Eine Flucht ist keine Reise

In Usama Al Shahmanis Roman „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ sucht eine junge Frau nach ihrer Identität

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum nur meinen Eltern, dass Heimat und Wurzeln zum Erbgut zählen? Können Nachkommen sich nicht auch dort zuhause fühlen, wo sie aufwachsen, sich sozialisieren und eine Zugehörigkeit entwickeln wollen? Sicher, letztere wird denen, die einen mittlerweile als Bezeichnung verhassten ‚Migrationshintergrund‘ haben, immer noch und sogar in Migrationsgesellschaften verwehrt. Usama Al Shahmani beschäftigt sich in seinem zweiten Roman mit dem Leben nach der Flucht, mit dem Versuch anzukommen, der Identitätsfindung und damit, welche Bürde die eigene Vergangenheit sein kann, wenn die anderen sie immer an einen herantragen.

Aida, geboren in einem iranischen Flüchtlingslager, kennt die von ihrem Vater in seinen Erinnerungen adressierte Heimat im Irak nicht, da die Eltern mit ihr und der älteren Schwester Nosche in die Schweiz weiterziehen. Während die Schwestern am Schweizer Leben teilhaben, Schulen besuchen und die Sprache schnell lernen, ist bei den Eltern die Ablehnung der neuen Umgebung zementiert, sodass die nächstbeste Gelegenheit, der Fall des Regimes, zur Rückkehr in den Irak genutzt wird. Für Aida ist das eine ‚Rückkehr‘ in ein Dorf, das sie nie zuvor gesehen hat. Dort angekommen spüren die Mädchen alles, nur keine Heimatgefühle: „Den Ort, wo man lügen muss, kann man doch nicht als Heimat bezeichnen.“ Eigentlich sind die beiden dem Leben im Irak gegenüber viel aufgeschlossener als ihre Eltern es in der Schweiz je waren, aber sie werden beäugt, belächelt, nie akzeptiert und selbst der Vater sagt: „Ihr verhaltet euch wie Schweizer Mädchen“. Das Gefühl der Wert- und Rechtlosigkeit führt schließlich zur heimlichen Flucht der Schwestern zurück in die Schweiz. Wo zunächst wieder Flüchtlings- und Aufnahmelager und die Prozedur des Asylantrages zu durchstehen sind.   

Der Konflikt zwischen Vater, Vaterland, Tochter und dem Zielland, das die Protagonistin zumeist auch als Heimat betrachten möchte, zwischen Muttersprache und der Fremdsprache, die Aida gar nicht so fremd ist, spitzt sich stetig zu. Denn der Vater sieht seine Tochter fest in der irakischen, arabisch-muslimischen Kultur, Sprache und Denkweise verortet. Die Schweiz ist kalt, unfreundlich, stumm und interessiert ihn nicht. Er nutzt die Tochter als Dolmetscherin, lässt sie bei Ämtern, Beschwerden und Mahnungen seine Meinung kundtun, ohne zu bemerken, wie gut sie sich zurechtfindet und ausdrücken kann. Aber auch der schweizerische Freund Daniel, ein Ethnologie-Student, hat seine feste Vorstellung davon, was sie darstellt und was für sie gut ist. Die Partnerin aus der Fremde, deren Vergangenheit, Schicksal und Herkunftskultur er unbedingt ergründen muss, um sie richtig lieben zu können, fragt er nie nach ihrem aktuellen Befinden.

Aida sucht unter diesen Bedingungen ihren eigenen Weg. Bereits auf der Flucht geboren findet sie sich mit ihrer älteren Schwester Nosche schnell im Gastland mitten in Europa zurecht und lässt sich nur noch schwer unter väterlichem Verschluss halten. Der Respekt vor dem patriarchalischen Vater, dem Religionslehrer aus reichem Hause, der vor ihrer Zeit einst vom Geheimdienst abgeholt wurde und als Soldat im Irak-Iran-Krieg kämpfen musste, und vor allem litt, ist trotzdem sehr groß.

All die Erlebnisse und Erfahrungen seiner Protagonistin lässt sie Al Shahmani in einem blauen Heft zwar festhalten, dabei aber einen Neuanfang machen, bei dem sie sich weigert, ihre „Zukunft mit der Tinte der Vergangenheit“ zu schreiben. Sie blickt dabei sowohl feinfühlig als auch mit einer gewissen Strenge in beide Richtungen: einerseits auf die überhebliche westeuropäische Lebens- und Sichtweise ihres Freundes Daniel und seiner Mutter, andererseits auf die bevormundende Art des Vaters, dessen Meinung ebenso festgefahren ist, und ihrer alles abnickenden Mutter. Als erstes steht sie den ‚Lehren‘ des Vaters kritisch gegenüber, wenn sie ihre Freiheit einschränken. Denn so sehr sie die arabische Sprache liebt und deren Naturbilder selbst verwendet, so sehr fühlt sie sich auch im Thurgauer Schweizerdeutsch („Isch es rächt gsi?“) zuhause und verinnerlicht die überbordende Bürokratie und Ordnungsliebe der Eidgenossen. In ihrer späteren Beziehung kann sie wiederum nicht zulassen, in Daniels Augen die Fremde, die Geflüchtete zu sein, die seine Sehnsucht nach Exotik stillt und seine ethnologischen Interessen bedient. Dafür, dass es auch anders geht, hat sie in Beyan, einem irakischen Künstler, Geiger und alten Freund des Vaters ein Vorbild. Er hat sich nach seiner Flucht in der Schweiz ganz bewusst niedergelassen, ist mit einer Schweizerin verheiratet und setzt den Sprüchen des Vaters – wie etwa „Wer sein Zuhause verlässt, verliert an Wert“ – sein erfülltes Leben entgegen.

Mit dem Fortschreiten der Geschichte steigt beim Leser das Verständnis für Aidas Gefühle, ihren Umgang mit den Konflikten und ihren Rückzug vor den Vorschriften anderer. Sie werden nicht nur wegen der zahlreichen Rückblenden auf den Werdegang der beiden Schwestern immer plausibler: Warum sie aus dem Irak wieder fliehen mussten und dass eine Flucht etwas Anderes als eine Reise ist. Letzteres braucht bei Usama Al Shamhani keinen hinzugefügten Spannungsbogen, genauso wie die Befragung im Asylverfahren ohne die Erzählung von erlebter Folter oder Gewaltandrohung auskommt, wenn Aida schlicht und ohne anklagenden Ton die Frage stellt, ob wertlos zu sein keine Bedrohung darstelle. Er dramatisiert nichts, beschönigt nichts, erklärt nichts und doch reicht all das aus, um die Tragik vieler Leben im 21. Jahrhundert zu ergründen.

Titelbild

Usama Al Shahmani: Im Fallen lernt die Feder fliegen.
Limmat Verlag, Zürich 2020.
240 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783039260027

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