wie beispielsweise ein Bericht über Tipps zum Essengehen oder wie man ein gutes Restaurant findet („Fremde geht durch den Magen“).

Fakt ist: Wir leben in einer Zeit, in der so viel gereist wird wie nie zuvor. Ausschlaggebend dafür sind die Globalisierung, das grundsätzlich steigende Vermögen, das Internet und die damit verbundene Informationsfülle. Zu jeder Zeit lassen sich an (fast) jedem Ort Informationen zum jeweiligen Reiseziel, zu Unterkunft, Sehenswürdigkeiten etc. finden. All diese Faktoren machen das Reise-Vorhaben scheinbar so einfach, unaufwendig und erschwinglich wie nie. Trotzdem können sich 90 Prozent der Menschheit Reisen nicht leisten; es sind fast immer die Reichen, die sich in die Welt der Armen begeben – nicht andersherum.

Trojanow beschäftigt sich mit der Frage, was Reisen überhaupt heißt, jedenfalls ist es mehr „als nur Ortswechsel“. Doch was bedeutet es, wenn man das Zuhause, die Heimat verlässt und in die vermeintliche Fremde aufbricht. In eine Fremde, die zumeist einen anderen, wohl niedrigeren Lebensstandard vorzuweisen hat, als unser eigenes Heimatland. Was suchen wir?

Der Autor erzählt immer wieder von Begegnungen auf seinen Reisen mit Menschen, die den eigentlichen Grund für das Reisen ad absurdum führen: „Der Sinn des Reisens ist mittlerweile auf den Kopf gestellt – anstatt sich der Fremde auszusetzen, bezahlt man viel Geld, um ihr aus dem Weg zu gehen. […] Irritationen, Befremdungen, Irrungen und Wirrungen sollen vermieden werden.“

Der Reisende möchte in der Fremde das Vertraute wiederfinden, das, was ihn nicht irritiert, ihn seine Komfortzone nicht verlassen lässt: Sicherheit, das Erwartbare, das für ihn aufbereitete „Fremde“, das, was konsumierbar ist, ohne sich anstrengen zu müssen.

Entsprechend unterscheiden muss man zwischen den verschiedenen Arten des Reisens, die heute angeboten werden. Die Kategorisierung verdeutlicht bereits, inwieweit „Ortswechsel“ heute kapitalisiert werden und welchen Ansprüchen sie genügen müssen: Da gibt es Individualreisen, Gruppenreisen, Backpacking-Reisen, Bildungsreisen, Pauschalreisen, Wanderreisen, Badereisen, Shopping-Reisen, kulinarische Reisen, Adventure-Reisen, Kreuzfahrten, Sprachreisen und zu guter Letzt – die wahrscheinlich älteste neben der Handelsreise – die Pilgereise.

Indem man sich als Leser einer der Kategorien zuordnet, wird man selber zu einer Masse derer, die eine Erwartungshaltung haben, die eben auch bekommen möchten, was sie suchen, buchen und sich letztlich „erkaufen“. Selbst diejenigen unter uns, die sich als Individualreisende bezeichnen, folgen oft nur einem vermeintlich einzigartigen Reiseweg. Und was da zum Vorschein kommt – der Drang sich abzuheben, das Beste aus einer Reise herauszuholen, die Effektivität –, ist nichts anderes als der Optimierungswille, dem wir im Alltag nur allzu gerne aufsitzen. Dabei geht es doch bei einer Reise um etwas völlig anderes, nämlich „darum, auf Reisen dem alltäglichen Diktat der Optimierung zu entfliehen.“

Dafür müssen wir aber loslassen und uns einlassen auf das, was wir nicht ahnen und wissen können, auf etwas, was wir nicht von vorneherein googeln, verifizieren oder bewerten können. Wir müssen uns in der konkreten Situation hinterfragen und über uns hinauswachsen: „Wahres Reisen setzt ein gewisses Maß an Selbstüberwindung voraus. […] Denn es bedeutet, dass wir uns auf etwas einlassen, von dem wir nicht wissen, wie es ausgehen wird. Dass wir der Fremde zugestehen, uns zu berühren. Uns durchzuschütteln. Das ist Reisen im Sinne der uralten Kulturtechnik des Pilgerns, auf der der Suche nach Erkenntnis und Erhöhung.“

Reisen hat also etwas mit der richtigen Lebensform und -führung zu tun, mit der Art, in der Welt zu sein. Es gehört zum Leben dazu. Denn sobald man „sein“ Land verlässt, ist man ein Fremder.

