Vielfalt der postkolonialen Literaturen Namibias
Der Sammelband „Writing Namibia. Literature in Transition” von Sarala Krishnamurthy und Helen Vale entfaltet ein Kaleidoskop der namibischen Literatur
Von Julia Augart
Namibische Literatur bzw. postkoloniale namibische Literatur ist eine kleine und überschaubare, allerdings höchst vielfältige Literatur und Literaturszene des noch recht jungen und äußerst dünn besiedelten Landes im südlichen Afrika. Dort gibt es eine schriftliche wie orale Literaturtradition und verschiedene Genres in mehreren Sprachen, die von Englisch bis zu den Nationalsprachen reicht, die indigene Sprachen wie Oshiwambo, Otjiherero und Khoekhoegowab bis zu ehemaligen kolonialen wie Deutsch und Afrikaans umspannt. Der Titel Writing Namibia. Literature in Transition des umfangreichen Sammelbandes, der 2018 von Sarala Krishnamurthy und Helen Vale bei der University of Namibia Press herausgegeben wurde, bietet mit zweiundzwanzig Beiträgen einen nicht nur längst überfälligen und ausführlichen Einblick in die Vielfalt der postkolonialen Literatur bzw. Literaturen Namibias, sondern auch Beiträge zur Theater- und Filmszene, zu der Situation der Archive sowie des Buchmarkts. Er schließt – so die Herausgeberinnen – eine große Lücke in der namibischen Literatur.
Eröffnet wird der Band mit der Einleitung Setting the context der Herausgeberinnen Krishnamurthy und Vale, die einen umfassenden Überblick über die namibische Literatur und gleichzeitig über den Inhalt des Bandes bietet. Einerseits thematisieren sie die „Transition“ und Transformation, die nicht nur den Untertitel des Bandes, sondern einen wichtigen Aspekt in Namibias Geschichte sowie der namibischen Literatur darstellt. Andererseits geben sie einen Einblick in die für die Literaturproduktion wichtigen Faktoren wie Pressefreiheit und Zensur, Bildung und Sprachenpolitik sowie die Haltung der Regierung, was für ein grundlegendes Verständnis der namibischen Literatur wichtig ist. Des Weiteren liefert die Einleitung einen Ausblick auf Themen, Gattungen und Sprachen der namibischen Literatur mit Bezug auf die Beiträge des Bandes.
Im ersten Beitrag zeichnet Henning Melber, Historiker und Experte für namibische Geschichte, in The shifting grounds of emancipation: From the anti-colonial struggle to a critique of post-colonial society eine Literaturgeschichte der „struggle literature“, die sich durch eine Verschiebung von einer Literatur der Emanzipation und Solidarität zu einer kritischen Reflexion des unabhängigen Namibias auszeichnet. Umfassend skizziert er die wichtigsten autobiographischen und fiktionalen Werke namibischer Autor*innen sowie Forschungsliteratur und Publikationsorgane wissenschaftlicher und unterhaltender Literatur.
Margie Orford geht in Gathering scattered archives den Spuren weiblichen Schreibens als marginalisierter Gruppe während der Kolonialzeit nach und illustriert anhand der Erinnerungen und überlieferten Texte den Umgang mit dem weiblichen Körper. Gleichzeitig kritisiert sie die Vernachlässigung von Frauen in den (kolonialen) Archiven und auch in den lebenden Archiven, den Erinnerungen.
Conceptualising national transition: Namibian women‘s autobiographies about the liberation struggle von Kelly Jo Fulkerson-Dikuua präsentiert die zunehmende Partizipation schwarzer Namibier*innen sowie ihre individuellen Erfahrungen in literarischen Texten und zeichnet entlang namibischer Beispiele die verschiedenen Definitionen afrikanischer Autobiografien als orale Geschichte sowie die in den Romanen dargestellten Erinnerungen an Kindheit in Namibia und die Zeit im Exil nach.
In Emplotting nationalism: Comparing Sam Nujoma’s ‚Where Others Wavered‘ and Joseph Diescho’s ‚Born of the Sun‘ stellt Patrick Colm Hogan zwei wichtige namibische Texte zum Thema Nationalismus gegenüber: Nujomas Autobiografie, die retrospektiv die verschiedenen Stationen seines Lebens und insbesondere des Freiheitskampfes mit überwiegend heroischen Elementen darstellt, und Dieschos Roman aus der Zeit vor der Unabhängigkeit. Der nächste Beitrag beschäftigt sich mit den „DDR-Kindern“ von Namibia, bei denen es sich um circa 430 Kinder handelt, die bis 1990 in der DDR aufwuchsen, um für Positionen in der Regierung oder Führungspositionen im zukünftigen unabhängigen Namibia ausgebildet zu werden. The forgotten child of Namibia: An analysis of Misheke Matongo‘s autobiography von Jason Owens und Sarala Krishnamurthy analysiert Matongos bis heute leider unveröffentlichte Geschichte seines Lebens vor dem Hintergrund der transnationalen Erziehung und Suche nach Identität und Zugehörigkeit der „DDR-Kinder und -Jugendlichen“. Denn mit der Auflösung der DDR und Namibias Unabhängigkeit wurden diese Kinder abrupt nach vielen Jahren in der DDR zurückgebracht, wo sie sich in einem fremden Land – der Heimat Namibia – eingliedern und zurechtfinden mussten.
Der Beitrag von Alfeus Tjijoro stellt Aspekte der Otjiherero-Literatur dar und skizziert die Alphabetisierung der Sprache und die Verschriftlichung der mündlich überlieferten „Praise songs“, Fabeln sowie verschiedener prominenter Themen der Otjiherero-Literatur, die in einer Gegenüberstellung von Gedichten in ihren Übersetzungen expliziert werden. Am Beispiel von Oshiwambo zeigt Petrus Mbenzi im Anschluss Gender stereotypes in Oshiwambo orature, da Geschlechterrollen und damit Geschlechterstereotypen – wie die Küche als weiblich und das Jagen als männlich – sowie typische Verhaltensweisen in Märchen, Mythen, Legenden oder Sprichwörtern übermittelt werden. Ebenfalls mit mündlicher Literatur beschäftigt sich der nachfolgende Aufsatz von Hugh Ellis und Don Stevenson zu Spoken Word Performances. In ihrem Beitrag Who speaks at Spoken Word. Performance poetry in Namibia stellen die Autoren, beide selbst Akteure in der Szene, die urbane Spoken Word Szene sowie dominierende Stile und Themen mit einem Fokus auf gesellschaftskritische Beispiele vor. Gleichzeitig sprechen sie Empfehlungen für eine erfolgreiche Zukunft von Spoken Word in Namibia aus.
Die Herausgeberin Sarala Krishnamurthy untersucht in ‘Call of the Witpenssuikerbekkie‘: Landscape as symbol in contemporary Namibian poetry zeitgenössische englischsprachige Lyrik auf landschaftliche Symbole, von denen das Land Namibia, obwohl eher karg, mehr als genug aufweist, wie auch Beispiele urbaner Landschaft und räumliche Dimensionen in namibischer Lyrik. Sie sondierte über 200 Gedichte, die nach der Unabhängigkeit entstanden sind, und identifiziert vier besondere Merkmale der Naturdarstellung, nämlich die Darstellung als „weiblich“, als vergangene Zeit sowie die unterschiedlichen Repräsentationen von Windhoek und Katutura und die Metapher der Straße als Reise. Diesem Beitrag folgt als gelungene Ergänzung eine Darstellung der namibisch postkolonialen Lyrik aus der Sicht des Schriftstellers Keamogetsi Joseph Molapong (interviewt von Helen Vale). Molapong, einer der führenden namibischen Dichter, skizziert sein Leben, die Kindheit im Apartheidstaat, sein Interesse und Talent für Literatur sowie den Beginn seines Schreibens, sein Engagement für Lyrik in Namibia und die Veränderungen der namibischen Literaturszene. Zudem werden zwei Gedichte Molapongs vorgestellt.
