Verbrechen – und Strafe?

Unsystematische Überlegungen zum systematischen Ort eines verdrängten Handlungselements der Kriminalliteratur

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

I. Die Notwendigkeit der Strafe

Raymond Chandler, neben Dashiell Hammett der zweite ganz große Klassiker der hard boiled-Schule, erklärt in seinen Beiläufigen Anmerkungen zum Kriminalroman von 1949: „Der Kriminalroman muß den Verbrecher auf irgendeine Weise bestrafen, wenn auch nicht notwendigerweise durch den Spruch eines Gerichts. Im Gegensatz zur landläufigen Ansicht hat dies gar nichts mit Moral zu tun. Es gehört nur einfach zur Logik der Form. Ohne diese Strafe wäre die Geschichte wie ein unaufgelöster Akkord in der Musik. Sie hinterließe ein Gefühl der Irritation.“ (Chandler 1975, 76f.)

Das klingt unmittelbar einleuchtend, doch obwohl die „Bestrafung des Verbrechers im Kriminalroman“ (Anz 2003. S. 465) im ehrwürdigen Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft als Musterbeispiel für vorgegebene Gattungsschemata angeführt wird, hat der Aspekt der Strafe in der Forschung zum Kriminalgenre keine allzu große Aufmerksamkeit erfahren. Davon zeugt jüngst das Handbuch Kriminalliteratur, das unter anderem „Zentrale Aspekte“ wie „Verbrechen“, „Untersuchung/Ermittlung“, „Verhör“ oder „Geständnis“ mit eigenen Artikeln bedenkt (vgl. Düwell/Bartl/Hamann/Ruf 2018). „Strafe“ indes, obschon offenkundig unverzichtbarer Genre-Baustein, gilt augenscheinlich nicht als „zentraler Aspekt“. Auch in den einschlägigen Einführungsbüchern, die sich meist auf den „Kriminalroman“ beschränken, herrscht über diesen Aspekt (bis in die Sachregister hinein) beredtes Schweigen (vgl. Symons 1982, Marsch 1983, Suerbaum 1984, Leonhardt 1990, Nusser 2003, Kniesche 2015). Das legt den Verdacht nahe, dass es sich weniger um kollektives Forschungsversagen handelt als vielmehr um eine Aussparung, die in der Kriminalliteratur selbst vorgenommen wird.

Präliminarien einer literarischen Pönologie (die auch Schmidhäuser 1996 nicht bietet) stehen einstweilen noch aus. Die folgenden unsystematischen, unvollständigen und notwendigerweise vorläufigen Überlegungen wollen den systematischen Ort der Strafe in der Kriminalliteratur (die Ausweitung des Fokus gegenüber Chandlers Redeweise vom „Kriminalroman“ sei erlaubt) in den Blick nehmen.

II. Ödipus und die Detektive: Die Marginalisierung der Strafe

Ein willkürlicher Anfang, wenn auch kein unbegründeter, da es sich geradezu um die mythische Urszene der Kriminalliteratur handelt: Ödipus begegnet der Sphinx, die auf einem Felsen vor den Toren Thebens lagert und den Bewohnern der Stadt ein Rätsel stellt. Ist die Antwort falsch, ergreift die Sphinx denjenigen, dem die Lösung aufgegeben war, zerreißt und frisst ihn. Ödipus befreit Theben vom Joch der Sphinx, indem er das Rätsel löst und dadurch die gestörte Ordnung restauriert – der Held erfüllt funktional die noch längst nicht definierte Rolle eines Detektivs. Zur Belohnung erhält er die Königswürde und die Hand der Königin Iokaste.

Einige Jahre vergehen in schönster Harmonie, bis sich die Ordnung erneut als empfindlich gestört erweist – hier setzt die Tragödie König Ödipus von Sophokles ein, die vermutlich zwischen 429 und 425 v. Chr. entstanden ist. Ödipus, nunmehr König von Theben, wendet sich an sein Volk, das unter der Pest leidet. Sein Schwager Kreon hat in Delphi das Orakel befragt und weiß zu berichten, dass Apoll befohlen habe, „des Landes Schandfleck […] hinauszujagen“ (Sophokles 2002, 8). Die Reinigung von diesem „Schandfleck“ bestehe in „Ächtung oder Sühne, die Tod mit Tod vergilt“ (ebd.). Der „Tod“, auf den hier Bezug genommen wird, ist der Mord an Laios, dem einstigen König von Theben, der auf einer Reise umgebracht wurde, bevor Ödipus in die Stadt kam. Das Orakel erteilt also die Aufgabe, „die Mörder, wer sie auch sei’n, zu strafen“ (ebd., 9).

So bemerkenswert auch der Umstand ist, dass erst eine kollektive göttliche Strafe zur Detektion führt – entscheidend ist doch die Etablierung eines Strukturmodells: Eine in der Vergangenheit liegende, mysteriöse Schuld in Form eines Mordes soll bestraft werden, um die aktuelle Unordnung zu beheben. Der Protagonist macht sich den Orakelspruch sogleich zur Aufgabe. Es ist längst ein Gemeinplatz, in der mythischen Figur des Ödipus den ersten Detektiv der Literaturgeschichte zu sehen. Sigmund Freud, der folgenreichste Interpret des Ödipus-Mythos, hebt hervor, dass die „Handlung des Stückes […] in nichts anderem als in der schrittweise gesteigerten und kunstvoll verzögerten Enthüllung“ eines Mordfalls besteht (Freud 2000, 266). Tatsächlich betätigt sich Ödipus wie ein Detektiv und ermittelt allmählich den Mörder des alten Königs – mit dem tragischen Ergebnis, dass er einsehen muss, selbst der gesuchte Mörder zu sein. Und schlimmer noch: Aufgrund schicksalhafter Verflechtungen hat er in Laios seinen eigenen, ihm freilich unbekannten Vater erschlagen, mit der Folge, dass er seine ihm ebenfalls unbekannte verwitwete Mutter geehelicht und Nachkommen mit ihr gezeugt hat.

