Selbstporträt auf 54 Bierdeckeln
Der belgische Schriftsteller David van Reybrouck erfindet die Ode neu
Von Willi Huntemann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseÜber Jahrtausende hat sich die europäische Literatur als Formkunst verstanden, als regelgeleitete Herstellung von Dichtwerken, und auch seitdem normative Poetiken an Geltung zu verlieren begannen, haben Gattungsbegriffe wie Novelle, Kriminalroman, Geschichtsdrama oder erst recht die zahlreichen Genres von Dichtung in gebundener Sprache immerhin noch einen Orientierungswert bei der Verständigung über und der Beurteilung von Literatur.
Aber auch die Formauflösung und Formzertrümmerung, die der literarische Modernismus mit sich brachte, haben noch ein Bewusstsein der einst verbindlichen Formen und Muster vorausgesetzt, um als Normbruch verstanden werden zu können. Zu einer Restituierung von scheinbar überholten Genres und Schreibformen – vor allem im Feld der erzählenden Literatur – kam es dann im Postmodernismus, dies freilich im Modus von ironischem Spiel und Zitat.
Nun ist der Postmodernismus mittlerweile selbst wieder Geschichte geworden. Wenn der mit dem Büchnerpreis ausgezeichnete Lyriker Jan Wagner in seiner Pastiche-Sammlung Die Eulenhasser in den Hallenhäusern (2012) gekonnt stilisierte Gedichte in traditioneller Schreibweise und festen Formen fiktiven Autoren in die Feder legt, mag man das noch postmodern nennen, doch in den darauffolgenden Lyriksammlungen hat Wagner diesen Rahmen der Uneigentlichkeit fallen lassen und dichtet mit eigener Stimme wieder „traditionell“ – und dazu noch Naturlyrik. Ist er noch oder schon wieder bei festen Formen?
Auch wenn die Tradition formbewusster Lyrik nie ganz abgerissen war – man denke nur an Peter Rühmkorf oder Robert Gernhardt –, so merkt man auf, wenn man auf einem Umschlag den Titel Oden liest. Es ist ausgerechnet diejenige lyrische Form mit der längsten Tradition, die seit Klopstock jedoch so abgestorben ist, dass sie – ganz anders etwa als das Sonett, das bis heute ein produktives und lebendiges Formmodell geblieben ist – nicht einmal mehr als Folie für Spiel oder Persiflage taugt.
Was uns der Belgier David Van Reybrouck unter diesem Titel anbietet, könnte in formaler wie gehaltlicher Hinsicht nicht weiter von dem entfernt sein, was bisher unter Ode verstanden wurde. Es handelt sich (mit zwei Ausnahmen) um Prosatexte, die mit der Ode einzig noch verbindet, dass Menschen, Dinge und Werte emphatisch gewürdigt oder gerühmt werden. Darin, dass ein Gattungsbegriff nahezu um all das gebracht wird, wofür er in der Tradition stand und, jenseits auch kritischer Bezugnahme, nur als unverbindliches Label dient, wie schon seit langem die Bezeichnung „Roman“, mag man ein Symptom für das indifferente Verhältnis heutiger Schreibpraxis zu literarischen Gattungen sehen, nach der Postmoderne. Es liegt darin auch keinerlei Provokation mehr, denn dafür müsste die Ode noch im literarischen Bewusstsein lebendig sein. Mit gleichem Recht hätten Jenny Erpenbeck und Judith Schalansky ihre Würdigungen verlorengegangener Dinge (Dinge, die verschwinden, 2009 bzw. Verzeichnis einiger Verluste, 2018; nebenbei bemerkt: beiden Büchern liegt dieselbe Idee zugrunde, was aber keinem Kritiker aufgefallen ist) „Elegien“ überschreiben können. Was der Autor hier zusammengestellt hat, könnte schlichter mit „Lob der/des …“, „Hommage an …“ oder „Liebeserklärung an …“ betitelt sein, wenn ihm das alles wohl nicht zu abgegriffen klänge; es „Ode“ zu nennen, ist eine prätentiöse Überhöhung und ein Etikettenschwindel.
Wie in den Sammlungen der großen Essayisten wechseln die Themen und Gegenstände in bunter Folge: es geht um bekannte Musiker wie Keith Jarrett, David Bowie, Leonard Cohen oder Mariss Jansons, um Erfahrungen und Werte wie Eifersucht, Scheitern, Trost, Liebe wie um Persönlichkeiten aus der globalen Öffentlichkeit wie Kofi Annan oder religiöse Autoritäten. Daneben sind manche „Oden“ Freunden und Bekannten des Autors gewidmet oder auch alltäglichen Orten wie der nächtlichen Autobahn, der Bahnhofsgaststätte oder der Umkleidekabine.
Die jeweils nur wenige Seiten langen Betrachtungen wurzeln stets in persönlichen Erlebnissen des Autors, deren Schilderung die gedankliche Vertiefung verdrängt, und wenn man das ansprechend gestaltete Buch schließlich aus der Hand legt, wird man gewahr, dass man ein Selbstporträt des Autors gelesen hat, der sich nur in den verschiedensten Gegenständen, die letztlich austauschbar sind und mit wenigen Ausnahmen in der Erinnerung verblassen, gespiegelt hat. Dieser Eindruck mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Texte, ursprünglich in einem niederländischen Online-Magazin im Wochentakt veröffentlicht, nun unmittelbar hintereinander zu lesen sind.
Der 48-jährige Van Reybrouck ist ein typischer Vertreter der aktuell so gescholtenen Kaste der Kosmopoliten: einer, der als Interviewer, Forscher oder Vortragender auf der ganzen Welt zu Hause ist. Dies schon berufsbedingt, ist er doch „Schriftsteller, Dramatiker, Journalist, Archäologe, Historiker und Sozialkritiker“, wie der Klappentext informiert. Vereinzelte Begegnungen mit „einfachen Leuten“ wecken sein schlechtes Gewissen, wie in einem Text über eine Berliner Currywurstverkäuferin, deren Bude soziale Wärme verbreitet, oder der Ode an die Putzfrau, eine Migrantin, die in einer Winternacht dem kranken Journalisten einen Topf mit heißer Suppe ins Haus bringt – hier gleitet die Würdigung in veritablen Sozialkitsch ab.
Der gut vernetzte Van Reybrouck – und das wird ihn sicher bei vielen Leserinnen und Lesern sympathisch machen – hält aber auch kulturkritische Plädoyers für das Offline-Sein oder das Nichtfotografieren auf Reisen, preist den Wert der Brüderlichkeit oder setzt sich für die niederländische Sprache ein. Er ist ein Kind der Popkultur, weiß sich aber gleichzeitig für den Teppich von Bayeux in der Normandie zu begeistern; für ihn, in typisch hyperbolischer Emphase, der „schönste Gegenstand in Europa“. Der sich selbst als gottlos Bezeichnende weiß in der Ode an die Eucharistie sogar der heimischen katholischen Religion ästhetisch etwas abzugewinnen, sofern sie neben (selbst erlebten) religiösen Feiern in der Wüste, in Sankt Petersburg und im Kongo den Ruch des Provinziell-Rückständigen abgestreift hat und selbst exotisch geworden ist für den Multikulti-Religionsschwärmer Van Reybrouck, der dabei auch wieder nur seine Weltläufigkeit spiegelt.
Und wenn der Odenschreiber nach einem Moralkompass für die heutige Welt sucht, findet er ihn im Weltethos gleich aller großen Weltreligionen und ihren Oberhäuptern, deren geballter Weisheit er mehr vertraut als kurzsichtigen Politikern. Damit kann man nichts mehr falsch machen, so wohlfeil ist das. Wenn Van Reybrouck einen Bekannten in den USA nach 18 Jahren wiedertrifft, ist es nicht etwa ein alter Schulfreund – daraus wäre sicher keine Ode an das Wiedersehen hervorgegangen –, sondern ein jüdisch-russischer Arzt und Vietnam-Veteran, der mit Kurt Vonnegut befreundet ist. Kennengelernt hatten sich die beiden auf einem Kongress unter der Leitung des Nobelpreisträgers James Watson, was mit understatement in der Einleitung erwähnt wird. Auch hier schiebt sich die anekdotische Selbstinszenierung vor die Sache, der die „Ode“ gilt.
Gespannt ist man, wie eine Ode an den Frühling, einem altmodisch wirkenden Allerweltsthema, aussehen mag. Van Reybrouck fühlt sich bemüßigt, den heimischen Frühling zu preisen, kann dies aber nur, indem er – im Schillerschen Sinne „sentimentalisch“ – über Natur in Literatur und Kunst sinniert und dabei in einem assoziativen Vergleich eines Seerosenbildes von Monet mit dem farbverklecksten Atelierboden des action painters Jackson Pollock die Nähe von gegenständlicher und abstrakter Malerei veranschaulicht. In einem verblüffenden Vexierbild spiegeln sich der Frühlingswald bei Brüssel, Monets Seerosen und Pollocks abstrakte Bildkunst ineinander. (Nur dank eingefügter hochwertiger Farbreproduktionen wird dies freilich nachvollziehbar.)
Eine ähnliche Bildbetrachtung (Ode an die Nonchalance), die exemplarisch Stilzüge reifer Könnerschaft aufzeigen will, spannt den Bogen von einem Bild Max Liebermanns zurück zur Naturmalerei William Turners, dessen Werkentwicklung hin zur Entgegenständlichung in wenigen prägnanten Bildausschnitten vor Augen geführt wird. Das sind gelungene Kabinettstückchen, wo die subjektive Perspektive nicht zu Schwärmerei, sondern pointierten Erkenntnissen führt.
Was für ein schöner Band mit solchen Mini-Essays wäre herausgekommen, hätte der Autor sich auf Bildbetrachtungen dieser Art beschränkt, statt alles und nichts zum Sujet seiner Würdigungen zu machen! Dann wäre das eigentlich begrüßenswerte Vorhaben, sich in kurzen Texten einmal nicht über Zeiterscheinungen zu mokieren oder etwas satirisch aufzuspießen, wie in derartigen Kolumnen meist üblich, vor dem Abgleiten in humanistisch-weltbürgerliche Pose und Selbstdarstellerei eher gefeit gewesen. Man könnte jetzt noch die Titelvignetten des Stockholmer Grafikers Tzenko loben – fein gestrichelte Kommentare auf Bierdeckeln mit ganz eigenem Bildwitz, wenn der Autor das mit einiger Chuzpe nicht selbst schon übernommen hätte.
Das Buch ist ein ideales Coffee-table-Geschenk für jemanden, der damit auf der Höhe des Zeitgeistes sein und nichts falsch machen will. Wer von essayistischer Kurzprosa mehr erwartet, sollte die Finger davon lassen. Für eine Fortsetzung seiner Kolumnen aus dem Oden-Wald möchte man Van Reybrouck empfehlen, es doch einmal mit einer „Ode an die Form“ zu versuchen – ganz formlos, versteht sich.
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