Übersetzen aus dem Georgischen

Ein Werkstattbericht

Von Anastasia KamarauliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anastasia Kamarauli

Die Anfänge

Meine übersetzerische Tätigkeit begann ich 2009 – damals war ich gerade mal 16 Jahre alt – eher aus Not beziehungsweise Zufall als aus Überzeugung oder als bewusste Entscheidung. Damals gründete sich auf Initiative von Frau Manana Tandaschwili, die an der J. W. Goethe-Universität in Frankfurt am Main Kaukasische Sprachen lehrt und 2005 bereits das Georgische Kulturforum initiierte, der Literatursalon EUTERPE. Dieser besteht aus einer Gruppe von Literaturinteressierten einerseits und Georgiern andererseits (wobei der Salon bald darauf auch deutsche Mitstreiter gewinnen konnte) – sie alle vereint ein Wunsch: die zeitgenössische, georgische Literatur im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen.

Das georgische Kulturforum hatte 2008 gegen den Augustkrieg (auch Kaukasuskrieg; Russland bombardierte Teile Georgiens, besetzt georgisches Staatsgebiert und machte mehr als 20.000 Menschen zu Flüchtlingen im eigenen Land) demonstriert. Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2008 waren einige der bekanntesten georgischen Schriftsteller nach Frankfurt gereist, mit denen wir natürlich auch über die politische Situation sprachen und so war die Idee geboren, uns mithilfe der Literatur diesem heiklen Thema zu nähern. Denn eine politische Debatte war kaum möglich, so emotional war die Situation, und sogar wenn es möglich gewesen wäre, so hätte man kaum neutral darüber sprechen können. Literatur, Kultur im Allgemeinen ist hingegen unparteiisch(er) und dadurch geeigneter für den Dialog. Am 20. Mai 2009 veranstalteten wir einen Literaturabend in der Romanfabrik unter dem Titel „Georgische Gegenwartsliteratur“. Keine zwei Jahre später kamen die Texte der damals anwesenden Autoren in einer Anthologie heraus, die denselben Titel trägt (Georgische Gegenwartsliteratur, Reichert Verlag, 2010).

Die Veranstaltung im Mai 2009 sollte der Startpunkt eines Prozesses werden, an dessen Ende der Gastlandauftritt Georgiens auf der Frankfurter Buchmesse 2018 stehen würde. Für diese Veranstaltung suchte Frau Tandaschwili einige Texte aus, aus denen Passagen auf Deutsch gelesen werden sollten. Da wir in finanzieller Hinsicht recht beschränkt waren, richtete sie sich mit der Bitte an mich – „Du liest doch so gerne, könntest du nicht einen Blick darauf werfen und sie grob ins Deutsche übertragen?“ Und so begann ich zu übersetzen.

Das Format gefiel uns gut und auch bei den Gästen kam es gut an. Wir machten noch einige weitere Veranstaltungen und merkten schon bald, dass die Literatur uns völlig neue Wege des interkulturellen Dialogs eröffnete. Und so dauerte es nicht lange, bis wir neben dem Georgischen Kulturforum eine gesonderte Einrichtung gründeten – den Literatursalon EUTERPE. Seitdem bin ich dessen Mitglied, habe an über 100 Veranstaltungen teilgenommen, gedolmetscht, moderiert und übersetzt und bin auf diese Weise tief in die georgische Literatur eingetaucht. Nach knapp zehn Jahren sind auf Initiative des Salons 18 Bücher georgischer Autoren und Autorinnen erschienen – bei neun davon konnte ich zu meiner großen Freude mitwirken. Hinzu kommen noch mehrere Probeübersetzungen, Theaterstücke und Gedichte, die auf ihre Veröffentlichung warten.

Was das Übersetzen für mich bedeutet

Ich bin 2001 mit meiner Familie nach Deutschland gekommen. Zwar war ich noch recht klein, erst sieben Jahre alt, doch das Erlernen der deutschen Sprache fiel mir dennoch nicht ganz leicht. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie befremdlich ich es fand, dass es für einen Buchstaben im Deutschen gleich zwei Schreibweisen gab – einmal in groß und einmal in klein – und dass es Artikel gab, davon auch noch drei an der Zahl. Alles Besonderheiten, die ich von meiner Muttersprache nicht kannte. Ich hatte einen sehr engagierten Lehrer in der Grundschule, der sich sehr bemühte, mir beim Erlernen der deutschen Sprache zu helfen. Eines Tages drückte er mir das Kinderbuch Krabat in die Hände. Ich begann zu lesen … und hörte nicht mehr auf.