Als das Unglück an den Tag gebracht ist, setzt ein Strafszenario ein, das ungleich kürzer ist als der Gang der Ermittlung und nur dazu dient, sie abzurunden: Iokaste bringt sich um, Ödipus sticht sich zur Buße die Augen aus. Da er zuvor unwissend über seine eigene Rolle den Mörder verfluchte und ihn aus Theben verbannte, muss der gefallene Retter nun sein Königreich als unglückseligster aller Menschen verlassen. König Ödipus steuert auf die Strafe zu, um die Unordnung wieder ins Lot zu bringen, marginalisiert allerdings den Akt der Bestrafung. Dieses Grundmodell legt einen systematischen Ort der Strafe in der Kriminalliteratur fest – einen Ort, der gewissermaßen im Imaginären, in einem Text-Außerhalb liegt. An König Ödipus lässt sich mustergültig das nachvollziehen, was Tzvetan Todorov als die „Doppelstruktur“ von Kriminalgeschichten mit Rätselcharakter beschrieben hat: Sie enthalten „nicht eine, sondern zwei Geschichten: die Geschichte des Verbrechens und die seiner Untersuchung“ (Todorov 1998, 209). Dabei ist die erste Geschichte bereits beendet, wenn die zweite beginnt – der Mord ist geschehen, die Leiche kann gefunden werden. Auf die Rekonstruktion dieser ersten Geschichte ist alles ausgerichtet, sie gibt der zweiten Geschichte, die von der Ermittlung handelt, ihr Ziel. Im Zuge der Untersuchung erfahren die Leser Schritt für Schritt, wie sich die Tat zugetragen hat. Die Bestrafung des Verbrechens indes – ihre Vorbereitung, ihre detaillierte Durchführung und ihre etwaigen Folgen – wäre eine neuerliche, eine dritte Geschichte, die üblicherweise nicht mehr erzählt oder auf der Bühne dargestellt wird. Die Folgen werden allenfalls in andere Texte verlegt, wie in Sophokles’ Ödipus auf Kolonos, aber der Mythos als übergreifender Ereigniszusammenhang hat für die moderne Kriminalliteratur keine strukturelle Bedeutung.

Für den Detektivroman wäre die Integration einer Bestrafungsgeschichte erzählökonomisch nicht zu leisten. Diese Spielart, die in all ihren Modifikationen noch immer die größte Beachtung auf dem Feld der Kriminalliteratur erhält, entwickelte sich aus der kürzeren Detektiverzählung in der Tradition von Edgar Allan Poe, Arthur Conan Doyle oder Gilbert Keith Chesterton zu einer längeren Erzählform. Diese Form wird von drei großen inhaltlichen Elementen getragen: Am Beginn (häufig nicht unmittelbar, sondern nach einer Exposition) steht „das rätselhafte Verbrechen (der Mord)“; den überwiegenden Teil des Romans nimmt die Ermittlung in Anspruch, „die Fahndung nach dem Verbrecher (den Verbrechern), die Rekonstruktion des Tathergangs, die Klärung für die Motive der Tat“, wobei es für diesen Teil konstitutiv ist, dass die Lesenden mit diversen Hinweisen konfrontiert werden und miträtseln; die letzten Kapitel bieten dann „die Lösung des Falles und die Überführung des Täters (der Täter)“ (alle Zitate Nusser 2003, 22), wobei alle vorher verstreuten Hinweise zusammengeführt werden und in einer überraschenden Auflösung münden. Alles zielt auf die Entlarvung des Täters und steht im Dienste der Spannung, die mit der Whodunit-Frage verknüpft ist. Ein Fortführen der Erzählung nach der Überführung des Täters läge quer zu allen Konventionen des Genres (was beispielsweise dazu führte, dass die TV-Serie Twin Peaks bei der deutschen Erstausstrahlung einige Folgen vor dem Ende eingestellt wurde, da der Mordfall gelöst war und alles Folgende offenkundig für irrelevant erachtet wurde).

Der Detektivroman ist eine hochgradig geschlossene Form. Im Anschluss an die vielbemühte Aussage aus der Poetik des Aristoteles, ein Epos erzähle eine Handlung, die Anfang, Mitte und Ende hat, ließe sich sagen, dass auch die Handlung eines Detektivromans Anfang, Mitte und Ende hat – und das Ende bildet die Rekonstruktion des Verbrechens durch den Detektiv. Für die Strafe, die nach diesem Ende käme, ist schlichtweg kein Platz mehr. „Der dritte Strukturteil, die Aufklärung, ist ein Abschluß, auf den schlechterdings nichts mehr folgen kann. Die angestaute Spannung hat sich entladen, das Problem ist gelöst, wenn die Erzählung weiterlaufen soll, müßte sie zu einem neuen Beginn ausholen.“ (Suerbaum 1998, 89) Die Bestrafung würde eine neue Erzählung erfordern. Für den Abschluss des Detektivromans ist die Überführung des Verbrechers von weit größerer Wichtigkeit als die anschließende Sanktion. Die Aussicht auf eine Bestrafung ist für das Gattungsschema und den damit verbundenen literaturanthropologischen Stimulus, Unordnung wieder in Ordnung zu überführen, wohl unabdingbar, nicht aber die Schilderung der Strafe selbst.

