Donbass, home sweet home

Oleksij Tschupa erzählt in „Märchen aus meinem Luftschutzkeller“ von gewöhnlichen Menschen und ihren Träumen

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor Wohnung 12 in einem solide gebauten Haus aus der Stalinzeit im ostukrainischen Makijiwka liegt ein Fußabtreter mit der Aufschrift „Home Sweet Home“. In zwölf Geschichten erzählt Oleksij Tschupa in Märchen aus meinem Luftschutzkeller von den Menschen, die hier leben. Hinter jeder Tür spielt sich anderes ab. Doch der Autor hat den Stoff gebündelt und verdichtet: Die Bewohner kennen sich, und das Geschehen beschränkt sich auf einen einzigen heißen Julitag. Wie durch ein Prisma betrachtet, schildert Tschupa einen in sich geschlossenen Mikrokosmos: einen „sozialen Brennpunkt“, multiperspektivisch beleuchtet aus der Sicht der Mieter und Eigentümer, aber auch ihrer Gäste.

Vom Konflikt in der Ostukraine ist in den deutschsprachigen Medien mittlerweile seltener die Rede. Dafür ist die Region Donbass auf unserer literarischen Landkarte erschienen. Serhij Zhadan hat sich in seinen neueren Gedichten sowie im Roman Internat dem Krieg zugewendet. Und zuletzt vermochte Andrej Kurkow mit Graue Bienen zu überzeugen: Sein Buch ist ein berührender, beinahe kammerspielartiger Bericht über einen Imker, der versucht, mit seinen Bienenvölkern dem unsicheren Niemandsland zwischen den Frontlinien zu entkommen.

Wer nun aber glaubt, auch Oleksij Tschupas Roman Märchen aus meinem Luftschutzkeller handle von den kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine, sieht sich trotz des Titels getäuscht. Der Autor verschleiert dies auch gar nicht. Wie er im Nachwort einräumt, ist der bewaffnete Konflikt erst ein paar Tage nach Abschluss der Arbeit am Buch ausgebrochen. In den Erzählungen ist deshalb der Krieg selbst noch kein Thema. Warnsignale gäbe es darin freilich genug. Aber – so Tschupa weiter – die Bewohner des Hauses seien sich dann eben hinterher im Luftschutzkeller begegnet. Dieser literarische Kniff ermöglicht es, Tschupas Buch noch einmal anders zu lesen: Das Wissen um den bald ausbrechenden Krieg verleiht den Geschichten nämlich einen breiteren Resonanzraum. Sie erhalten dadurch eine existentielle, tragische Note: Wer den Krieg überstehen wird, ist ungewiss.

Zu Märchen werden die Erzählungen möglicherweise gerade deswegen: Es war einmal eine Zeit vor dem Krieg, als die Menschen einfach nur ihr Leben lebten. Meist eher schlecht als recht, doch sie existierten. Später aber wird der Krieg alle durcheinander schütteln, manches nivellieren und zerstören. Die früheren kleinen Bedürfnisse und großen Sehnsüchte der Hausbewohner wirken im Rückblick wie aus der Zeit gefallen. Sie haben ihre Relevanz mit einem Schlag verloren – denn nun lautet die Priorität zu überleben. Im Nachhinein wirken selbst die einstigen Träume der Menschen märchenhaft: Wunder schienen zumindest nicht ausgeschlossen.

Einiges spricht Oleksij Tschupa in seinen Geschichten an, und vieles davon kommt düster daher: Gewalt, Trunkenheit, Geldangelegenheiten, Korruption, Alter und Tod. Dazwischen keimt aber auch die eine oder andere Hoffnung, es gedeiht neue Liebe, es öffnen sich Fenster oder Türen in eine andere Zukunft. Manche wichtigen Themen der ukrainischen Gegenwart nimmt Tschupa in seinem Buch auf. Es geht um Erinnerungspolitik, um nation building oder die Identität, wie sie etwa in der ukrainischen Literatur verhandelt wird. Gerade in diesen Bereichen beweist der Autor Sinn für Humor und Gespür für das Groteske, das dem Alltäglichen innewohnt. Köstlich ist etwa die Episode, wo ein paar Maulhelden aus lauter Langeweile eine Leninstatue stürzen. Allerdings versanden bald darauf die Diskussionen darüber, für wen man an der nunmehr leeren Stelle ein neues Denkmal hinstellen könnte. Deshalb entschließen sich die Freunde kurzerhand, Lenin wieder aufzurichten. Diese Geschichte, Wohnung 19. Good bye, Lenin, ist ein eigenwilliger Kommentar Tschupas auf die gegenwärtig laufende „Dekommunisierung“ in der Ukraine. Sie legt zugleich die Absurdität mancher politischer Prozesse bloß. Solche und ähnliche Begebenheiten lockern die ansonsten dunkle Grundierung der dargestellten Welt auf.

Immer wieder interessiert sich Tschupa für die Versuche der Hausbewohner, aus ihrem Leben auszubrechen. Natalka aus Wohnung 18 schleicht sich eines Nachts heimlich davon und lässt ihren Mann Walera und den siebenjährigen Sohn Wlad allein zurück. Diese ahnen davon bisher nicht das Geringste. Iryna, eine ältere Frau, die im Grunde genommen nur noch auf den Tod wartet, hört aus dem Zimmer ihrer Enkelin geheimnisvolle Musik. Die Melodien der isländischen Gruppe Sigur Rós rühren Iryna an. Sie beginnt von der fernen Insel zu träumen. Wird dies vielleicht ihre letzte Reise werden?

Oleksij Tschupas Märchen aus meinem Luftschutzkeller überzeugen durch eine emotionale Bandbreite, die von Passivität und Depression über Zuversicht und Aktionismus bis hin zu Euphorie reicht. Damit einher geht eine Stilmischung, die zahlreiche Register abdeckt: Manches ist ironisch und witzig, anderes kommt zärtlich und einfühlsam daher. Dann wieder dominiert das Absurde oder gar ein brutaler Jargon. Da und dort findet sich auch Unheimliches, Magisches: In Wohnung 14 spukt es nämlich. Darin kann man eine Reverenz an Nikolai Gogols ukrainische Schauergeschichten erblicken. Alles zusammen erschafft ein schillerndes sprachliches wie auch thematisches Mosaik, das aber durch die gegebene Einheit von Ort und Zeit stets zusammengehalten wird. Offen bleibt schließlich die Frage, ob das Haus in Makijiwka seinen Bewohnern überhaupt Heimat sein kann. Es wäre jedenfalls ein bittersüßes Zuhause.

Titelbild

Oleksij Tschupa: Märchen aus meinem Luftschutzkeller. Roman.
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe.
Haymon Verlag, Innsbruck 2019.
206 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783709972533

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