Von einer Frau, zwei Männern und ungezählten Anderen

Der zweite Band „Die Frau“ der Neuübersetzung von Sigrid Undsets monumentaler Romantrilogie „Kristin Lavranstochter“ ist erschienen

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nahezu alles, was an dieser Stelle zu Sigrid Undset, zum ersten Band Der Kranz (Kransen, 1920) von deren 1928 zum Nobelpreis führenden Romantrilogie Kristin Lavranstochter (Kristin Lavransdatter) und zur neuen Übersetzung der Trilogie von Gabriele Haefs gesagt wurde, gilt auch für den nun erschienenen zweiten Band Die Frau (Husfrue, 1921). Von daher sei auf diese Besprechung von Der Kranz verwiesen, die zusammenfassend von einem „Lesevergnügen“ spricht, das, historisches Interesse am skandinavischen Mittelalter und an der mittelbar thematisierten frühen Moderne vorausgesetzt, „zugleich unterhält und belehrt“.

Der zweite, wiederum mit einem hilfreichen Glossar versehene und auf fesselnde Art und Weise historisch Verbürgtes mit (z. T. dramatisch oder sentimental gewagter) Fiktion verbandelnde Band Die Frau ist nicht nur noch umfangreicher als der erste Band. Er bietet auch ein kunstvoll verschlungenes Panorama an Figuren, Charakteren und Konstellationen, an Ereignissen, Handlungen, Problemen und Konflikten, an Örtlichkeiten, Landschaften und Innenräumen, an Sitten, Gebräuchen und alltagskulturellen Einzelheiten sowie an Geschichtlichem, Mythen und Sagen, das dasjenige des diesbezüglich weiß Gott ‚wohlgenährten‘ ersten Bandes an Detailreichtum und Komplexität noch einmal übertrifft. 

Nur wer bereit ist, entspannt Zeile für Zeile, Absatz für Absatz zu lesen und sich bspw. auf die Fülle an Figuren und deren private und politisch-gesellschaftliche Verbindungen einzulassen, wird der Gefahr entgehen, irgendwann ‚vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen‘ und die Lust am Weiterlesen dieser ausladenden Welttheater-Variante zu verlieren. Das aber sollte nicht nur um der vielfädigen, aufwühlenden, schicksalsschwangeren und tragikschweren Geschichte aus der Mitte des 14. Jahrhunderts und deren Gegenwartsbezüge insbesondere zum frühen 20. Jahrhundert und dessen Diskursen – bspw. über Mann und Frau, Freundschaft, Partnerschaft und Ehe, Leidenschaft, Liebe und Moral, Eltern, Kinder und Erziehung oder Individuum, Sitte und Gesellschaft – keinesfalls passieren.

Es wäre auch deshalb bedauerlich, weil sich erst mit der Zeit erweist, wie sorgfältig Sigrid Undset ihren aus drei weiter untergliederten Büchern (Die Frucht der Sünde, Husaby und Erlend Nikulaussohn) bestehenden Roman konstruiert hat – alles Private unterschiedlichster Art zwischen Geburt und Tod, Liebe und Hass, Gewalt und Fürsorge und Sex and Crime, vom dem es wahrlich zuhauf gibt, ist eingebettet in ein im Großen wie im Kleinen selbst von Widerstreit zeugendes und sogar Familien entzweiendes Bezugssystem aus Glaube / Kirche, Gesellschaft und Politik.

Politischerseits geht es dabei nicht nur um das Innere Norwegens und dessen sozialen Frieden, sondern vor allem auch – Stichworte: Ränkespiele, Intrigen, Machtgerangel – um die prekären Verhältnisse, in denen die skandinavischen Länder Dänemark, Schweden und Norwegen zu Zeiten von Ingebjørg Håkonstochter (1301–1361) zueinander stehen, sowie um deren Verhältnis wiederum bspw. zu den deutschen und russischen Nachbarn und zu kleineren Bevölkerungsgruppen wie den Finnen und den Kareliern.

Es wird nicht weiter überraschen, dass auch in diesem zweiten Band Kristin Lavranstochter im Zentrum des Interesses steht und sich Vieles um sie dreht. Durchaus überrascht dürften aber vermutlich nicht wenige davon sein, wie artistisch und zugleich einfühlsam es Sigrid Undset gelingt, ein ausgesprochen schillerndes, ungemein nuancenreiches Charakterporträt ihrer anfangs im 20. Lebensjahr, am Romanende in den 30er Jahren stehenden ‚Heldin‘ zu entwerfen – das scheint wie dasjenige anderer Figuren allerdings nicht immer ganz stimmig zu sein.

‚Heldin‘ ist dabei tatsächlich in einfache Anführungen zu setzen, ist Kristin Lavranstochter aller Verdienste zum Trotz, die sie sich als besonnene Ehefrau, fürsorglich liebende Mutter von sieben Söhnen, nach Kräften bemühte zweifache Stiefmutter und als umsichtige Haus- und Hofherrin erwirbt, doch alles andere als eine makellose Vorzeigefigur – eher das Gegenteil, würde sie selbst wohl sagen. Deshalb erleben wir sie über weite Strecken des Romans auch immer wieder bei dem ebenso von tiefster Verzweiflung wie von bedingungsloser Entschlossenheit bestimmten Versuch, bei Gott Vergebung und Gnade vor allem für ihre vorehelichen, zu einer Schwangerschaft führenden und aus ungezügelter Leidenschaft resultierenden Fehltritte mit ihrem späteren Ehemann zu bekommen, dem gut 10 Jahre älteren Erlend Nikulaussohn.