Ist die Spannung erloschen, muss nichts mehr erzählt werden, oder noch pointierter: will kein Leser weiterlesen. Daher kann es zwar am Anfang eines Kriminalromans wie Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz von 1929 (der freilich einem ganz anderen Strukturmodell folgt als der klassische Detektivroman) heißen „Die Strafe beginnt“ (Döblin 1999, 8), nicht aber nach der Aufklärung eines Verbrechens samt Überführung des Täters. Dass die Strafe in Döblins Roman beginnt, nachdem Franz Biberkopf seine Haftstrafe verbüßt und das Gefängnis gerade verlassen hat, verweist darauf, dass die konkrete Praxis des Strafens eben kaum dargestellt wird und Literatur Strafe meist als internalisiertes Moment des Sühnens, nicht jedoch als (staatliche) Gewaltausübung, Züchtigung oder Besserung von Straftätern aufgreift.

Heißt es im Epilog von Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan (Uraufführung 1943) „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen“ (Brecht 1964, 144), muss für den Detektivroman die Umkehrung dieses Bonmots gelten: Die Leser sitzen bequem und sehen erleichtert, dass sich der imaginäre Vorhang schließt, nachdem alle Fragen geklärt sind. Die Frage, ob der Verbrecher bestraft wird, stellt sich nicht, es wird als selbstverständlich angenommen. Die Frage, wie er bestraft wird, ist im je vorliegenden Erzähluniversum meist ohne Belang. Das zeigt exemplarisch Das fehlende Glied in der Kette (1920) von Agatha Christie. Die „Queen of crime“ lässt ihren Meisterdetektiv Hercule Poirot zwar das vorletzte Kapitel mit dem Knalleffekt der Entlarvung des Mörders beenden, im letzten Kapitel aber wird nur lapidar mitgeteilt, dass der Täter und seine Komplizin im Gefängnis sitzen. Mehr muss der Text nicht zum Zusammenhang der Strafe sagen, da zum einen der Mörder im Moment der Überführung seine Schuldigkeit für die Narration erfüllt hat und weil zum anderen zur Zeit der Produktion der klassischen Detektivromane stillschweigend vorausgesetzt werden konnte, dass Mord die Todesstrafe nach sich zieht. Dadurch nahm das realhistorische Strafmaß sogar Einfluss auf die Poetik des Detektivromans, wie pointiert aus S. S. van Dines berühmtem Regelkatalog von 1928 hervorgeht: „Im Detektivroman muß es ganz einfach eine Leiche geben, und je toter sie ist, desto besser. Ein kleineres Verbrechen als Mord reicht einfach nicht aus.“ (Van Dine 1971, 144) Das ist trotz der humoristisch anmutenden Formulierung ein systematisch gewichtiger Punkt: Es bedarf einer gewissen Fallhöhe, um die Aufmerksamkeit des Lesers und damit auch die Spannungskurve des Textes über die Dauer eines Romans hochzuhalten. Es ist das stets implizierte, aber kaum je ausgesprochene Ausmaß der Bestrafung (wenn auch nicht die Umstände des tatsächlichen Vollzugs), aus dem sich die Notwendigkeit des Mordes als Ausgangspunkt für die Detektion ergibt.

Nicht minder zynisch mag es für nachgeborene Lesern wirken, dass der als Mörder überführte Erzähler in Christies Alibi (1926) zum Ende des Erzählaktes Suizid begehen wird, wodurch er zwar der Bestrafung durch die Obrigkeit entgeht, aber, wie er ausdrücklich anmerkt, eine „poetische Gerechtigkeit“ erwirkt (Christie 2005, 197). Just für diese „poetische Gerechtigkeit“ ist die das Wissen um die (als angemessen erachtete) Strafe im Detektivroman notwendig. Methoden und Institutionen der Strafe selbst aber geraten dabei nicht in den Blick.

III. Schaulust statt Rätsellust, Verständnis statt Bestrafung

Nicht immer war die Strafe in der Kriminalliteratur so marginalisiert oder gar verdrängt wie im Detektivroman. Die Kriminalfallgeschichten der Frühen Neuzeit weisen der Strafe einen anderen Ort und Umfang im Text zu – wo, plakativ gesprochen, ab Poes Erfindung des Meisterdetektivs in The murders in the Rue morgue (1841) die Rätsellust dominiert, herrschte vorher lange Zeit eine auch von der Literatur bediente Schaulust, die Strafe als gerechtfertigtes Spektakel zelebrierte.

