„Yanvalou: Ich grüße Dich, o Erde “

Vom Leben in Haiti, heute

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Damals lieferten sich die Wirbelstürme noch kein Wettrennen und warteten geduldig drei Jahre, bis der letzte zur Erinnerung geworden war, bevor der nächste kam“. Damals, als der inzwischen erfolgreiche Wirtschaftsanwalt Mathurin D. Saint-Fort noch ein kleiner Junge war und im Dorf lebte, damals, als er glaubte, in einer intakten Kleinfamilie arm, aber voller Hoffnungen aufzuwachsen. Viele haben sich inzwischen erfüllt: er lebt in Port-au-Prince, der Hauptstadt, aber er musste dafür einen Preis zahlen. Bewusst hat er sich für das Vergessen entschieden, hat jeden Kontakt zu seiner Vergangenheit gekappt.

Eines Tages aber taucht Charlie bei ihm auf, ein Junge aus seinem Heimatdorf, der nach ein paar Raubüberfällen Schutz vor der Polizei sucht und von Pater Edmond, dem Leiter des Waisenhauses, in dem er lebte, seinen Namen erfuhr. Nun verlangt er Solidarität, im Namen einer Gemeinsamkeit, die von Mathurin längst aufgekündigt worden war. Wie ein Wasserfall redet Charlie unentwegt, erzählt ihm sein Leben, wie sich vier Freunde im Waisenhaus zu einer Gruppe zusammenfanden, wie sie gemeinsam von einem besseren Leben träumten und dafür Geld mit kleineren Diebstählen und Überfällen sparten, wie sie die gesamte Beute bei einer jungen Frau, Schwester von Bandenmitglied Nathanaёl, sorgfältig versteckten, bis genug vorhanden sei, damit jeder einen Neustart wagen könne, wenn sie mit 16 das Heim verlassen müssen. Charlie redet von Nathanaёl und von den beiden Tunten, Filidor und Gino, berichtet von ihrem harten Schicksal, dem alltäglichen Kampf – und wir bewundern diesen Überlebenswillen. Mathurin D. wird wieder (kreolisch) Dieutor, wie er im Dorf gerufen wurde. Die Vergangenheit kehrt machtvoll zurück, der Anwalt kann sich nicht mehr entziehen, die „Leute vom Land halten ihre Versprechen“. Charlies Worte brennen sich ihm ein: „Wenn du der Sohn von niemandem bist und kein Land mehr hast, musst du dich immer entschuldigen, dass du bist, wo du bist, dass du lebst. Bei den Flüchtlingen muss es so ähnlich sein, wenn sie in ein Land kommen und man die Grenze für sie öffnet“.

Nathanaёl hat sich radikalisiert, will die ungerechten Verhältnisse ändern, weil er sich in ein junges Mädchen aus guter Familie verliebt hat, die viele Bücher las und von gewaltsamen Veränderungen redet. Seinen Kumpanen wird er fremder, sie leiden, aber die Freundschaft bleibt erhalten. Am vereinbarten Tag, als sie das Geld gerecht teilen wollen, kommen Charlie mit Dieutor, Filidor und Gino, kommt Nathanaёl in Begleitung des Mädchens und einem ebenfalls wohlhabenden Jungen in der Hütte der Schwester zusammen. Ein tragischer Zwischenfall, ein Schuss, der irrtümlich fällt, trifft Charlie – Dieutor kann ihn nicht retten, Nathanaёl verzweifelt und seine Schwester, in Wirklichkeit seine jugendliche Mutter, versucht ein weiteres Drama zu verhindern.

Dieutor wird wieder Matharin, aber Charlies Schicksal lässt ihn nicht mehr los. Er überrascht sich dabei, wie er Worte und Gedanken von ihm übernimmt, zur besorgten Verblüffung seines Chefs, auch nimmt er Kontakt zu seiner Jugendliebe Anne im Dorf auf, inzwischen Lehrerin. Briefe kreuzen sich, er erfährt, dass sie vom Ausbau einer Sekundarschule träumt und Feste mit den Trommlern im Dorf organisiert, um die Traditionen zu wahren. „ Weisst du, was das Wort Yanvalou bedeutet? Ich grüße dich, o Erde“. Der Anwalt plant, einmal für drei Tage zurückzukommen, Papiere zu regeln, aber wer wird er dort sein: Mathurin oder Dieutor?

Lyonel Trouillot, 1956 in Port-au-Prince geboren, wo er auch heute lebt, ist ein poetischer und zugleich engagierter Autor. Wie es ihm gelingt, in wenigen Sätzen das trostlose Drama seines  geschundenen Landes einzufangen, in einprägsamen Bildern die Schönheit und Würde der armen Menschen zu zeigen, das ist großartige Literatur. Atemlos liest man diese Geschichte, die aus vier Perspektiven erzählt wird, so dass der Leser unterschiedliche Facetten kennenlernt. Der Zynismus der Mächtigen, die Betrügereien und Lügen der Reichen, die gnadenlose Missachtung der  Armen, die Winkelzüge der Anwaltskanzleien, die nicht immer überzeugenden Hilfen der NGOs – auf wenigen Seiten gelingt es Trouillot, ein Bild Haitis zu zeichnen, an dem jeder nur verzweifeln möchte. Und doch zeigt er die Menschlichkeit auf: das einzige gemeinsame Band, auch wenn die Götter dieses Land mit mehr biblischen Plagen als jeden anderen Ort der Welt überschütten: 2010 das verheerende Erdbeben, dann die von Helfern eingeschleppte Cholera, jetzt Wirbelsturm Matthew …

In diesem Kontext Kreativität, Hoffnung und Würde zu bewahren, mitreißend und poetisch erzählen zu können, die Leser trotz der düsteren Wirklichkeit in Bann zu schlagen, wie es Lyonel Trouillot gelingt, der bereits viele Preise für sein Werk bekommen hat: das hat Weltniveau.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Lyonel Trouillot: Yanvalou für Charlie. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2016.
176 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783954380664

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