Wahrer Dichter? Falscher Poet?

Steven Uhly entwickelt in seinem Roman „Den blinden Göttern“ ein Verwirrspiel um Dichtung und Wahrheit

Von Sofie DobbenerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sofie Dobbener

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Diese Geschichte ist eigentlich zu verworren, um ein Bestseller zu werden. Die Leute wollen etwas Handfestes, verstehen Sie, eine packende Lebensgeschichte, am besten eine Befreiungsgeschichte, in der sich jemand von äußeren und inneren Zwängen emanzipiert.“ Im ersten Moment erweckt der Roman Den blinden Göttern von Steven Uhly den Anschein, genau so ein Roman zu sein: eine handfeste, stringente Geschichte ohne Überraschungen – und Zwänge besitzt sein Protagonist Friedrich Keller wahrlich genug.

Keller ist zwar erst Ende 40, doch sein Leben verläuft so ereignislos und gleichförmig, dass er seine besten Jahre schon hinter sich zu haben scheint. Vollkommen verhaftet in der Vergangenheit, lebt er im Haus seiner verstorbenen Eltern, in dem er nicht wagen würde, auch nur die kleinste Kleinigkeit zu verändern. Er leitet die Lyrikabteilung in der Buchhandlung seines älteren Bruders und scheint ganz zufrieden damit zu sein, dass sich niemand außer ihm für diese literarische Gattung interessiert, denn so wird er zumindest von niemandem belästigt. Auch sonst beschränkt er seinen Kontakt zur Außenwelt auf ein Minimum – selbst zu seiner Kollegin Irma aus der Reisebuchabteilung, von der er ganz angetan zu sein scheint. Sein Leben gerät nicht einmal aus seinem monotonen Takt, als ihm eines Tages ein obdachloser Mann einen Zettelstapel mit Sonetten überreicht, den Keller zwar mit nach Hause nimmt, aber zunächst ignoriert. Erst der Unfähigkeit seiner Putzfrau ist es zu verdanken, dass die Sonette wieder ans Tageslicht geraten – und dieses Mal kann Keller einer Lektüre nicht widerstehen. Das Werk zieht ihn in seinen Bann. Zufälligerweise begegnet Keller erneut dem heruntergekommenen Dichter Radi Zeiler auf der Straße und verfolgt ihn bis in eine Spelunke, um ihm dort nach einem scheiternden Kontaktversuch seine Visitenkarte aufzudrängen. Als Zeiler schließlich anderthalb Jahre später auf seinem Treppenabsatz erscheint, nutzt Keller die Gelegenheit, seinem heimlichen Idol und Meister endlich näherzukommen.

Als Leser scheint man den weiteren Verlauf der Handlung bereits vorgezeichnet zu sehen: eine Annäherung Kellers an den Dichter, ein Ausbruch aus seinen Zwängen und eine behutsame Liebesgeschichte mit seiner verehrten Irma. Schlussendlich ein vielleicht etwas kitschiges, aber beruhigendes Happy End in vertrauter Manier.

Uhlys Roman bietet nichts davon. Stattdessen entfaltet sich ein parodistisches Spiel um Genrekonventionen, Klischees und sogar um Uhlys eigene Autorschaft. Persönlich erscheint er als etwas unsympathischer, bestsellerbesessener Linguist unter dem Namen Ullman, Ulky oder Ugly. Dem Leser eröffnet sich keine andere Möglichkeit als – genauso stoisch-schulterzuckend wie Keller selbst – dem Handlungsverlauf zu folgen, während sich dieser von einer Absurdität in die nächste stürzt. Mit seiner buchstäblichen Schundromanhaftigkeit gepaart mit höchster sprachlicher Qualität erinnert Den blinden Göttern an Romane von Charles Bukowski.

Doch das ist noch nicht alles, was der Roman zu bieten hat. Denn nach seinem prototypischen Einstieg beginnt erst Uhlys Verwirrspiel um Dichtung und Wahrheit. Es entpuppt sich ein vermeintlicher familiärer Schwindel, bei dem weder falsche Neffen noch richtige Zwillinge ausgelassen werden. Doch ist dies nicht alles nur ein weiterer, noch größerer Schwindel? Statt einer Auflösung präsentiert der Autor nur eine weitere Metaebene, mit der sich die Geschichte immer weiter in die Höhe schraubt. Dabei bleibt in seiner Essenz einzig die Frage nach der eigenen Existenz übrig, die Uhly gekonnt mit einer Parabel über die Wirklichkeit verknüpft. Wie dem Leser bleibt auch Keller nichts anderes übrig, als sich damit auseinanderzusetzen, was in seinem Leben Wirklichkeit oder Dichtung ist. Denn ist die Wirklichkeit nicht auch nur eine Geschichte, nur nicht eine ganz so gute? Je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr verwischen die Grenzen zwischen Genres, Fiktions- und Realitätsstufen.

Bei alledem verliert Den blinden Göttern keineswegs sein komisches Element. In der Groteske zeichnet Uhly ein Bild von Liebe und Wahrheit, das zum Lachen verführt und gleichzeitig schmerzt. Genießen mit einer großen Prise Salz. Wenn Keller in seiner Obsession zu seinem heimlichen Meister von der dickleibigen, proletenhaften Bardame im Gegenzug für einen Blick auf ein Sonett zum Verlust seiner Unschuld verführt wird oder wenn er die Verwahrlosung Zeilers als eine höhere Form der Geistigkeit interpretiert und selbst diesem vermeintlichen Ideal entgegenstreben will, mischt sich diese Komik mit einer Spur von Tragik, die diesem Charakter inne wohnt.

In seiner Emulsion von Wirklichkeit und Fiktion beginnt sich Keller mit seiner Identität als literarischer Figur auseinanderzusetzen. Was tun, wenn sämtliche Stützen der eigenen Realität zu wanken beginnen, und sich die Frage aufwirft, was ist Einbildung, Dichtung oder Wirklichkeit? Dann schreit Keller zu recht: „Geschichte? Ist das für Sie nicht mehr als eine Geschichte? Das ist mein Leben! Warum lachen Sie denn?“ Eine Antwort darauf bietet Uhly nicht – nur dem Leser bleibt für einen Moment das Lachen im Halse stecken. Denn es geht hier um eine Frage, die erschreckende Ähnlichkeit mit einem Liedtext von Falco aufweist: „Spiele ich mit dir? Oder spiele ich mit dir? Oder du mich? Oder wir uns?“

Den blinden Göttern lässt den Leser mit vielen Fragen und wenigen Antworten zurück. Nur eine tatsächliche Antwort – oder vielleicht ein Plädoyer – erhält der Leser in der Figur Gottes (oder ist es doch Radi Zeiler?): „Die Einbildung ist das Größte überhaupt, mein Sohn. Sie ist das Einzige, was erzählt.“

Die Rezension ist im Rahmen eines Master-Seminars unter Leitung von Jörg Schuster am Germanistischen Institut der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg zum Thema „Literarische Neuerscheinungen: Analyse, Kritik, Rezeption – Die LiteraTour Nord“ entstanden.

Titelbild

Steven Uhly: Den blinden Göttern. Roman.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2018.
260 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783906910444

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch