Fremd und vertraut

Vicente Valero erkundet in „Die Fremden“ die eigene Familiengeschichte auf einer Insel

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In vier einprägsamen, bildstarken Texten beschäftigt sich der Lyriker Vicente Valero mit entfernten und verstorbenen Verwandten, die alle ihre Insel, Ibiza, verlassen haben. Offensichtlich waren sie „anders“, fühlten sich eingeengt und suchten ihr Glück fern der Heimat. Valero versucht mit Hilfe weniger Fotos, vergilbter Briefe und Schilderungen von Angehörigen herauszufinden, warum sie Ibiza verließen und den damit verbundenen Bruch mit der Familie in Kauf nahmen.

Als ersten lernen wir den Leutnant Marí Juan kennen, der als Kind ins Internat auf das Festland nach Valencia geschickt wird, weil er später Jura studieren soll. Er entscheidet sich jedoch für die militärische Laufbahn und wird im damaligen Spanisch-Marokko stationiert, also in der Wüste. Jahrzehnte später reist der Ich-Erzähler in das Gebiet, um sich ein Bild von der verlassenen, vom Sand zerstörten Kaserne zu machen. Neben den Spaniern lagerten damals auch Franzosen, darunter Antoine de Saint-Exúpery, und Valero fragt sich, ob sein Großvater – der hochdekorierte, früh verstorbene Leutnant – ihm wohl begegnet war.

Der zweite Text, „Wiederkunft und Tod unseres Onkels Alberto“, erzählt von einem Schachspieler, der berufsmäßig in der ganzen Welt Turniere spielt. Unregelmäßig flattert eine Postkarte nach Hause, und eines Tages kehrt er selbst zurück. Der Erzähler hat zwar ein paar Kindheitserinnerungen, weiß aber nur wenig über das abenteuerliche Leben des legendenumrankten Verwandten. Suchte er als alter Mann wieder familiäre Geborgenheit? 

Carlos Cervera, der homosexuelle Tänzer, der aus dem Priesterseminar nach Barcelona flüchtet, ein Großonkel des Autors, führt ebenfalls ein geheimnisumwittertes Leben, das ihn in viele Länder führte – und auch er schreibt manchmal einen Brief oder eine Postkarte, in denen er immer wiederholt, dass es ihm gut gehe. Er lernt García Lorca in Argentinien kennen und rezitiert voller Inbrunst seine Gedichte – etwas übertrieben, befindet die Familie. Irgendwann überkommt ihn das Heimweh, er ist krank und kehrt nach Ibiza zurück. Kaum genesen, zieht es ihn aber wieder in die Ferne, obwohl sich die Insel in den Jahrzehnten seiner Abwesenheit deutlich modernisiert hat und es jetzt auch Platz für Außenseiter wie ihn gibt. Zwei Jahre später kommt die Nachricht von seinem Tod aus Mexiko.

Der letzte, sehr starke Text zeigt die Problematik des Bürgerkriegs: Major Chico, überzeugter Pazifist und Republikaner, wird von Madrid in den Krieg beordert und muss nach dem Sieg Francos ins Exil fliehen. Er überlebt, zunächst unter sehr harten Bedingungen, in einem Lager im Südwesten Frankreichs. Für ihn gibt es aber unter Franco keine Möglichkeit, nach Spanien zurückzukehren, und nur einmal wird er von seiner Schwester und seinem Neffen – Valeros Vater – besucht. Seine trostlose Geschichte wird in der Familie immer nur leise und zugleich voller Hochachtung erzählt, weshalb der Erzähler unbedingt mehr über ihn ausfindig machen möchte. Schließlich beschließt er eines Tages, sein Grab in Lisle-sur-Tarn aufzusuchen.

Dem Autor gelingt es, die Schicksale seiner fremden Verwandten, die von Gerüchten und Vermutungen umgeben sind, einprägsam darzustellen, die Personen treten dem Leser plastisch vor Augen. Ja, sie waren vielleicht Sonderlinge für die Insel, suchten in der Fremde ein Glück, das die Insel nicht bieten konnte, und doch brachen sie die Verbindung zur Familie nie ganz ab. Inselbewohner betonen gerne, dass ihr Heimatgefühl besonders stark ist, die familiären Wurzeln nie gekappt werden. Diese Texte sind ein Beweis für diese Überzeugung, denn keiner der Protagonisten kann oder will sich ganz lösen, alle bleiben sie in der Familie präsent, man spricht über sie, ist sogar stolz auf sie, liest sich die Briefe vor: Sie sind keine verlorenen Söhne, sondern vertraute Fremde.

Valero, der mehrere Gedichtbände publiziert hat sowie einen bemerkenswerten Text über Walter Benjamin und seine Jahre in Ibiza (1932/33), gelingt es, dem Leser die Schicksale seiner fernen, fremden Verwandten sehr nahezubringen. Seine poetische, zugleich klare und schillernde Prosa ist so anziehend wie das Meer vor Ibiza.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Vicente Valero: Die Fremden.
Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Berenberg Verlag, Berlin 2017.
176 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334255

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