Auszeit für den Kopf

Was eine gute Urlaubslektüre ausmacht

Von Mario WiesmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wiesmann

Wie sieht die ideale Urlaubslektüre aus? Diese Frage lässt sich genauso wenig pauschal beantworten wie die nach dem perfekten Urlaub. Für manche Menschen bedeutet Urlaub Abenteuer, für andere Entspannung – und dann stellt sich gleich die Gretchenfrage: Meer oder Berge? Das haben Reiseziele mit Büchern gemeinsam. Es gibt aufregende und entspannende, schöne und verstörende, ernste und witzige und alle haben ihre Fans.

Zumindest so viel lässt sich aber vermutlich pauschal sagen: Urlaub sollte eine Auszeit vom Alltag sein. Und an so eine Auszeit kann man eben unterschiedliche Erwartungen haben. Wer seinem monotonen Büroalltag entkommen will, plant eine Raftingtour oder einen Fallschirmsprung. Und wer aus der Hektik der Arbeit wieder zu sich selbst finden will, kann sich in ein Schweigekloster einbuchen oder, weniger drastisch, einen Wanderurlaub machen. Ich falle in Sachen Urlaubsplanung eher in die zweite Kategorie – und glaube, dass bestimmte Bücher hierfür die perfekten Begleiter sind.

Urlaub bedeutet für mich Auszeit von einem Leben, in dem man sich über alles Mögliche den Kopf zerbricht. Nicht nur, weil in unserer Gesellschaft Arbeit bedeutet, 40 Stunden pro Woche Informationen aufzunehmen, Ideen zu entwickeln, Probleme zu lösen und mit anderen zu diskutieren. Auch vor und nach der Arbeit machen wir uns ständig Gedanken –  über die nächste Steuererklärung oder einen anstehenden Arztbesuch, über Politik, Liebe, die Zukunft und uns selbst. Das ist wichtig und manchmal sehr bereichernd. Es ist aber auch anstrengend und entfremdet von einer Welt voller schöner Dinge und Augenblicke, für die man dann keinen Kopf mehr hat und – was das eigentlich Fatale ist –: kein Auge.

Es liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass in der Literaturwissenschaft ausgerechnet der Formalismus auf die Rolle der Literatur hingewiesen hat, uns wieder mit der Wirklichkeit in Kontakt zu bringen, indem sie unsere Wahrnehmung entautomatisiert, um so „den Stein“ für uns wieder „steinern zu machen“[1]. Der Wunsch nach einem unverfälschten Blick auf die Welt in ihrer phänomenalen Vielfalt geht hier Hand in Hand mit der Überzeugung, dass sich Literatur nur angemessen rezipieren lässt, indem man ihrer Form mindestens genauso viel Aufmerksamkeit schenkt wie ihrem Inhalt.

Genau das ist es aber, was meiner Meinung nach nicht passieren darf, wenn man am Strand oder in einer abgelegenen Berghütte ein Buch aufschlägt. Denn je mehr ein literarischer Text in diesem Sinne poetisch ist, also aus seiner Form heraus verstanden werden will, desto mehr erfordert er einen nüchternen Prozess der Analyse und ein Abstrahieren von dem, was sich als oberflächlicher Inhalt des Textes dann sogar als bloßer Vorwand zum Schreiben erweisen kann.

Poetische Texte zeichnen sich aber nicht nur durch die besondere Bedeutung ihrer Form aus, sondern unterscheiden sich von epischen und dramatischen Texten oft auch dadurch, dass sie keine Geschichten erzählen. Und das heißt: dass ihnen keine logische Struktur zugrunde liegen muss, sie keine Pointe oder Aussage besitzen müssen und sie daher eher erfahren als verstanden werden wollen. Solche Texte, die sich vor allem, aber nicht nur, in der Lyrik finden, sind für mich die idealen Lektüren im Urlaub.

Ich denke da zum Beispiel an die Naturgedichte und die Alltagslyrik deutscher Autoren wie Jürgen Becker oder Michael Krüger, an die unaufgeregten Gedichte englischsprachiger Autoren wie Simon Armitage oder Zaffar Kunial, aber auch an die atmosphärischen Erzählungen Ernest Hemingways, in denen die Handlung stark reduziert ist und das Erzählen noch durch ausladende Beschreibungen von Orten, Dingen und alltäglichen Verrichtungen verlangsamt wird. Ähnlich wie bei einer Wanderung ist in diesen Texten der Weg das Ziel. Wie der Text endet, ist zweitrangig.

Solchen Texten ist gemeinsam, dass sie in erster Linie beschreiben und evozieren, statt zu erklären oder zu implizieren. Ein sinnfälliges Beispiel für diese Art des Schreibens ist William Carlos Williams’ berühmtes Gedicht über eine rote Schubkarre:

so much depends
upon

a red wheel
barrow

glazed with rain
water

beside the white
chickens[2]

Der Text macht abgesehen von den ersten beiden Zeilen nichts anderes, als zu beschreiben, und durch die Behauptung, dass so viel von der Schubkarre abhänge, wird nur noch augenfälliger, dass es sich bei dem Folgenden um ein lyrisches Stillleben handelt und nicht etwa um eine zu entschlüsselnde Allegorie. Die Details dieser Beschreibung erscheinen uns gerade deshalb als besonders authentische Repräsentation einer ländlichen Szenerie, weil sie nebensächlich und unbedeutend sind wie die meisten Gegenstände der Welt, die uns umgibt. Sie scheinen sich einem Blick zu verdanken, der unvoreingenommen registriert, was in der Umgebung zu sehen ist.

