Künstliche Intelligenz ‚avant la lettre‘

Alan M. Turing und die Frage nach der Denkfähigkeit von Maschinen

Von Wolfgang BühlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Bühling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich Hauser (1901–1955) publizierte 1948 in der in Boston erscheinenden Heftreihe Amazing Stories die Science-Fiction-Story The Brain. Die Handlung: Ein gigantisches Elektronengehirn beginnt ein Bewusstsein zu entwickeln und sich zu vernetzen. Es droht die Versklavung der Menschheit, die nur durch die – schließlich erfolgte –  Zerstörung der Anlage abgewendet werden kann. Mit dieser Vision nahm Hauser die Ängste vorweg, die heute zunehmend mit dem 1955 von John McCarthy geprägten Begriff ‚Künstliche Intelligenz‘ verbunden sind. Hauser, der in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre eine Farm im Staat Missouri betrieb (Heinrich Hauser, Meine Farm am Mississippi, Berlin 1950) bezog die Anregung zu seinem Roman zweifellos aus der amerikanischen Presse, in der im Februar 1946 der während des Kriegs entwickelte Großrechner ENIAC der amerikanischen Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Der Logiker und Philosoph Gotthard Günther (1900–1984) trug zur Diskussion das Essay Can Mechanical Brains Have Consciousness? bei, in dem er im Übrigen auf ENIAC ausdrücklich Bezug nimmt und das erstaunlicherweise in der Januar-Ausgabe 1953 des ‚pulp-magazines‘ Startling Stories erschien. (Deutsche Übersetzung ‚Können mechanische Gehirne Bewusstsein haben?‘ von Almut Weinland, in: Heinrich Hauser, Gigant Hirn, kommentierte Neuherausgabe, Hamburg 2024).

Der hochbegabte Alan M. Turing, 1912 in Wilmslow, Cheshire geboren, studierte Mathematik am King’s College und wurde 1939 an der Princeton University promoviert. Er war federführend an der Entschlüsselung des deutschen ENIGMA-Codes beteiligt, die den Zweiten Weltkrieg entscheidend verkürzte. Bedingt durch strenge Geheimhaltung in der Nachkriegszeit – die Existenz des verwendeten Großrechners Colossus wurde erst 1970 bekannt gegeben – konnte Turings diesbezügliches Verdienst erst posthum gewürdigt werden.

Turing hat 1950 als erster und aus Sicht des erfahrenen Kybernetikers die Frage gestellt, ob Maschinen denken können und er muss zweifellos als der naturwissenschaftliche Pionier auf diesem Gebiet gelten. Auch er befasste sich mit dem Phänomen der Künstlichen Intelligenz bereits fünf Jahre vor der Prägung dieses Begriffs durch McCarthy. Vorliegender Band beinhaltet den englischen Originalaufsatz Computing Machinery and Intelligence aus der 1876 begründeten philosophischen Fachzeitschrift Mind Nr. 236 sowie eine Übersetzung davon ins Deutsche.

Turings Beitrag in Mind beginnt mit der saloppen Einleitung: „I propose to consider the question, ‚Can machines think?‘“. Ausgangspunkt für seine Betrachtungen ist das modifizierte ‚Imitation Game‘, später als ‚Turing Test‘ bekannt geworden: Ein Fragesteller kommuniziert, etwa über Tastenbefehle, mit für ihn nicht sichtbaren Partnern, von denen der eine ein menschliches Wesen, der andere ein Computer ist. Turings Postulat ist nun: Wenn der Fragesteller anhand der Antworten zwischen Mensch und Computer nicht unterscheiden kann, wäre die ‚Denkfähigkeit‘ der beteiligten Maschine belegt.

Turing hat in diesem Aufsatz nicht nur die Methodik des besagten Versuchs dargelegt und die beteiligten Maschinen (Computer) charakterisiert. Für den Beitrag in einer philosophischen Fachzeitschrift war es naheliegend, sich auch mit zu erwartenden Einwänden gegen das Postulat der Möglichkeit einer denkenden Maschine auseinanderzusetzen. Bemerkenswert ist dabei, dass Turing dem ‚theologischen Einwand‘ den ersten Platz einräumt: „Denken ist eine Funktion der unsterblichen menschlichen Seele. Gott verlieh jedem Mann und jeder Frau eine unsterbliche Seele, nicht aber anderen Lebewesen oder Maschinen. Daher kann kein Tier oder keine Maschine denken.“

Turing resümiert am Ende der Befassung mit insgesamt neun potenziellen Einwänden und deren Erwiderung: „We may hope that machines will compete with men in all purely intellectual fields. But which are the best ones to start with?“. Abschließend skizziert Turing Visionen von ‚lernenden Maschinen‘, Überlegungen, die nachfolgende Generationen von Kybernetikern beeinflusst haben. Interessanterweise schlägt Turing vor, hierzu die Entwicklung des menschlichen Gehirns im Sinne eines ‚Kind-Programms‘ als Vorbild zu nehmen.

Die Quellenedition wird begleitet von einem Nachwort aus der Feder von Achim Stephan und Sven Walter, welches sich aus der Retrospektive mit Turings Postulaten befasst. Ein facettenreicher Kommentar, der mit einer Kurzbiografie und einer Würdigung der Bedeutung von Turings Werk beginnt und unter anderem auf die besagten ‚neun Einwände‘ aus heutiger Sicht eingeht sowie den Turing-Test kritisch beleuchtet.

Die mit großer Sorgfalt ausgeführte Edition beinhaltet einen Anmerkungsapparat zum deutschen Text, ebenso Verzeichnisse von Turings Publikationen und von weiterführender Literatur.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Alan Turing: Computing Machinery and Intelligence. Können Maschinen denken?
Achim Stephan und Sven Walter.
Reclam Verlag, Stuttgart 2023.
205 Seiten, 8,80 EUR.
ISBN-13: 9783150144640

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