In den nächsten Jahren habe ich Bücher regelrecht verschlungen, manchmal auch mehrere zugleich – vorzugsweise klassische Literatur. Über die Literatur und über das Lesen lernte ich Deutsch erst richtig sprechen – ich verdanke dem Lesen somit sehr viel. Auch jetzt antworte ich auf die Frage, wie man am besten eine Sprache lernt: mit „Lesen, lesen, lesen!“. Das frühe Fortgehen aus der Heimat und die stetige Distanz führten dazu, dass ich mir inzwischen eingestehen muss, dass Deutsch zu meiner eigentlichen Muttersprache geworden ist. Ein Umstand, der mich einerseits fröhlich stimmt, andererseits aber auch traurig macht.

Deswegen hat das Übersetzen für mich eine sehr wichtige, sehr persönliche Bedeutung. Es ermöglicht mir, auch über Tausende von Kilometern hinweg engen Kontakt zu meiner Heimat zu halten, da ich dadurch meine Muttersprache Georgisch nicht vergesse und andererseits meine „neue“ Muttersprache Deutsch besser kennenlerne. Übersetzen heißt, mit Sprache und mit Worten zu spielen, in sie einzudringen und zu verinnerlichen. Das Spiel mit Worten und mit der Sprache bedeutet in diesem Kontext sehr viel mehr als das Wort eigentlich ausdrückt. Eine große Liebe zur Literatur reicht alleine nicht aus, um gerne zu übersetzen – man sollte auch Freude am Schreiben haben. Mir hat einmal jemand im Spaß gesagt, Übersetzen sei etwas für „faule Schriftsteller“, weil man sich nicht selbst etwas ausdenken muss. Jedem der meint, Übersetzen sei eine einfache Aufgabe, dem kann ich nur empfehlen, es selbst zu versuchen.

Das Übersetzen aus dem Georgischen ins Deutsche

In der Regel begannen und beginnen meine Übersetzungen noch immer im Literatursalon. Wir suchen ständig nach neuen talentierten literarischen Stimmen aus Georgien. Haben wir ein interessantes Buch gefunden, beginnt die Planung für eine Literaturveranstaltung. Dafür müssen einige Seiten übersetzt werden, diese dienen als Grundlage für die Gespräche mit den Verlagen. Viele meiner Probeübersetzungen wurden so zu einem veröffentlichten Titel. Inzwischen bekomme ich aber auch direkt Anfragen, in den letzten zwei Jahren sogar mehr als mir lieb ist. Die Nachfrage ist aufgrund des Ehrengastauftrittes Georgiens enorm gestiegen, somit haben alle Übersetzer und Übersetzerinnen (wobei man zugeben muss, dass es sich hauptsächlich um Übersetzerinnen handelt), die aus dem Georgischen ins Deutsche übersetzen, in den letzten Jahren und Monaten alle Hände voll zu tun gehabt, damit das deutschsprachige Publikum in den Genuss georgischer Literatur kommen kann. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: In den letzten zehn Jahren wurden über 200 Titel übersetzt, alleine seit 2017 sind es über 100 Titel.

Schaut man sich die Neuerscheinungsliste georgischer Titel an, fallen bei den Angaben zur Übersetzung immer wieder dieselben Namen auf. Man kann sagen, dass der „harte Kern“ aus circa fünf bis sieben Übersetzerinnen besteht, denen die deutschen Leser die reiche Auswahl an georgischen Titeln zu verdanken hat. Literarisches Übersetzen lässt sich nicht wirklich erlernen, es hat meiner Meinung nach viel mit „Learning by doing“ zu tun und, wie bei so vielen anderen Dingen auch, lernt man nie aus. Wenn ich heute auf meine Übersetzungen zurückschaue, dann meine ich eine gewisse Entwicklung zu erkennen, worüber ich mich sehr freue. Die immer wieder stattfindenden Übersetzerwerkstätten sind besonders hilfreich. Ich habe bereits an vier teilgenommen und war immer wieder begeistert vom Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen. Es ist faszinierend, zu sehen, wie ein einfacher Satz von den jeweiligen Übersetzern völlig unterschiedlich übersetzt wird und wie man manchmal stundenlang über ein einziges Wort streiten kann. Diese Momente lassen einem bewusst werden, dass Literaturübersetzung nicht einfach ‚bloßes Übersetzen‘ ist.