Kristin ist aber auch auf dieses oder jenes Familienmitglied eifersüchtig, ihrem Ehemann gegenüber nachtragend, ungnädig, aggressiv und verletzend, dem Vater gegenüber schonungslos und dergleichen Dinge mehr, sodass sie unterm Strich als Prototyp eines gemischten, mit sich selbst immer wieder hadernden und ringenden Charakters gelten kann – und genau darin liegen ihre Attraktivität, Stärke, Überzeugungs- und Bindekraft. Die bekommen am Romanschluss noch einmal Nahrung, wenn sich Kristin Erlend gegenüber als eine große Liebende, d.h. auch als ebenso großmütig wie selbstkritisch Verzeihende, erweist, obwohl ihr eheliches Zusammenleben – konzeptionell ist hier auch dasjenige ihrer Eltern Lavrans Bjørgulfssohn und Ragnfrid Ivarstochter zu beachten – über weite Strecken alles andere als ein Zuckerschlecken, vielmehr von Nachlässigkeiten, Gefühlskälte, Desinteresse und sogar Gewalt dieser oder jener Art geprägt gewesen ist.

Erlend Nikulaussohn: Auch von ihm liefert Sigrid Undset ein eindrucksvolles Charakterbild. Das fällt womöglich noch facettenreicher, ‚kantiger‘, reibungs- und widerspruchsvoller und von daher sogar noch Interesse heischender aus als dasjenige seiner Ehefrau. Von daher geht es im Fortgang des Romans auch dem Leser wie den meisten Figuren, mit denen es Erlend, dieser vermeintliche Bruder Leichtfuß, privat oder politisch zu tun bekommt. Er kann nicht umhin, Sympathien für diesen beinahe naiv aufrichtigen, im Grunde seines Herzens gutwilligen ‚Jungen‘ Erlend zu entwickeln, obwohl der in seiner privaten Lebensführung – Stichworte: Verführer, Mesalliancen, Verschwendungssucht – und in seinem politisch-gesellschaftlichen Agieren – Stichworte: Leichtsinn, Gutgläubigkeit, Geschwätzigkeit, Aktionismus – für viel Kopfschütteln sorgt und von vielen nicht „für voll“ genommen wird.

Erlebt man aber, wie Erlend immer und immer wieder um Kristin und seine Liebe zu ihr ringt, wie er die Zwistigkeiten mit seinem frommen Bruder Gunnulf angeht oder wie er sich um das Vertrauen geachteter und einflussreicher Leute wie das seines Schwiegervaters bemüht, dann kann man kaum anders als ihm gewogen sein. Dieses Gewogensein geht zum Ende des Romans sogar in hohe Achtung über, erweist sich Erlend doch in einer für ihn nicht nur ruinösen, sondern lebensbedrohlichen politischen Situation als ebenso „furchtlos[er]“ wie „klarsichtig[er]“, als ebenso verantwortungsvoller wie nobler, unbeugsamer Charakter. Selbst die Folter kann ihm, der für einen Moment tatsächlich eine heldenhafte Gestalt annimmt, nichts anhaben.

Bliebe auf Simon Darre hinzuweisen, den vom Vater Lavrans Bjørgulfssohn ausgespähten ersten Verlobten Kristin Lavranstochters, den diese um ihrer hemmungslosen Leidenschaft für Erlend willen verlassen hat. Neben Lavrans und Erlends rechter Hand Ulv Haldorssohn dürfte er die charakterfesteste, nicht zuletzt in seiner Bescheidenheit, seiner Hilfsbereitschaft und seiner Fähigkeit zu verzeihen die vorbildlichste weltliche Figur des gesamten Romans sein. Von daher räumt ihm die Autorin auch einschlägigen, über den gesamten Roman verstreuten Erzählraum ein.

Simon wird, nachdem seine erste Ehefrau Halfrid verstorben ist, sogar zum allzeit treu verbundenen Schwager von Erlend und Kristin, weil er sich, so muss man es formulieren, von deren jüngeren Schwester Ramborg – mit 16 Jahren fast noch ein Kind – heiraten lässt. Doch wird diese Ehe, wie sich erst ganz am Romanende erweist, von einem bis dahin nur Simon bekannten Geheimnis überschattet – das soll freilich an dieser Stelle ungelüftet bleiben.

Mit dem in der tendenziell selbstgewissen und von daher ebenso fabulierfreudigen wie -sicheren Erzähltradition des 19. Jahrhunderts stehenden Roman Die Frau, so lässt sich zusammenfassend festhalten, ist es Sigrid Undset gelungen, ein Werk vorzulegen, das ein Amalgam aus Familiensaga, Liebesroman, historischem und Gesellschaftsroman darstellt. Opulent wie dieses Werk dem Inhalt wie dem Gehalt nach ausfällt, sind ihm viele Leser und Leserinnen zu wünschen. Sollte es so viele finden, dass eine zweite, dass gar weitere Auflagen erforderlich wären, würde sich der Rezensent freuen, wenn eine Reihe von Setz- und sonstigen Fehlern (u. a. Zeilenumbruch und Namensverwechslung) beseitigt würden.

Titelbild

Sigrid Undset: Kristin Lavranstochter. Band II: Die Frau.
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2021.
450 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783520622013

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