Drei Beiträge beschäftigten sich mit der Gattung des Theaters. So präsentiert Laurinda Olivier-Sampson zunächst einen Überblick über die Situation des Theaters in Namibia nach der Unabhängigkeit, bevor sie kritisch den Dramaturgen und Theaterschriftsteller Frederick Philander, seine Inszenierungen wie Vorstellungen und Stücke, die gesellschaftliche Missstände thematisieren, sowie seine Bedeutung für das Theater in Namibia vorstellt. Nachfolgend zeigt Nashilongweshipwe Mushaandja in When applied theatre is no rehearsal for the revolution verschiedene praktische Theaterprojekte, deren Beschreibung in Teilen durch Fotografien visualisiert werden. Anhand der verschiedenen Projekte illustriert er individuelle zeitgenössische Installationen und Performances junger Namibier, benennt die Herausforderungen und kritisiert die Diskrepanz zwischen Praxis und theoretischer akademischer Vermittlung an der Universität, die zu dekolonialisieren sei. Der letzte Beitrag, ebenfalls von Helen Vale, skizziert die Entwicklungen des Theaters seit der Unabhängigkeit durch Sandy Rudd, einer angesehenen Dramaturgin in Namibia. Sie porträtiert sowohl Rudds Hintergrund und namibische Adaptionen internationaler Stücke oder Produktionen und indiziert die Vielfalt ihrer Inszenierungen und die zunehmende Wahrnehmung des namibischen Theaters. Eine andere Form des Geschichtenerzählens, so Hans-Christian Mahnke in Reading Namibian film, ist das Filmgenre, in dem fiktionale Geschichten, inspiriert durch die Realität, Namibias Geschichte und Herausforderungen der Unabhängigkeit – Ungleichheit, Frauenbewegung, interkulturelle Begegnungen – erzählen.
Brian Harlech-Jones, Autor der postkolonialen Romane A Small Space (1997) und To Dream Again (2002), interpretiert in The Nambian novel: Reflections of an author seine beiden Romane und deren Bezüge zur namibischen Geschichte; dabei berücksichtigt er auch den Stellenwert fiktionaler Literatur für das Land. Netta Kornbergs Beitrag über Power at the margins: Black female agency in two Namibian novels demonstriert an den häufig vernachlässigten Romanen Ndeutala Hishongwas Marrying Apartheid (1986) und Kaleni Hiyalwas Meekulu‘s Children (2000) die Aspekte von Macht und Marginalität sowie weiblichem Handeln während des Freiheitskampfes im Owamboland. Namibische Kurzgeschichten verschiedener Autor*innen untersuchen Juliet S. Pasi und Nelson Mlambo unter dem Aspekt von autotelischer Gewalt, insbesondere sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung in Autotelic violence: An analysis of selected Namibian short stories in Elizabeth |Khaxas We Must Choose Life. Die Geschichten werden als Spiegelbild der namibischen Gesellschaft sowie kultureller Praktiken gelesen wie auch als Zeichen, diese Gewalt bzw. das Schweigen darüber zu brechen, ob als autobiografische oder fiktionale Erzählung. Helize van Vuurens ‘Keeping a pet Bushman alive‘: Piet van Rooyen’s Namibian oeuvre steuert einen Beitrag zur afrikaansen Literatur Namibias bei und untersucht Van Rooyens Romane über die Ju|‘hoan, die das Leben der Buschmänner romantisieren und gleichzeitig einen kulturpessimistischen Blick auf die westliche Gesellschaft werfen. Kontrastiert wird die fiktionale Idealisierung der Buschmänner durch den Beitrag von Kerry Jones und Megan Biesele Will there be written literature in Ju|‘hoansi, a Khoesan language of Namibia?, die sehr umfassend und detailliert aufzeigen, wie durch die Zusammenarbeit internationaler Forscher und der indigenen Ju|‘hoan Bevölkerung die vom Aussterben bedrohte Sprache, Kultur und Literatur durch verschiedene Projekte erhalten wird und wie Lehr- und Lernmaterialien erstellt sowie überlieferte Erzählungen verschriftlicht werden. Auch Andree-Jeanne Tötemeyers Beitrag Multilingual children’s books in