In den letzten Jahren hat dieser Job an Anerkennung gewonnen, was einerseits darauf zurückzuführen ist, dass die Übersetzer selbst aus dem Schatten hervortreten und dass Literaturinstitutionen die Rolle und die Bedeutung der Übersetzer stärker hervorheben. Bei der Eröffnungszeremonie der Buchmesse 2017, bei der Frankreich Gastland war, hob Präsident Emmanuel Macron gesondert die außerordentliche Leistung von Übersetzern hervor – zu Recht, denn ohne ihre Arbeit könnte man die Welt nicht „erlesen“. Wir Übersetzer sind in gewisser Hinsicht auch Autoren, Autoren eines eigenen Textes mit dem kleinen Unterschied, dass wir eine Vorlage in einer anderen Sprache haben.

Der Übersetzungsprozess

Der Übersetzungsprozess teilt sich in mehrere Etappen. Zuerst liest man das Buch, versucht ein Gefühl für den Text und den Stil des Autors zu bekommen. Bei diesem ersten Durchgang sollte man sich auch schon Notizen machen, Stellen markieren, die man nicht verstanden hat und sich eventuelle Fragen aufschreiben. In der Regel erkennt man die „problematischen“ Stellen nicht gleich beim Lesen, vieles taucht erst beim eigentlichen Übersetzen auf, sodass man für einen Text, der sich „super lesen lässt“, manchmal doch länger braucht als gedacht.

Im zweiten Schritt beginnt man mit dem Übersetzen – Satz für Satz. Gerade der Anfang, die ersten 20 bis 30 Seiten sind wichtig. Denn auch beim Lesen ist der erste Eindruck oft entscheidend, ob man die Lektüre auch zu Ende bringt. Oft braucht man für ebendiese ersten Seiten besonders viel Zeit. Am Anfang ist es auch nicht so leicht, den Ton des Autors zu treffen. Man braucht erst eine Weile, bis man den Stil des Autors verinnerlicht hat, und so ist es nicht ungewöhnlich, dass man zum Schluss an den Anfang zurückkehrt und ihn nachbearbeitet.

Am Ende des ersten Übersetzungsdurchganges, bei dem man sich eng an das Original hält, hat man eine Rohübersetzung. Es ist eine erst grobe Fassung, die vor allem dazu dient, den „Inhalt zu übertragen“. Vieles ist noch rot markiert, unterstrichen oder mit Kommentaren versehen. Wenn möglich, sollte man an dieser Stelle den Autor konsultieren und die markierten Stellen mit ihm durchgehen: Was genau hast du hier gemeint? Könnte man das so ausdrücken? Und so weiter. Hat man diese Informationen, setzt man sich wieder an den Schreibtisch, geht den Text durch und bessert ihn nach.

Im Anschluss folgt der zweite Durchgang – jetzt geht es darum, den Text stilistisch zu bearbeiten und ihn flüssiger zu machen. Oft blättert man dann in Lexika und Wörterbüchern, grübelt über Synonyme oder recherchiert weiter. Nach dem zweiten Durchgang sollte nicht nur der Inhalt, sondern auch der Stil übertragen sein (oft feilt man aber noch bis zum Schluss am Stil).

Nun im dritten Durchgang lege ich das Original weg und konzentriere mich nur noch auf den deutschen Text. Jetzt ist es für mich wichtig, zu schauen, dass der Text auf Deutsch „gut sitzt“. Die zentralen Fragen dabei sind: Ist alles verständlich? Liest es sich gut? In diesem letzten Durchgang übersetzt man eigentlich nicht mehr, sondern bearbeitet nur noch den Ausgangstext. Sicherlich kann man das Bearbeiten in die Länge ziehen, doch irgendwann kommt der Moment, an dem man sagen muss: „Schluss! Fertig!“ Wenn nicht, ist meiner Meinung nach die Gefahr groß, dass man den Text „zu Tode bearbeitet“. Ich bin mir sicher, auch Autoren fällt es schwer, den letzten Punkt zu setzen, doch nach solch einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Text wird man „textblind“ – dann ist die Zeit gekommen, Abstand vom Text zu nehmen und ihn dem Lektor zu schicken.