Gleichzeitig hält Williams die Beschreibung auffällig knapp. Uns wird kein naturalistisches Gesamtbild vermittelt. Stattdessen beschränkt sich der Autor darauf, zwei Gegenstände scheinbar willkürlich aus der Szene herauszugreifen. Unweigerlich fragen wir uns beim Lesen: Wenn die Schubkarre und die Hühner erwähnenswert sind, müssten dann nicht etliche weitere Details genannt werden? Und noch bevor wir uns diese Frage stellen, hat unsere Fantasie angefangen, die spärlich beschriebene Szene mit einem Beet, einem Spaten, einem Hühnerstall oder anderen Konkreta auszustaffieren. Williams übt sich hier in der Kunst des Weglassens, wie Hemingway sie in seiner Eisbergtheorie für das Erzählen konzipiert hat. Die sparsame Beschreibung erzeugt umso vielfältigere Vorstellungen.

Wo Williams’ die poetische Rückkehr zu den Sachen selbst noch mit einem gewissen Pathos begleitet („so much depends“!), finden sich in der jüngeren anglosächsischen Lyrik Gedichte, die sich betont unaufgeregt ans Beschreiben halten. Das gilt zum Beispiel für Simon Armitages Gedicht „A Bed“, das wie folgt beginnt:

Unmade, mid-morning.
A dress where it fell, where you snaked from it.
The slab of the bed sheet, marbled with creases.[3]

Worauf es Armitage ankommt, wird gerade auch daran deutlich, wie er Metaphern einsetzt: Wenn er davon spricht, wie das angesprochene Du sich aus seinem Kleid geschlängelt hat, geht es nicht darum, durch ein kühnes Sprachbild etwas über die adressierte Person auszusagen. Die Metapher verdankt sich ganz offensichtlich der Assoziation des hingeworfenen Kleids mit der abgeworfenen Haut einer Schlange, soll also einen visuellen Eindruck prägnant festhalten.

Armitage beschreibt ein denkbar alltägliches Bild und legt sogar noch besonderes Augenmerk auf seine weniger schönen Details wie die Falten des Bettlakens. Dadurch tritt uns das bedichtete Bett besonders lebhaft vor Augen und wir sehen bei der Lektüre etwas sehr Vertrautes wie mit neuen Augen. Indem der Autor die Falten metaphorisch zur Marmorierung überhöht, lädt er uns sogar ein, sie durch seine Augen als etwas Schönes zu betrachten. Was der Text aber, wenn wir ihm erst mal diese vielfältigen Vorstellungen abgewonnen haben, noch bedeuten könnte, lässt der Autor offen.

In verschiedener Form finden sich solche beschreibenden Texte auch im Werk Jürgen Beckers wieder; in Reinform beispielsweise im Gedicht „Was du siehst“:

Kurz drehen Scheinwerfer sich
durch die Kurve, und für Sekunden ist
das Zimmer hell. Dann siehst du
an der Wand den Schatten des Baums,
der kahl steht in diesem Sommer.[4]

Der Effekt ist vergleichbar mit dem von Armitages Gedicht – fast erwartet man unter dem Lektüreeindruck von „A Bed“, dass auch bei Becker von der Marmorierung der Zimmerwand durch den Baumschatten die Rede sein wird. Beckers Text kommt aber ohne Metaphern aus. Gerade durch die fast vollständige Reduktion der stilistischen Mittel bis auf einige Inversionen[5] kommt die Beschreibung ganz als das Wesentliche dieses Gedichts zur Geltung, das nur aus den fünf zitierten Zeilen besteht. Indem Becker sowohl darauf verzichtet, zu erzählen, zu schlussfolgern oder anzudeuten, als auch darauf, zu verfremden, fordert er den Leser dazu auf, im Beschriebenen das Besondere des Gedichts zu erkennen. Durch die Umstellungen der Sätze werden zentrale Wörter der Beschreibung hervorgehoben. Die Form dient hier also der Artikulation des Inhalts. Sie ist nicht der Zweck des Schreibens, sondern Mittel, um unsere Aufmerksamkeit zu lenken.

Man darf Vergleiche nicht überstrapazieren. Die Parallelen zwischen bestimmten Formen der Text- und der Urlaubsgestaltung sind aber nicht zufällig. Beschreibende Texte, wie sie sich zum Beispiel in der Alltagslyrik, aber auch in vielen anderen Gattungen finden, funktionieren nach einem Prinzip, in dem schon Kant ein Wesensmerkmal von Kunst erkannt hat: Sie sind Anähnelungen an das Naturschöne. Nicht zufällig lassen sich sowohl die Betrachtung einer schönen Landschaft als auch die Rezeption eines Kunstwerks philosophisch als ästhetische Erfahrungen beschreiben.

Hier wie dort können wir auf intensive Weise mit der Welt in ihrer Komplexität in Berührung kommen. Und ganz nebenbei den Stress des Alltags eine Zeitlang hinter uns lassen.

 

Anmerkungen

[1] Šklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren. In: Imdahl, Max u. a. (Hgg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. von Jurij Striedter. München 1969. S. 2–35, hier: S. 15.

[2] Williams, William Carlos: Spring and All. In: Ders.: The collected Poems of William Carlos Williams. Bd. 1: 1909-1939. Hg. von A. W. Litz und Chr. Macgowan. New York, NY 1986. S. 175-236, hier S. 224.

[3] Armitage, Simon: The Unaccompanied. London 2018. S. 16.

[4] Becker, Jürgen: Dorfrand mit Tankstelle. Frankfurt a. M. 2007. S. 50.

[5] Höchstens eine Metonymie könnte man noch in der Beschreibung der Scheinwerfer erkennen.