an independent Namibia: The emergence of a new literature illustriert die Herausforderungen und Versuche, Kinderbücher in den verschiedenen indigenen Sprachen nach der Unabhängigkeit Namibias zu fördern, um der in der Verfassung verankerten Mehrsprachigkeit des Landes gerecht zu werden und Literatur und Lesen in den jeweiligen Muttersprachen zu fördern. Anhand verschiedener Verleger in Namibia sowie von Projekten und Autoren, die Kinderbücher in indigenen Sprachen verlegen und verfassen, veranschaulicht Tötemeyer die Bemühungen und Erfolge, jedoch auch die noch immer bestehenden Defizite bezüglich Kinderliteratur in Namibia. When the colonised imperialists go post-colonial: Namibian-German literature since independence setzt sich mit der Rolle der deutschen Sprache (als koloniale, indigene oder auch Fremdsprache) im namibischen und auch afrikanischen Kontext auseinander, die seit der Kolonialzeit über eine sehr aktive Literaturszene in Namibia verfügt und sich durch die deutschsprachige Literatur kulturell definiert wie auch positioniert. Im Anschluss bietet Sylvia Schlettwein einen Überblick über verschiedene Sammelbände deutscher Kurzprosa, die seit der Unabhängigkeit veröffentlicht wurden und sich sukzessive von einer kolonialen Sichtweise absetzen. Im letzten Beitrag des Bandes Books, words and truth in Namibia: The contribution of New Namibia Books (1990-2005) erläutert die ehemalige Verlegerin Jane Katjavivi zum einen die Entwicklungen des namibischen Buchmarkts und zum anderen die Entstehung und Ausrichtung ihres Verlages New Namibia Books. Der Verlag, der darauf abzielte, namibische Literatur zu entwickeln, spezialisierte sich auf Texte, die sich mit Erinnerung und Vergangenheit beschäftigen. Mit seinem Programm präsentierte der Verlag die Namibian story through children’s books, traditional stories, fiction, autobiography, social history.
Die zweiundzwanzig Aufsätze zeigen auf vielfältige Weise Ausschnitte wie Überblicke über einzelne Bereiche, liefern spezifische Beiträge einzelner Autor*innen, Gattungen und Sprachen oder betrachten die jeweilige Literatur aus einer bestimmten Perspektive. Dieser Band repräsentiert, wie André du Pisani in seinem Vorwort schreibt, einen grundlegenden Beitrag des literarischen und kulturellen Archivs und liefert eine umfangreiche, breite und interdisziplinäre Übersicht über die Vielfalt der postkolonialen Literatur und die Erforschung dieser. Im Unterschied zu sonstigen Darstellungen, die sich meist in der jeweiligen Sprache oder auch dem Genre konstituieren, zeigt dieser Band erstmalig über alle Grenzen der Vielfalt hinweg das Kaleidoskop der namibischen Literatur. Damit wird dieser Band der mannigfaltigen namibischen Literatur gerecht, gleichzeitig weckt er das Interesse, namibische Literatur zu lesen und mehr darüber zu erfahren. Da alle Beiträge in englischer Sprache sind, ist die namibische Literatur damit für alle Namibier sowie alle an namibischer Literatur Interessierten zugänglich. Allerdings wurde die Veröffentlichung lange verzögert, einige Beiträge wurden nicht aktualisiert und folglich ist der Stand der Forschung teilweise nicht mehr aktuell. Ferner sind nicht alle in Namibia vertretenen Sprachen mit Beiträgen vertreten.
Ein weiterer Band ist bereits in Vorbereitung und indiziert, dass mit diesem ersten Band keine Lücke geschlossen, sondern eher geöffnet wurde und das Desiderat besteht, viele weitere Themen, Gattungen und Aspekte der namibischen Literatur und Literaturgeschichte zu erforschen und entdecken. Es bleibt zu hoffen, dass Writing Namibia nicht nur zwei Ausgaben hervorbringt, sondern eine ganze Reihe zu(r) namibischen Literatur(en) entstehen wird.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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