Trojanows einzelne Kapitel-Etappen beschäftigen sich mit dem, was mehr oder weniger notgedrungen zu einer Reise dazugehört: In ihnen geht es um mehr oder weniger Gepäck, inwiefern es Reiseführer bedarf und überhaupt um die Vorbereitung von Reisen und wie man reisen sollte: ob alleine oder mit anderen zusammen, inwiefern man sich verständigen kann und sollte, die Aneignung von Sprache. Des Weiteren geht es um Erwartungen und Enttäuschungen des Reisens: vermeintliche und festgelegte Höhepunkte als Ziele der Reiseetappen, inwiefern Reisen mühselig sein kann und Risiken birgt, und dass man sich der Langeweile aussetzen soll, das Warten aushalten muss. Trojanow plädiert für ein Reisen zu Fuß und berichtet davon, wie er letztlich dazu kam, nicht mehr auf Reisen zu fotografieren. Ein interessantes Kapitel widmet sich dem Reisen im eigenen Land/Ort, das wir oft vernachlässigen, in der Annahme, dass man dies aufschieben könne und es nichts oder nur wenig zu entdecken gäbe.

Dass das Reisen und der Bericht darüber eine lange literarische Tradition haben, steht außer Frage. Trojanow schließt eines seiner Kapitel, in dem es um die Wahrhaftigkeit eines Werks von  Reiseschriftstellern geht, mit einem Zitat des Rechtsgelehrten und Reisenden Ibn Battuta: „Reisen – es lässt dich sprachlos, dann verwandelt es dich in einen Geschichtenerzähler.“

Reisen macht uns wieder zu Menschen, die in alter oraler Tradition zusammenkommen, um gegenseitig zu berichten, Geschichten zu erzählen, sie zu verkürzen, zu erweitern, zu ergänzen oder auszuschmücken. Dabei geht es nicht unbedingt um Wahrheit, sondern um Wahrhaftigkeit.

Und so schließt diese „Gebrauchsanweisung“, die viel mehr ist als das, denn letztlich sind die Tipps, die man als Leser erhält, nichts, was man anwenden kann, wenn man es nicht wirklich verinnerlicht und versteht, mit der Aussage des Autors:

„Für mich ist das höchste Ideal des Reisens die Veränderung des Reisenden. Reisen, die solchen Ansprüchen genügen, sind aufwendig und anstrengend, sie erfordern Zeit und Mühsal, sie verlangen uns einiges ab. Wir haben den Planten vermessen, die Welt kartiert und den Menschen übergroß gemacht  Alles wird verortet in einem der etablierten Koordinatensysteme. Wir müssen aufbegehren gegen die Entzauberung der Welt. Das Gefühl der Befremdung bleibt auf der Strecke, das Gefühl sich zu verlieren, das Gefühl, nicht zu verstehen. Es entschwindet die existentielle Überraschung“.

Lassen wir uns also bei der nächsten Reise ein auf die guten und schlechten Überraschungen, die Möglichkeit, fehl am Platz zu sein, die Sprachlosigkeit, das Nichtverstehen – aber auch auf die Be- und Verwunderung, die Maßlosigkeit und Schönheit, die Freude des Entdeckertums, die Neugier und das bescheidene Wissen darum, dass 90 Prozent der Weltbevölkerung nicht in der Lage sind, all das genießen zu können.

Letztlich ist das der moralische Anspruch, den dieses Buch erhebt: Wir, die wir uns diesen Luxus leisten können, verpflichten uns zumindest dazu, uns weiterzuentwickeln und nicht in alten Denk- und Lebensmustern zu verharren. Ist das nicht die Ur-Idee des Reisens?

Titelbild

Ilija Trojanow: Gebrauchsanweisung fürs Reisen.
Piper Verlag, München 2018.
208 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783492277198

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