Vor der Entwicklung des modernen Kriminalgenres hatte Literatur (in einem weiteren Sinne verstanden) zuweilen die Aufgabe, Strafpropaganda zu betreiben. Michel Foucault erwähnt in seiner längst zu einem Klassiker der Kulturwissenschaften avancierten Studie Überwachen und Strafen (1975) die „Schafott-Diskurse“ des 18. Jahrhunderts. Gemeint sind damit kurze Texte, in denen ein Verurteilter „in der öffentlichen Abbitte seine Schuld selbst kundtat“ (Foucault 1994, 85). Der verurteilte Verbrecher will in diesen Texten nicht für Verständnis seiner Taten werben oder seine Unschuld beteuern; vielmehr bestätigt er seine Taten und die Gerechtigkeit der Verurteilung. Bisweilen, so Foucault, handele es sich um „wirkliche Erklärungen, aber häufiger um fiktive Reden, die man zur Erbauung in Umlauf setzte“ (ebd.). Verbreitet wurden dadurch moralische Lehren, die gleichsam zur Verbrechensprävention dienen sollten. Solche Bekenntnisse wurden meist als fliegende Blätter verbreitet. Sie stellten gewissermaßen den Abschluss des Strafprozesses dar, oder auch die Weiterführung der Folter zum Zwecke der Wahrheitsfindung. Das schriftlich fixierte (und sei es auch erdichtete) Schuldbekenntnis des Verbrechers sollte, da es „Beweise“ in einem modernen Sinne nicht gab, die Rechtmäßigkeit der Verurteilung untermauern. Teilweise war die Reihenfolge eine andere, wenn Verbrechenserzählungen veröffentlicht und in Umlauf gebracht wurden, um die öffentliche Meinung vor Beginn des Prozesses zu lenken: „Es kam sogar vor, daß zu Propagandazwecken vor Prozeßbeginn Verbrechergeschichten und -schicksale veröffentlicht wurden, um einer allzu milden Bestrafung vorzubeugen“ (ebd., 86).

Sammlungen von Kriminalerzählungen allerdings gab es schon früher. Im deutschen Sprachraum ist besonders Georg Philipp Harsdörffers um 1650 publizierte Sammlung Der Grosse Schauplatz jämmerlicher Mord-Geschichte zu nennen. Harsdörffer präsentiert 200 eher knappe, überwiegend nur vier bis fünf Druckseiten umfassende Verbrechenserzählungen (weiterführend Siebenpfeiffer 2006). Zu Beginn und am Ende der Erzählungen stehen meist moraldidaktische Unterweisungen, in denen das Kriminalgeschehen in einen heilsgeschichtlichen Deutungszusammenhang integriert wird. Das für die moderne Kriminalerzählung so wesentliche Moment der Aufklärung des Falles ist für Texte dieses Modells nicht von Belang, da der Täter von Anfang an bekannt ist. Die Erzählungen enden üblicherweise mit dessen Bestrafung durch eine weltliche oder göttliche Gerichtsbarkeit. Die Sanktion der Tat durch die am Körper des Verurteilten vollzogene Strafe ist diesen Texten erheblich wichtiger als der Prozess der Aufklärung oder die Beleuchtung der inneren Befindlichkeit des Täters. In den zahlreichen Exempel-Sammlungen, die im 17. Jahrhundert in ganz Europa entstehen und die häufig die gleichen Fälle aufbereiten, später aber kaum mehr rezipiert wurden, werden der äußere Tathergang und die grausamen Strafrituale geschildert.

Das ändert sich nachdrücklich im 18. Jahrhundert. Die Kriminalerzählungen der Aufklärung wenden ihr Erkenntnisinteresse gewissermaßen vom Körper auf die Seele – weniger um sie einer Strafe zu unterziehen als vielmehr, um sie zu verstehen (was gleichwohl, diese Dialektik ist geradezu unvermeidlich, dazu führte, sie besser bestrafen zu können). Friedrich Schiller sieht Kriminalerzählungen insbesondere als Möglichkeit, „tiefere Blicke in das Menschenherz zu tun“ (Schiller 2004a, 865). Verbrechensgeschichten sind für ihn Medien psychologischer und, damit einhergehend, anthropologischer Neugier, von ihnen sei ein „wichtige[r] Gewinn für Menschenkenntnis und Menschenbehandlung“ zu erwarten (ebd., 866). Das Moment der Strafe rückt dadurch aus dem Fokus.

In seiner eigenen Kriminalnovelle Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/92) allerdings hat Schiller der Strafe durchaus erhebliche Bedeutung zugemessen. Der Protagonist wird aus einer monetären Zwangslage heraus mehrfach zum Wilddieb, wird stets aufs Neue ertappt und landet schließlich im Zuchthaus. Diese erste Gefängnisstrafe bedingt die anschließende weitreichende Ausgliederung aus der Gesellschaft, die wiederum die nächste Straftat verursacht. Es beginnt eine Spirale der Kriminalisierung, die durch die Strafen immer nur verstärkt wird. Der mangelnde Nutzen von Strafen wiederum ist ein Anlass zur Justizkritik: „Die Richter sahen in das Buch der Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsverfassung des Beklagten.“ (Schiller 2004b, 17) Die je spezifische sozialpsychologische Disposition des Kriminellen wird vom Rechtssystem und dessen Strafmechanismen nicht beachtet. Der Protagonist selbst wird sich deswegen als „Märtyrer des natürlichen Rechts und als ein Schlachtopfer der Gesetze“ (ebd., 18) bezeichnen.