Der Lektor sieht den Text aus der Sicht eines geschulten Lesers und kann auf die Stellen aufmerksam machen, die noch unverständlich, sperrig oder unschön sind. Er kann dadurch diejenigen Fehler korrigieren (abgesehen von der Rechtschreibung), die einem im Sog der Übersetzung entgangen sind. Nach dem ersten Lektorat bekommt man den Text mit allerlei Kommentaren und Verbesserungsvorschlägen zurück, die man dann einzeln durchgeht. Als Übersetzer muss man nicht bei allem einer Meinung mit dem Lektor sein, es ist üblich, dass man über die jeweiligen Passagen oder Wörter diskutiert und manchmal auch streitet. Ist man das erste Lektorat durchgegangen, geht es zurück an den Lektor, der dann noch einmal drüberschaut. Im Anschluss daran bekommt man das zweite Lektorat; im Idealfall „stimmt“ dann alles. Nach diesem Ping-Pong-Spiel empfinde ich die endgültige Abgabe der Übersetzung als besonders befreiend. Man kann endlich loslassen und das ständige Grübeln (manchmal auch bis in den Schlaf hinein) darüber, welches Wort oder welche Formulierung denn nun am besten passt, hat endlich ein Ende. Nach einigen Wochen kann man sich dann über das fertige Buch freuen – wenn man es das erste Mal in der Hand hält, fühlt man fast so etwas wie mütterlichen Stolz auf sein „Baby“.

Besonders spannend wird es, wenn sich der Text mit etwas befasst, mit dem man selber noch nicht zu tun hatte – zum Bespiel ein technischer Bereich, eine andere Kultur, eine andere Geschichtsepoche. Wenn das der Fall ist, sollte man sich darauf gefasst machen, dass man viel Zeit fürs Recherchieren brauchen wird, denn es gibt (insbesondere im Deutschen) für alles einen bestimmten Begriff. Ich bin der Meinung, dass diese Recherchearbeit entscheidend ist, ob der Text im Anschluss authentisch wirkt oder nicht. Den Aufwand, den man damit hat, sollte allerdings nicht unterschätzt werden – je nach Text und Thematik darf man sich nicht wundern, wenn man den ganzen Tag am Computer sitzt und am Abend gerade einmal ein oder zwei Seiten geschafft hat. Besonders frustrierend kann es werden, wenn es sich um Begriffe handelt, die es nur in einem bestimmten Kulturraum gibt und die sich nicht direkt übertragen lassen. In diesem Fall muss man sich überlegen, ob man den Begriff umschreibt und eventuell auch erläutert, oder ob man ihn übernimmt und eine Fußnote setzt (wobei man bei Belletristik eher versucht, das zu vermeiden). In solchen Fällen kommt oft der Lektor zur Hilfe.

Letzten Endes kann man dieses Prozedere nicht pauschalisieren – wahrscheinlich gibt es so viele Herangehensweisen und Vorgehensweisen wie es Übersetzer gibt. Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Übersetzen ist oft eine einsame Tätigkeit, man sitzt bis spät in der Nacht am Schreibtisch, grübelt vor sich hin, blättert, recherchiert und hämmert in die Tasten – so geht das über Monate und irgendwann hält man ein Buch in der Hand. Erst in diesem Moment begreift man wirklich, was man geleistet hat.

Der Austausch mit den Autoren ist wichtig – wenn auch nicht immer einfach. Ich hatte das große Glück, mit einigen der bekanntesten Schriftsteller der zeitgenössischen Literatur zusammenzuarbeiten: Lasha Bugadze, Dato Turaschwili, Beso Chwedelidze, Bassa Dschanikaschwili, Lascha Tabukaschwili, Zaza Burchuladze, Aka Morchiladze, um nur einige zu nennen. Man lernt die Autoren über ihre Texte und deren Übersetzung von einer sehr spezifischen, ja fast schon intimen Seite kennen. Man dringt im Übersetzungsprozess in ihre Gedankenwelt ein und ergründet ihr Inneres. Aber manchmal entsteht beim Lesen und Übersetzen des Textes ein völlig falsches Bild vom Autor. Ich hatte diese Erfahrung mit Zaza Burchuladze – einem in Georgien sehr bekannten, skandalösen Autor –, dessen Buch Adibas ich übersetzt habe. Für georgische Verhältnisse war das Buch äußerst explizit, vor allem die darin beschriebenen Sexszenen. Ich habe eine exzentrische Person à la Salvador Dalí erwartet, doch bei unserem ersten Treffen war ich überrascht, wie höflich, bescheiden und zuvorkommend der Autor war.

