Ein Porträt aus der Nähe

Gert Uedings Erinnerungen an Ernst Bloch laden zum philosophischen Denken ein

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die kraftvoll formulierten Schriften des Philosophen Ernst Bloch, der nach der Leipziger Zwangsemeritierung 1961 mit seiner Frau nach Tübingen gewechselt war, regen heute wahrscheinlich nur noch wenige Zeit- und Zunftgenossen aus der Philosophie und anderen Geistes- und Sozialwissenschaften zur besonnenen Nachtlektüre an. Unvergessen bleibt sein Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung dennoch – vor allem der Titel ist verbunden mit dem Namen des Denkers. Wird das dreibändige Opus heute noch an Universitäten gelesen und verstanden? Dass in den neuen Studiengängen der Philosophie höchstens Partikel davon zur Sprache gebracht werden, würde Bloch selbst kaum verwundert haben. Im stillen Kämmerlein mag, verborgen vor der Welt, die eine oder der andere noch das Wagnis eingehen und sich philosophisch von dem Tübinger Gelehrten inspirieren und faszinieren lassen – nicht zuletzt angeregt von dem Erinnerungsbuch Wo noch niemand war, das Gert Ueding verfasst hat.

Bloch besaß, ähnlich wie und doch ganz anders als der Existenzdenker Karl Jaspers, die Gabe, durch die Aura seiner Persönlichkeit sichtbar zu werden. Er war ein Philosoph mit Eigenschaften, gewiss auch mit Eigenheiten, verfügte über einen ganz eigenen Ton, suchte und fand Resonanzräume für sein Denken. Mitunter wirken seine Reflexionen wie Prophetenworte, auf faszinierende Weise wunderlich, fast orakelnd, oft utopisch und stets hoffnungsvoll, auch wider alle Hoffnung.

Ueding, emeritierter Rhetorikprofessor in Tübingen, wurde zu einem Weggefährten des Philosophen. Er war weniger ein Schüler, eher ein Mitphilosoph. Bloch sei der „letzte deutsche Philosoph“ gewesen, originell, sprachmächtig, „universale Bildung und persönliche Autorität“ verbindend. Er wusste viel, aber ein Vielwisser war er nicht. Auch musste er nicht zu allem etwas sagen oder eine Meinung haben. Vielleicht war er dafür auch viel zu nobel. Bloch dachte Erkenntnisse prozessual. So gelangte er auch selbst nicht zu einem systematischen Abschluss seiner Werke. Für Ueding ist er jemand, der die „Universitätsphilosophie“ überwunden hatte. Staubig sind seine Schriften nicht, auch weder amtlich noch altbacken, sondern lebendig, schwungvoll und nachdenklich. Bloch scheint damals und mehr noch heute eine Gegenfigur zu sein, sein Werk der lebendige Widerspruch zu einer „verarmten, praktizistisch verkümmerten, gegenwartssüchtigen Wahrnehmung und Denkweise“.

Ueding wohnte in Tübingen im Souterrain des Hauses Bloch. Der Philosoph suchte gern das Gespräch. Seine Wissbegierde richtete sich auf alles, „worin er Neues vermutete“. Bloch war „anziehend und zugleich respekteinflößend“, auf gewisse Weise auch „erhaben“. Was faszinierte an seiner Persönlichkeit?

Es war das Gesicht des Widerstandes gegen die reißende Zeit einer unmenschlichen Epoche. Des unbedingten Überlebenswillens. Der Denkkraft gegen eine feindliche Realität. Zu Blochs Aura gehörten für uns auch die Schriftsteller, die Künstler, die Maler, mit denen er vertrauten Umgang hatte und die wir nur aus der Ferne bewundern konnten.

Eine „unverzerrte Jugendlichkeit“ sei ihm zu eigen gewesen. Ueding und seine Zeitgenossen fühlten sich alt neben ihm. Bloch liebte Anekdoten, verwebte pointiert Gedanken und variierte auch, was er erzählte: „Eine gute Geschichte hatte eben mehrere Fenster, die sie aufstoßen konnte.“ Er freute sich an Skurrilitäten, berichtete Episodisches, Kurioses:

Die Geschichten müssen erzählt werden, und der Stil der mündlichen, also lebendigen, nicht ins Knochengerüst der Lettern eingesperrten Erzählung ist ein anderer als der des Textes, er verändert sich auch von Erzähler zu Erzähler und ist zudem abhängig von der Erzählsituation.