Die dreijährige Haftstrafe, zu der er nun verurteilt wird, macht alles nur noch schlimmer. Sie wirkt geradezu persönlichkeitsverändernd, aber nicht etwa im Sinne einer Besserung. Als vergleichsweise harmloser Wilddieb wird er mit Mördern zusammengesperrt, harter Arbeit sowie der „Barbarei [s]einer Wächter“ (ebd.) ausgesetzt, was seiner kriminellen Karriere Vorschub leistet. Die Institution der Strafe selbst wird zum einen (wie es für die vormoderne Strafpraxis üblich ist) als Akt der Vergeltung ausgewiesen, zum anderen als integraler Bestandteil der Kriminalisierung selbst. Sie ist Glied in einer kausalen Kette von kleineren Vergehen hin zu Kapitalverbrechen. Der Detektiverzählung wird von Walter Benjamin attestiert, ihr Interesse liege „in einer logischen Konstruktion […], die als solche der Kriminalnovelle nicht eignen muß“ (Benjamin 1991, 544). Da ist nicht falsch – die berühmteste aller Kriminalnovellen aber, Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre, zeigt nachdrücklich, dass wir es auch bei diesem literarischen Modell mit einer narrativ arrangierten „logischen Konstruktion“ zu tun haben. Sie ist anders gebaut als das rückwärtsgewandte Rätselgebilde des Detektivromans, dennoch präsentiert uns Schiller im Wissen um den Ausgang der Entwicklung des Protagonisten die Teleologie eines Verbrecherlebens, dessen Entwicklung kausal geordnet, lückenlos und folgerichtig ist. Innerhalb dieses kausalen Arrangements nehmen Strafmaßnahmen eine zentrale Rolle ein – aber nicht allein als „Sanktionen seitens des Staates, die auf eine Gesetzesübertretung folgen“ (Dübgen 2016, 9), sondern im gleichen Ausmaß als Anlass für Delinquenz.

Der systematische Ort von Strafmaßnahmen in Schillers Novelle ist ambivalent. Sie sind zum einen signifikante Ereignisse in der erzählten Lebensgeschichte: Erst durch Strafen wird ein Mensch endgültig zum Kriminellen – ihr „Nutzen“ ist dadurch ad absurdum geführt. Zum anderen bricht die Erzählung ab, bevor die Todesstrafe am schließlich gefassten und geständigen Verbrecher vollzogen wird; dass dies auf das Geständnis folgen wird, ist den Lesern gleichwohl aufgrund einer zukunftsgewissen Vorausdeutung schon seit Beginn der Erzählung bekannt. Obwohl Schillers Text poetologisch und inhaltlich von modernen Detektivgeschichten weit entfernt ist, entspricht er ihnen in diesem Aspekt. Der Vollzug der Strafe wäre eine andere Geschichte, die allein die Schau- und Sensationslust des Publikums, das doch zu Besserem erzogen werden soll, befriedigen würde. Zudem endet mit der in diesem Fall verhängten Todesstrafe auch das Leben des Protagonisten, sodass von den Folgen der Strafe nicht mehr erzählt werden könnte, ohne einen ganz neuen Anlauf zu nehmen.

In den vom französischen Juristen François Gayot de Pitaval von 1734 bis 1743 in 20 Bänden publizierten Kriminal- und Rechtsgeschichten indes spielt Strafe durchaus eine auch handlungstragende Rolle. Diese bis heute berühmteste (wenngleich, auch mangels greifbarer Textausgaben, kaum mehr gelesene) Sammlung, die als „der Pitaval“ zur häufig nachgeahmten Marke avancierte, bei der man gar nicht mehr an den Autor denkt, sondern an eine Form und ein Genre, war auch die Grundlage für die unter anderem von Schiller vollzogene Anthropologisierung des Genres. Allerdings zeigt ein genauerer Blick, dass eine auf das Ende ausgerichtete Spannung vielen Pitaval-Erzählungen wichtiger ist als die von Schiller an der Sammlung gerühmten „Blicke in das Menschenherz“ (Schiller 2004a, 865). Ebenfalls von einiger Wichtigkeit ist die Schilderung der Strafe. Zwar wird nicht detailreich von der tatsächlichen Umsetzung der Leibesmarter erzählt – was ein sensationslüsternes Publikum sicherlich gerne gelesen hätte. Wohl aber wird, etwa in der Erzählung Martin Guerre, in aller Nüchternheit mitgeteilt, ein Betrüger sei dazu verurteilt worden, „daß er vor der Kirche […] auf den Knien, im Hemd, mit bloßem Kopf und Füßen, einen Strick um den Hals und eine brennende Wachskerze in der Hand, Gott, den König, die Obrigkeit und [die Betrogenen] um Verzeihung bitten, von da durch die Straßen und Gassen der Stadt […] geführt und endlich vor dem Hause [des Betrogenen] aufgehängt, sein Körper aber hernach verbrannt werden solle“ (Pitaval, 30). Das frühneuzeitliche „Fest der Martern“ (vgl. Foucault 1994) hat bei Pitaval noch seine Spuren hinterlassen. Die Schilderung des peinvollen Spektakels dient gleichwohl eher dazu, einem Publikum des 18. Jahrhunderts – das ja noch immer ein Publikum in einem vorrevolutionären und mithin absolutistischen System ist – die Grausamkeit der sich auf den Körper des Verurteilten richtenden Strafen zu verdeutlichen, was als implizite Kritik an einer solchen Strafpraxis gewertet werden kann. Explizit hingegen wird an zahlreichen Stellen die Praxis der Folter als Instrument der Wahrheitsfindung kritisiert. Absolutistische Strafverfolgung wird zum ausgehenden ersten Drittel des 18. Jahrhunderts in der Pitaval-Sammlung bereits als problematisch ausgestellt.

Eine geradezu strafkritische Haltung nehmen dann die psychologisch und anthropologisch motivierten Kriminalerzählungen der Spätaufklärung ein. Das zeigen exemplarisch die Texte August Gottlieb Meißners. Das Strafprozedere bleibt meist ausgespart, da es nichts dazu betragen würde, „in dieser oder jener Rücksicht einen merkwürdigen Zug des menschlichen Herzens“ darzustellen und keinen „Anlaß zu Betrachtungen über die sonderbare Verkettung vom Guten und Bösen, über die dünne March zwischen Tugend, Schwäche und Laster, über die Unsicherheit menschlicher Urtheile, über den Selbstverrath des Lasters, oder über andre verwandte Wahrheiten darböte“ (Meißner 2004, 9).