Es ist angenehm, wenn man immer wieder mit den gleichen Autoren zusammenarbeiten kann. So schafft man es, den spezifischen Stil des jeweiligen Autors immer weiter zu „perfektionieren“. Gleichzeitig ist es aber auch aufregend, sich an neue Texte heranzutrauen, auch an solche, von denen man glaubt, sie seien zu schwierig – es sind genau diese Texte, an denen man als Übersetzer wächst.

Tendenziell meine ich über die letzten Jahre hinweg drei Autoren-Typen erkennen zu können.

1. Autoren, die auf Handlung setzen: Der Text wird von der Handlung getragen – beim Übersetzen liegt dementsprechend darauf der Fokus. Dato Turaschwili zum Beispiel zähle ich zu diesen Autoren. Er schreibt über Historisches, Politisches, Soziales – seine Sprache ist klar und deutlich, er ist ein Geschichtenerzähler. Diese Art der Texte empfinde ich als einfacher (damit ist nicht „einfach“ gemeint!) zu übersetzen.

2. Autoren, die auf Sprache setzen: Der besondere Reiz des Textes liegt im Stil, dem sich der Autor bedient. Dadurch wird der Übersetzungsprozess schwieriger, weil es manchmal sogar auf jedes einzelne Wort ankommt. Man muss zuallererst ein Gefühl für den Stil oder den Ton des Autors bekommen und versuchen, zu verstehen, welche Wirkung dieser Stil auf den Leser hat. Dann muss man versuchen, diesen Stil ins Deutsche zu übernehmen oder auch zu imitieren, und gleichzeitig immer im Hinterkopf behalten, dass der übertragene Stil dieselbe Wirkung im Deutschen haben muss wie im Original. Ist der Stil beispielsweise opulent, gleichzeitig der Text aber gut zu lesen, so sollte man versuchen, diese Opulenz ebenfalls ins Deutsche zu übertragen, ohne dadurch die Sätze allzu sehr zu verschachteln.

3. Dann gibt es noch die Autoren, die auf Sprache und Inhalt setzen. In einem solchen Fall kann sich das Übersetzen als äußerst anstrengend erweisen. Die Erfahrung habe ich bei Chatuna Tavdgiridzes Der Fisch mit zwei Schatten gemacht (Wieser Verlag 2018) – sowohl Handlung als auch Stil der Autorin sind äußerst komplex. Es handelt sich dabei um einen modernen georgischen, philosophischen Roman, der im Stil des magischen Realismus geschrieben ist. Er strotzt nur so vor Metaphern, Allegorien und allerlei Bezügen zu Weltkulturen und ihren Mythologien. All das musste so ins Deutsche übertragen werden, ohne dass der Text dadurch unlesbar werden oder etwas von seiner Komplexität verlieren würde. Der enge Austausch mit der Autorin hat mir bei der Arbeit sehr geholfen. 

Eines der großen Probleme beim Übersetzen ist die fehlende Lektoratskultur in Georgien – sehr oft ist man leider gezwungen, nicht nur den Text zu übersetzen, sondern ihn vorher zu lektorieren. Es ist erstaunlich, wie viele Fehler und Ungereimtheiten man entdeckt, wenn man einen Text übersetzt – die meisten davon bleiben dem Leser verborgen. In diesem Fall muss man sich immer fragen, was kann ich, beziehungsweise was darf ich als Übersetzer? Wie sehr darf man in den Text eingreifen und welches Recht hat man als Übersetzer gegenüber dem Autor? Das große Glück bei zeitgenössischer Literatur ist, dass die Autoren in der Regel noch am Leben sind und man sie direkt zu den jeweiligen Textstellen befragen kann. Doch da die Autoren meistens des Deutschen nicht mächtig sind, können sie einen nur bedingt unterstützen.

Ich hatte Autoren, denen es egal war, was man mit dem Text macht – Hauptsache, sie werden im Ausland veröffentlicht. Autoren, die nicht wirklich Lust hatten, an den Texten zu arbeiten und mich mit „Du machst das schon“ abwimmelten. Andere Autoren wiederum würden am liebsten jedes Wort überprüfen, wenn sie des Deutschen mächtig wären. Sowohl in dem einen als auch in dem anderen Fall ist es wichtig, dass der Autor seinem Übersetzer vertraut und sich beide verstehen.