Bloch plauderte nicht belanglos dahin. Er verknüpfte „Zeitungsdeutsch und Bibelton, Märchenwendung und Lapidar-Floskel“. Er kannte das Alltägliche, sprach aber außeralltäglich.

In Lehrveranstaltungen und Gesprächen zeigte sich, „welch sinnliche Leuchtkraft der Gedanke entwickelt, der sich in Geschichten auslegt“. Bloch suchte seinerseits Gesprächspartner, die ihn inspirierten. Er blieb gedanklich, geistig, philosophisch in Bewegung:

Die Strukturform des Begriffs verbannt alle Erfahrung aus der Erkenntnis: da fährt nichts mehr, alles ist schon fertig und angekommen – eben auf den Begriff gebracht. Blochs Denken, dialektisch, also wesentlich prozesshaft, nicht primär an Resultaten interessiert, sondern an dem Weg, wie man zu ihnen kommen könnte, hat das Erzählen so wesentlich in sich aufgenommen, wie es in der deutschen Philosophie sonst nicht vorkommt.

Er erzählte übermütig, dynamisch, jegliches „professionelle Sprechen“ sei ihm zuwider gewesen. Persönlich wollte er „auf keinen Fall lästig sein, sich nicht vordrängen“, und so sei der Philosoph einfach auch ein „vornehmer Charakter“ gewesen.

Wenn Bloch Vorlesungen hielt, verlor er die Hörerschaft nicht aus dem Blick. Er referierte nicht nur längst durchdachten, altbekannten Stoff, er forderte vielmehr heraus: „Die Kraft seiner Rede speiste sich aus dem Fluss der Dinge, aus dem Prozess der Gedanken, der literarischen, musikalischen und künstlerischen Manifestationen, aus dem Unfertigen der menschlichen Existenz selber.“ Im vertrauten Gespräch zeigte er sich durchaus auch „ratlos“, suchend, tastend – im Hörsaal offen und souverän zugleich. Jeglicher „didaktische Szientismus“ war ihm fremd. Damals, so Ueding, ergriff dieser pädagogische Formalismus, heute Kompetenzorientierung genannt, bereits die Schulen, gegenwärtig verseuche er die Universitäten. Mit Studenten ging Bloch wie mit seinesgleichen um, ohne schulmeisterliche Attitüde oder professorales Gehabe: „So wie man in der Freundschaft darüber hinwegsieht, ob der eine mehr oder weniger weiß, und stattdessen den anderen Zugang, die eigentümliche Sichtweise, die originelle Frage statt der fertigen Antwort wertschätzt.“ Bloch sei „Schematismus jeder Art“ fremd gewesen, so auch bei der Seminarteilnahme. Zulassungsbeschränkungen kannte er nicht. Die Semesterzahl des interessierten Hörers spielte so wenig eine Rolle wie die fachliche Qualifikation:

Ob junges oder altes Semester, ob frischgebackener Dr. phil. oder Privatdozent, ob Hauptfachphilosoph oder Naturwissenschaftler, Theologe oder Germanist – jeder konnte seinen Platz finden, dessen Denken frisch, also nicht mit Vorurteilen vernagelt war, und mit wachem Interesse gerade jeden Tellerrand als Aufforderung zum Überschreiten ansah.

In Diskussionen konnte Bloch auch zornig agieren, auf die „verkorkste Sache“ fokussiert, was als „befreiend empfunden“ wurde, „für den Betroffenen aber wenig tröstend“ gewesen sei. Der passionierte Gelehrte konnte also auch scharf formulieren und Kritik üben.

Ueding stellt insgesamt nicht nur ein von großer Sympathie getragenes, sorgfältig koloriertes und nuancenreiches Porträt des Philosophen Bloch vor, er erinnert zugleich an eine wie versunken anmutende Welt der Universität. In modularisierten Studiengängen ebenso wenig wie im Wettbewerb um Drittmittel und um die Gunst von Förderungsinstanzen können wir uns einen Sprachkünstler wie Bloch kaum vorstellen. Ob jemand wie er heute noch auf eine Professur berufen würde? Wo noch niemand war lädt dazu ein, sich mit einem unkonventionellen Denker und dessen Werk erstmals oder erneut zu beschäftigen, und ein Leitsatz des Buches könnte lauten: Auch ohne Philosophiestudium darf und kann jeder von uns philosophisch zu denken beginnen.

Titelbild

Gert Ueding: Wo noch niemand war. Erinnerungen an Ernst Bloch.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2016.
216 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783863514150

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