Strafe nimmt gegenüber einer am „Fest der Martern“ interessierten Erzählstrategie einen veränderten systematischen Ort ein. Meißner will nicht durch den Akt der Strafe eine vormals gestörte Ordnung als restauriert begreifbar machen; es ist ihm vielmehr darum zu tun, Verständnis für den Täter zu wecken. Der Weg in die Kriminalität wird nicht glorifiziert, aber plausibilisiert, indem er im Akt des Erzählens nachvollziehbar gemacht wird: durch die temporale Abfolge von Ereignissen, deren kausale Verknüpfung und durch Einblicke in die Befindlichkeit der Figuren. Strafe ist dabei, nicht der Endpunkt, auf den diese narrative Verknüpfung zuläuft, sondern wie in Schillers zuvor erwähnter Verbrecher-Novelle ein Grund für die kriminelle Entwicklung. In Meißners Kriminalerzählungen finden sich häufig Sätze wie „Aufgebracht gegen das Menschengeschlecht, das ihn überall ausgestoßen, ja noch obendrein beinahe ganz ohne Schuld bestraft hatte“ (ebd., 27) – Strafe erscheint hier nicht als gerechte und angemessene Vergeltung eines Verbrechens, sondern, von Schuld geradezu abgelöst, als einer der Gründe, wieso es überhaupt zu Verbrechen kommt.

Einem ähnlichen Programm sind die 1792 erstmals in Buchform erschienen Kriminalerzählungen des Verwaltungsjuristen Karl Müchlers verpflichtet. Da die Seele kein bloßer, vom Körper abhängiger oder vom Schicksal gelenkter Mechanismus sei, betont Müchler, es sei schwierig, „über die Handlungen der Menschen ein gerechtes Urtheil zu fällen“ (Müchler 2011, 13). Die „Rechtspflege“ müsse deswegen gerade in „peinlichen Sachen“ – also körperlichen Strafen – von einer „höchstmögliche[n] Ehrfurcht und Liebe der Menschheit“ (ebd.) ausgehen. Um bei Gesetzesübertritten zu gerechten und angemessenen Urteilen zu kommen, müsse man seine Aufmerksamkeit auf die „geheimen Triebfedern [der] Handlungen“ der Täter richten (ebd.). Erneut wird ersichtlich: Die Fallgeschichten der Spätaufklärung zielen nicht auf die Bestrafung des Verbrechens, sie wollen vielmehr für Verständnis der verbrecherischen Taten werben. Müchler artikuliert die Hoffnung, dass derjenige, der diesen verborgenen Beweggründen des Verbrechers nachforscht, „mit wohlwollendem Herzen dort entschuldigen möchte, wo der kalte Rechtsgelehrte […] verdammt und verdammen muß“ (ebd.).

Die Vorstellung, dass durch die Bestrafung eines Verbrechers der ob der Straftat krankende gesellschaftliche Organismus geheilt werden könnte, wird von den anthropologisch ausgerichteten Kriminalerzählungen des späten 18. Jahrhunderts einer Fundamentalkritik unterzogen, da sie der Komplexität der Entstehung von Verbrechen nicht gerecht werde. Häufig, so Müchler, mache eine Verkettung unglücklicher Umstände Menschen zu Dieben oder gar zu Mördern, sodass teilweise nicht eindeutig zu entscheiden sei, ob der Verbrecher anzuklagen sei oder nicht vielmehr die gesellschaftlichen Verhältnisse und die mangelhafte Gesetzeslage. Müchlers Fallgeschichten handeln meist von einfachen Leuten, die ohne eigenes Verschulden in Notsituationen geraten, aus denen sie sich nicht anders als durch Verbrechen befreien können. Indem Müchler die verborgenen Motivationen für Straftaten erzählerisch nachvollziehbar macht, will er auch den Leser zu einer Selbsterkenntnis bewegen. Wenn wir nämlich verstehen, nach welchen inneren Kämpfen ein Mensch in einer Notlage eine Freveltat begeht, dann „würden wir vor uns selbst zurückschaudern und zitternd bekennen müssen, daß wir, in gleicher Situation, mit gleichen Anlagen geboren, mit gleichen Kenntnissen von Moralität und Pflicht, vielleicht um nichts besser gehandelt haben würden, als diese verworfenen Unglücklichen“ (ebd., 15f.). Indem solcherart der so bequeme Abstand des anständigen und schuldlosen Lesers zum Verbrecher überbrückt wird, wird Strafe als Tätigkeit exponiert, durch die sich eine als Organismus verstandene Gesellschaft letztlich selbst schadet, da sie ihre eigenen Glieder und damit sich selbst verletzt. Der Mensch ist für Müchler, der sich dabei auf Jean-Jacques Rousseau beruft, „von Natur gut“ (ebd., 17), wird aber durch die sozialen und politischen Umstände oder aufgrund einer mangelhaften – und das heißt: nicht hinreichend aufgeklärten! – Erziehung und Bildung bisweilen zu bösen Taten verleitet. Die Erzählungen von Kriminalfällen dienen dazu, derlei Fehlentwicklungen zu illustrieren, um ihre Ursachen zu erkennen und künftig zu verhindern. Prävention statt Sanktion, so ließe sich das Ethos dieser Kriminalgeschichten pointiert fassen.

IV. Strafe muss sein. Im Epilog. Oder im Inneren.

Doch auch im ausgehenden 18. Jahrhundert konnte Strafe als Wiederherstellung eines zerstörten Zustands inszeniert werden. Das zeigt exemplarisch Schillers dramatisches Debüt Die Räuber (1780/81). Das Stück endet mit der Einsicht des Räuberhauptmanns Karl Moor, dass das Verbrechen ein Ausscheren aus der gültigen Ordnung ist, ohne die Welt zu verbessern. Indem er sich selbst der Bestrafung übergibt, kann er aber das Übel beseitigen: „Aber noch blieb mir etwas übrig, womit ich die beleidigte [sic!] Gesetze versöhnen, und die mißhandelte Ordnung wiederum heilen kann. Sie bedarf eines Opfers – eines Opfers, das ihre unverletzbare Majestät vor der ganzen Menschheit entfaltet – dieses Opfer bin ich selbst. Ich selbst muß für sie des Todes sterben.“ (Schiller 2004c, 617)

Karl erkennt an, dass die „mißhandelte Ordnung“ nur dadurch repariert werden kann, dass der Ordnungsstörer selbst opfert (in seinen Grundzügen ist dieses Modell, wie bereits geschildert, bei jedem Detektivroman am Werk, auch wenn dort die Verbrecher sich in den seltensten Fällen selbst zum Opfer bringen). Der einstmals rebellische Räuberhauptmann liefert sich also selbst der Justiz aus, doch damit ist es nicht getan. Schiller gewährt seinem edlen Verbrecher ein moralisch integres Ende: „Ich erinnere mich, einen armen Schelm gesprochen zu haben, […] der im Taglohn arbeitet und eilf lebendige Kinder hat – Man hat tausend Louisdore geboten, wer den großen Räuber lebendig liefert – dem Mann kann geholfen werden.“ (Schiller 2004c, 617f.)

Schiller selbst will das Ende verstanden wissen als Sieg der Tugend: „Der Verirrte tritt wieder in das Geleise der Gesetze.“ (Schiller 2004c, 488) Nicht das Verbrechen ist von Dauer, sondern die Gesetze, die durch den Vollzug der Strafe rückwirkend anerkannt werden. Am Ende steht keine Verklärung des Verbrechers, sondern eine Läuterung – und genau deswegen bedarf es auch nicht der Darstellung oder Schilderung der Bestrafung. Ihr gewünschter Effekt tritt bereits ein, bevor sie vollzogen ist. Der Vollzug kann getrost ausgespart bleiben, er ist literarisch ohne Nutzen. Dass Wissen um die Bestrafung ist für die Kriminalliteratur systematisch wichtig, nicht aber der Akt des Strafens selbst. Eine Schilderung der Umsetzung wäre bloße Sensationsheischerei ohne moralischen Mehrwert. Schillers Lösung, die Strafe anzukündigen und dadurch zu verklären, ist zwar ein melodramatischer Coup und dadurch außerordentlich bühnenwirksam, sie ist aber im gleichen Maße ein Triumph der Tugend.

Es ist signifikant, dass selbst das weltliterarische Monument, das den Begriff der Strafe bereits im Titel als Komplement des Verbrechens aufführt, den Strafvollzug nur knapp und im Epilog, gewissermaßen an der Peripherie Textes, schildert. Fjodor M. Dostojewskis Roman Verbrechen und Strafe von 1866 (in zahlreichen Übersetzungen auch unter dem Titel Schuld und Sühne bekannt), erzählt nur kurz davon, dass der Protagonist, der Doppelmörder Rodion Raskolnikoff, zur Zwangsarbeit in einem sibirischen Gefängnis verurteilt wird, bevor er sich wieder der Psyche des Sträflings zuwendet. Der Roman ist aber zugleich imposanter Beleg dafür, dass die Strafe zumindest angekündigt und erwähnt werden muss, aber auch dafür – und dieser Aspekt ist die dialektische Kehrseite der Verdrängung des Strafaktes aus dem Text –, dass die Strafe längst verinnerlicht ist und dadurch im Zentrum der Narration steht. Raskolnikoff leidet während es gesamtes Handlungsverlaufs an seiner Schuld, die juristische verhängte und vollzogene Strafe ist gleichsam nur noch das Nachspiel eines unaufhörlichen seelischen Strafvollzugs. Strafe, und das gilt weit über Dostojewski hinaus, erschöpft sich in der Literatur nicht in äußeren Zwängen oder physischer Tortur – sie ist nicht zuletzt ein internalisierter psychischer Mechanismus.

Jüngster prominenter Beleg dafür ist Ferdinand von Schirachs Strafe (2018), nach Verbrechen (2009) und Schuld (2010) das dritte Buch des Autors mit kurzen Verbrechenserzählungen. Obwohl der Titel Strafe als zentrales Element exponiert, ist er nicht in der Weise zu verstehen, dass in der Sammlung von Erzählungen juristisch verfügte Sanktionen im Mittelpunkt stünden. Im analytischen Fokus des Erzählens stehen die menschlichen Tragödien, die vor den Verbrechen liegen oder auf diese folgen. In einzelnen Texten gibt es kein Verbrechen, keine Verhandlung, keine Verteidigung. Die Strafen vollziehen sich dann beispielsweisen als Unfall, abseits von Urteilssprüchen, und manchmal bleiben sie sogar ganz aus. Mit einem Verbrechen leben zu müssen, scheint in einigen Fällen bereits eine hinreichende Bestrafung zu sein. Zudem bekundet sich auf diese Weise die Skepsis gegenüber dem Element „Strafe“, als Sühne für Verbrechen zu taugen – und gegenüber der Vorstellung, eine aus den Fugen geratene, beschädigte Welt könne durch Strafe geheilt werden.

V. Ausblick: Ein blinder Fleck der Analyse

Gibt es also, wie Raymond Chandler meint, in der Kriminalliteratur tatsächlich eine Notwendigkeit der Strafe? Ja, es gibt sie – allerdings verlangt gerade die von Chandler angeführte „Logik der Form“ nicht allein in der Spielart des Detektivromans danach, die Strafe zu marginalisieren, wenn nicht gar in ein Text-Außerhalb zu verdrängen, da ein Erzählen von Strafpraktiken die Form sprengen würde. Gleichwohl wäre eine Kriminalerzählung ohne Strafe, in Chandlers Worten, „wie ein unaufgelöster Akkord in der Musik“ und „hinterließe ein Gefühl der Irritation“ (Chandler 1975, 77). Ein Wissen um die bevorstehende Strafe setzen kriminalliterarische Texte voraus (womit noch nichts darüber gesagt ist, ob dies in affirmativer oder kritischer Absicht geschieht), die Strafmaßnahmen selbst, sofern sie nicht ohnehin als internalisiert ausgelegt werden und als solche ins Zentrum der Narration rücken, gelten ab dem 18. Jahrhundert offenbar indes meist nicht oder allenfalls bedingt als literaturwürdig. Dennoch weist eine analytische Beschäftigung mit Kriminalliteratur, die sich nicht mit den poetologischen, moralphilosophischen und ideologischen Gründen der Anwendung und der textuellen Verdrängung von Strafe auseinandersetzt, einen blinden Fleck auf.

Literatur

Anz, Thomas: Spannung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Jan-Dirk Müller u.a. Bd. III. P – Z. Berlin, New York 2003. S. 464-467.

Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991. S. 509-690.

Brecht, Bertolt: Der gute Mensch von Sezuan. Parabelstück. Frankfurt am Main 1964.

Chandler, Raymond: Beiläufige Bemerkungen zum Kriminalroman. In: Ders.: Die simple Kunst des Mordes. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. Hg. v. Dorothy Gardiner u.a. Aus dem Amerik. v. Hans Wollschläger. Zürich 1975. S. 72-81.

Christie, Agatha: Alibi. Roman. Aus dem Englischen v. Friedrich Pütsch. Frankfurt am Main 2005.

Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte von Franz Biberkopf. Nachwort von Walter Muschg. 38. Auflage. München 1999.

Dübgen, Franziska: Theorien der Strafe zur Einführung. Hamburg 2016.

Düwell, Susanne / Bartl, Andrea / Hamann, Christof / Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart 2018.

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt v. Walter Seitter. Frankfurt am Main 1994.

Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Studienausgabe Bd. II. Hg. v. Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt am Main 2000.

Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt 2015. 

Leonhardt, Ulrike: Mord ist ihr Beruf. Eine Geschichte des Kriminalromans. München 1990.

Marsch, Edgar: Die Kriminalerzählung. Theorie, Geschichte, Analyse. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. München 1983.

Meißner, August Gottlieb: Ausgewählte Kriminalgeschichten. Mit einem Nachwort hg. v. Alexander Košenina. St. Ingert 2004.

Müchler , Karl: Kriminalgeschichten. Aus gerichtlichen Akten gezogen. Mit einem Nachwort hg. v. Alexander Košenina. Hannover 2011.

Nusser, Peter: Der Kriminalroman. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2003.

Pitaval, François G. de: Unerhörte Kriminalfälle. Eine Sammlung berühmter und merkwürdiger Kriminalfälle. Paderborn o. J.

Schiller, Friedrich: [Vorrede zu ‚Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit‘]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. V. Erzählungen. Theoretische Schriften. Hg. v. Wolfgang Riedel. München 2004. S. 864-866. (Schiller 2004a)

Schiller, Friedrich: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. V. Erzählungen. Theoretische Schriften. Hg. v. Wolfgang Riedel. München 2004. S. 13-35. (Schiller 2004b)

Schiller, Friedrich: Die Räuber. Ein Schauspiel. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. I. Gedichte. Dramen 1. Hg. v. Albert Meier. München 2004. S. 481-638. (Schiller 2004c)

Schirach, Ferdinand von: Strafe. Stories. München 2018.

Schmidhäuser, Eberhard: Verbrechen und Strafe. Ein Streifzug durch die Weltliteratur von Sophokles bis Dürrenmatt. 2., überarbeitete Auflage. München 1996.

Siebenpfeiffer, Hania: Narratio crimen – Georg Philipp Harsdörffers Der Grosse Schau-Platz jaemmerlicher Mord-Geschichte und die frühneuzeitliche Kriminalliteratur. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt a.M. 2006. S. 157-176.

Sophokles: König Ödipus. Übersetzung und Nachwort v. Kurt Steinmann. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart 2002.

Suerbaum, Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart 1984.

Suerbaum, Ulrich: Der gefesselte Detektivroman. Ein gattungstheoretischer Versuch. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München 1998. S. 84-96.

Symons, Julian: Am Anfang war der Mord. Eine Geschichte des Kriminalromans. Aus dem Englischen übertragen v. Friedrich A. Hofschuster. München 1982.

Todorov, Tzvetan: Typologie des Kriminalromans. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München 1998. S. 208-215.

Van Dine, S.: Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten. In: Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. Hg. v. Jochen Vogt. München 1971. S. 143-147.