Besonders schwierig war die Übersetzung von Goderdsi Tschochelis Der scharlachrote Wolf, da der Autor bereits verstorben und ich bei der Übersetzung völlig auf mich allein gestellt war. Es gab viel am Text zu bearbeiten und zu lektorieren. In diesem besonderen Fall nahm ich den Mut zusammen und habe gezwungenermaßen selber entschieden beziehungsweise es mit meiner Lektorin besprochen.

Die Besonderheiten der georgischen Sprache

Man kann nie 100 Prozent eines Textes übertragen, dafür unterscheiden sich die Sprachen zu sehr. Denn das grammatikalische System einer Sprache ermöglicht ganz spezifische Ausdrucksmöglichkeiten.

Die georgische Literaturtradition reicht bis in das 5. Jahrhundert n. Chr. zurück. Das Werk Das Martyrium der heiligen Schuschanik (Martyrien – Altgeorgische Heiligenlegenden, Leipziger Literaturverlag, 2018) wurde im 5. Jahrhundert verfasst, und obwohl es ein hagiografisches Werk ist, so weist es auch literarische Qualitäten auf, die so deutlich zu spüren sind, dass man es als ersten Roman der Weltliteratur bezeichnen könnte. Sogar erste feministische Ansätze kann man in diesem Werk herauslesen, denn die Protagonistin Schuschanik kämpft für ihre Rechte als Frau, Mutter und Christin.

Vom 5. bis zum 11. Jahrhundert findet man in der georgischen Literatur nur kirchliche Schriften – es handelt sich hauptsächlich um Übersetzungen sakraler Werke ins Georgische, aber auch um eigene sakrale Werke auf Georgisch. Das Georgische hat also auch eine lange Übersetzertradition. Ab dem 12. Jahrhundert entsteht eine weltliche Literatur, deren Höhepunkt das heutige Nationalepos Der Recke im Tigerfell von Schota Rustaweli darstellt.

Aufgrund der Geschichte des Landes kann man sagen, dass die jeweilige politische Situation starken Einfluss auf die Literatur hatte. Die jahrhundertelange Herrschaft der Perser über das Reich hinterließ auch deutliche Spuren in der georgischen Literatur. Ab dem 19. Jahrhundert drängt die europäische Literatur nach Georgien – diesmal über Russland, das seit 1801 als Protektor („Besatzer“ könnte man hier auch sagen) Georgiens auftritt. In diesen letzten zwei Jahrhunderten folgte die georgische Literatur dem Vorbild Europas, was Gattungen und Stil angeht – Romantik, Realismus, Naturalismus, Expressionismus, ja sogar Dada und Symbolismus findet man in der Literatur Georgiens (und in der georgischen Kunst allgemein). 

Die Entstehung des georgischen Alphabets kann man ebenfalls bis mindestens ins 5. Jahrhundert zurückdatieren, da die ältesten Inschriften aus dieser Zeit stammen (beispielsweise die Inschrift der Bolnissier Kirche oder die Mosaikinschrift in einer georgischen Kirche in Bethlehem). Das Alphabet wird bis heute noch verwendet, hat aber drei Etappen durchlaufen – Assomtawruli, Nuscha Chutsuri und die heutige Schrift Mchedruli. In vielen Handschriften kann man zwei, manchmal auch alle drei Schriftvarianten finden – sie lösten sich also nicht ab, sondern koexistierten über Jahrhunderte hinweg. Die grafische Darstellung hat sich stark verändert – die moderne georgische Schrift besteht nur aus Kleinbuchstaben, es gibt keine Großbuchstaben. Das Besondere in systematischer Hinsicht ist, dass jedem Phonem auch ein Graphem zugewiesen werden kann – das heutige Alphabet verfügt über 33 Buchstaben. Die fünf Phoneme des Altgeorgischen wurden aus dem Alphabet getilgt. Das georgische Alphabet ist auch das Motto des Ehrengastauftrittes Georgiens auf der Buchmesse: Georgia – Made by Characters. Hier sind sowohl die Buchstaben als auch die besonderen Charaktere der georgischen Literatur gemeint.

Das Georgische unterscheidet sich stark von den europäischen Sprachen. Es gehört zu den südkaukasischen Sprachen, die mit den west- und ostkaukasischen Sprachen die Gruppe der kaukasischen Sprachen bilden (insgesamt gibt es 40 kaukasische Sprachen, viele davon bedroht oder bereits ausgestorben), und ist eine sogenannte Ergativsprache – wobei es eine besondere Variante derselben ist: eine Split-Ergativsprache. Das Georgische ist eine agglutinierende Sprache – die Wörter bestehen aus einem Stamm und mehreren Morphemen, sodass sehr viele grammatische Kategorien (zum Beispiel Version und Kausation) im Wort abgebildet werden können.

Das Verb im Georgischen ist polypersonal, das heißt sowohl das Subjekt als auch das direkte und indirekte Objekt sind im Verb markiert (manchmal bis zu vier Aktanten). Aufgrund dieser Eigenschaft kann das georgische Personalpronomen getilgt werden. Das Georgische zählt dadurch zu den Pro-Drop-Sprachen. Das hat in syntaktischer Hinsicht die Folge, dass ein Satz sich auf nur ein Verb reduzieren lässt. Zum Beispiel würde der deutsche Satz „Er hat jemanden etwas ausrichten lassen“ im Georgischen „schemoatwlewina/შემოათვლევინა“ heißen.

Das Georgische kennt keinen Artikel und kein Genus. Diese Eigenschaft in Verbindung mit dem Pro-Drop-Phänomen ermöglichte es Beso Chwedelidze zum Beispiel, eine ganze Erzählung zu schreiben, ohne auch nur einmal anzugeben, um wen es sich bei der Geschichte handelt, ob Mann oder Frau (Schwalben, in: Der Geschmack von Asche, Leipziger Literaturverlag, 2014). Die Übersetzung dieses Textes war in dieser Hinsicht eine Tortur, da das Deutsche unbedingt ein Personalpronomen und ein Genus fordert. Die Besonderheit dieses Textes ließ sich also schlichtweg nicht übertragen.

Die georgische Sprache ist sehr metaphorisch, die Verwendung mehrerer Adjektive sogar im Superlativ ist fast schon die Norm im Georgischen. Dadurch wird die Intensität erhöht. Gerne wird dies auch als stilistisches Mittel verwendet – die georgische Sprache ist eine emotionale Sprache. Sie erlaubt zum Beispiel folgende Formulierungen: „kwelase upro sauketeso/ყველაზე უპრო საუკეთესო“ (auf Deutsch wäre das: „mehr als das allerbeste von allen“). Sauketeso selbst ist schon ein Superlativ, der von kwelase und upro – hier wie ein verstärkter Exzessiv – begleitet wird, was grammatikalisch zwar nicht richtig ist, dafür aber eine ganz besondere Begeisterung des Sprechers für eine bestimmte Sache zum Ausdruck bringt. Die Übersetzung solcher Texte ist schwierig, weil das Deutsche eine solche Anhäufung von Adjektiven nicht verträgt und der Text dadurch sehr schnell überladen wirkt. Die Übertragung dieser georgischen Emotionalität erfordert somit ein ausgeprägtes Feingefühl; tendenziell ist man gezwungen, diese Opulenz im Deutschen ein wenig „abzuspecken“.

Man kann somit nicht unmittelbar und direkt aus dem Georgischen ins Deutsche übersetzen – man muss immer zwischen der emotionalen Sprachgewalt des Georgischen und der außerordentlichen Präzision des Deutschen balancieren. Beim Übersetzen muss also viel und oft nach funktionalen Äquivalenten gesucht und dafür gesorgt werden, dass die Wirkung des Textes nicht verloren geht oder verformt wird.

Übersetzen heißt, einem Fremden die Kultur, die Geschichte und die Mentalität eines Landes näherzubringen. Übersetzer sind Kulturvermittler und in Zeiten von Internationalisierung und Globalisierung Schlüsselfiguren in Sachen interkultureller Kommunikation. Ihre Bedeutung wird wachsen, gerade jetzt, wo die Angst vor dem Fremden oder Unbekannten immer mehr in die Mitte der Gesellschaft rückt. Ich bin mir sicher, dass der Beruf des Übersetzers bald die Anerkennung und Achtung erfahren wird, die er verdient. Dazu werden nicht nur die Übersetzer beitragen, sondern auch all diejenigen, die uns Übersetzer zu Wort kommen lassen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz