Die Malerin, die ein misogyner Kollege „direkt kaputt schlagen“ wollte

Nun hat auch Boris von Brauchitsch eine Biografie der Expressionistin Gabriele Münter geschrieben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gabriele Münter war eine derjenigen Malerinnen des beginnenden 20. Jahrhunderts, die zunächst ganz zu Unrecht im Schatten eines bekannteren Kollegen standen und heute noch in die zweite Reihe verbannt sind. In ihrem Fall war es der Schatten Wassily Kandinskys, der – das lässt sich sagen – auch auf ihr Leben fiel. Boris von Brauchitsch lässt der Künstlerin nun in einer Biografie Gerechtigkeit widerfahren. Damit ist er allerdings keineswegs der erste. In den letzten Jahren erschienen einige biografische Arbeiten zu der expressionistischen Malerin. 2012 waren es sogar gleich zwei. Eine hat Karoline Hille verfasst, die andere, romanhafte Stefanie Schröder. Und erst 2016 kam eine, wenngleich recht schmale, Lebensbeschreibung Münters von Annegret Hoberg auf den Markt, die sich schon seit einigen Jahrzehnten immer wieder mit der Malerin und ihrem Werk befasst.

Hier aber gilt es, die von Brauchitschs vorgelegte Biografie Münters in Augenschein zu nehmen. Dass der Autor bestens mit Leben und Werk Münters vertraut ist, steht außer Frage. Entsprechend informationsgetränkt ist sein Buch, wobei er manche der Informationen in oft unscheinbaren Halbsätzen fast schon verbirgt. Gelegentlich verabschiedet sich der Autor für eine Weile von Münter und geht stattdessen den Aktivitäten ihres Kollegen und langjährigen Liebhabers Kandinsky in auch schon mal kurzlebigen und von neiderfüllten Querelen geprägten Künstlervereinigungen nach.

Stilistisch tritt Brauchitschs Biografie gelegentlich etwas frivol auf, im Aufbau hingegen sehr konventionell chronologisch, patrilinear beginnend mit der Geburt des Vaters. Auf die Mutter gewährt der Autor erst nach dessen – frühem – Tod einen näheren Blick, indem er sie als „gradlinige Amerikanerin“ beschreibt, die „nie akzentfrei Deutsch gelernt“  und „sich nichts aus feinem Gesellschaftsleben“ gemacht habe. „Die charakterlichen Parallelen“ zu ihrer Tochter Gabriele seien „unverkennbar“.

Schon zuvor, noch vor Begin der eigentlichen Biografie hat der Autor seine Protagonistin in einem anekdotisch gehaltenen Vorspann als Frau charakterisiert, „die so gar nichts Extravagantes besitzt und doch so provozierend geradlinig auftritt“, die „einfach und direkt über Kunst spricht und deren Ziel es zu sein scheint, das Unsagbare, die Verzauberung zu unterlaufen“. Else Lasker-Schüler, die in dieser Anekdote ebenfalls ihren Auftritt hat, muss dabei als Negativfolie für die Lichtgestalt Münter herhalten. Später schreibt Brauchitsch seiner Protagonistin noch den „Charme der Autodidaktin“ zu, „der ihr gesamtes Dasein in allen Aspekten durchzogen“ habe.

Der Chronologie zwischengeschaltet hat der Autor vier Exkurse, in denen er die zeit- und kulturgeschichtlichen Umstände beleuchtet, unter denen Münter als Künstlerin tätig war. So geht er auf das in Künstlerkreisen wie auch der Gesellschaft insgesamt „feindselig gezeichnete Frauenbild“ ein, dem jedoch weibliche „Schlüsselfiguren“ der modernen Kunst wie Käthe Kollwitz, Paula Modersohn-Becker, Marianne von Werefkin und eben Gabriele Münter zu trotzen wussten. Oder er nutzt einen dieser Exkurse, um Münter eines ihrer Bilder erläutern zu lassen.

Radikal chronologisch geht der Autor bei der Beschreibung der Amerikareise der noch jungen Frau vor. Die einzelnen Stationen werden der Reihe nach abgehakt, gleichgültig, ob sie nun für Münter und ihr späteres Werk bedeutsam waren oder nicht. Dort, wo sie es aber auch nur ansatzweise waren, macht Brauchitsch etwas länger Halt und wirft einen durchaus erhellenden Blick auf einige der von Münter vor Ort angefertigten und vom Autor in den vorliegenden Band aufgenommenen Fotografien. Manchmal zeigt sich Brauchitsch, selbst ein passionierter Fotograf, hier – wie auch sonst nicht selten – allerdings zu detailverliebt und beschreibt etwa Münters Fotoapparat allzu penibel als „handliche lederbezogenen Holzbüchse mit fixem Objektiv und Rollfilm für 9×9-Zentimeter-Negative“.

Wieder in der Heimat nahm Münter ihre bereits vor der Reise in die USA begonnenen Studien der Malkunst wieder auf, diesmal „an der Damenakademie des Künstlerinnenvereins“ im „leuchtenden München der Jugendstilzeit“. Bald schloss sie sich zudem der „neugegründeten privaten Akademie der Künstlergruppe Phalanx“ an, um sich zur Bildhauerin ausbilden zu lassen. „Das Bedeutendste, was Phalanx hervorbrachte“, war dem hier etwas süffisanten Autor zufolge „die Verbindung“ zwischen der Schülerin Gabriele Münter und ihrem dortigen Lehrer Wassily Kandinsky. Allerdings, fügt er sogleich an, sei die junge Frau nur „offiziell“ die Schülerin des Herren schon etwas reiferen Alters gewesen. Denn „an handwerklicher Fertigkeit auf den Gebieten Zeichnung, Fotografie und Druckgrafik“ sei sie ihrem Lehrer, dem Brauchitsch „mangelndes zeichnerisches Talent“ bescheinigt, schon damals „klar überlegen“ gewesen.

Mit dem elf Jahre älteren Kandinsky unternahm Münter bald darauf längere Reisen quer durch Südeuropa und Nordafrika. Ein „vierjähriges Kontrastprogramm zwischen Inspiration und Improvisation, zwischen Exotik und Bergwelt, Kulturmetropole und Landleben“, wie der Autor zusammenfasst. Münter nutzte die ‚Wanderjahre‘ um „ihre kreativen Fähigkeiten“ weiter zu „verfeinern“. Wieder zurück in Bayern lebten beide „in ‚wilder Ehe‘ und in getrennten Wohnungen“, wie Brauchitsch pointiert formuliert. In beidem beugt sich Münter Kandinskys Wünschen, denn sie hätte sich nur zu gerne von ihm ehelichen lassen. Dazu aber hätte sich der bereits verheiratete Mann erst einmal von seiner gegenwärtigen Frau scheiden lassen müssen. Was er Münter auch oft und gerne versprach und nach langen Jahren sogar tat – um dann hinter Münters Rücken flugs eine andere zu heiraten. Kandinskys Alltagssexismus gegenüber seiner Geliebten und das hierarchische Verhältnis beider treten in der Biographie immer wieder deutlich hervor.

1909 brachte der Manipulator Kandinsky Münter dazu, im ländlichen Murnau „für sie beide ein Haus zu kaufen“. Brauchitsch bietet mehrere mögliche Motive für das erfolgreiche Ansinnen des Heiratsschwindlers an: „als Erneuerung des Heiratsversprechens, als ein sich Aushaltenlassen oder als Risikovermeidung, denn Münter war damit an Murnau gebunden, während er jederzeit ohne finanzielle Einbußen gehen konnte“. Vermutlich spielten alle diese Überlegungen eine Rolle. Und keine von ihnen wirft ein schmeichelhaftes Licht auf Kandinsky. Jedenfalls reiste er längere Zeit in seine alte Heimat nach Russland, während Münter das Murnauer Haus hüten musste. Zuvor aber hatte er sich dazu durchgerungen, nach „siebenjähriger Beziehung“ doch noch mit seiner Geliebten zusammenzuziehen. Allerdings nicht in das Haus in Murnau, sondern in eine Wohnung in der bayrischen Landeshauptstadt.

Zwei Jahre später, 1911, begann Kandinskys „Liebe“ für Münter „zu erkalten“, wie Brauchitsch allzu euphemistisch formuliert. Denn tatsächlich dürfte es kaum Liebe gewesen sein, was da erkaltete. Kandinskys Begehren vielleicht, vielleicht auch seine Leidenschaft. Aber sicher nicht seine Liebe. Hätte er sie geliebt, hätte er sich Münter gegenüber schwerlich all die Jahre so schäbig und verlogen verhalten und sie immer wieder mit Heiratsversprechen hinhalten können, während sie ihm gegenüber stets „von nahezu grenzenloser Loyalität“ war. Den Bruch der Beziehung initiierte aber nicht Kandinskys wie auch immer geartetes erkaltendes Gefühlsleben, sondern ein äußeres Ereignis, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der den Russen Kandinsky in Deutschland zum Bürger eines feindlichen Staates machte. Er verließ das Land und die treue Gabriele Münter folgte ihm nach Schweden, wo Kandinsky, der sich inzwischen hatte scheiden lassen,  sein Heiratsversprechen ein letztes Mal erneuerte, um dann nach Russland zu verschwinden – und eine andere zu heiraten, die 25 Jahre jüngere Nina Andrejewsky.

Münter, die alleine in Schweden zurückblieb, wurde dort nicht, wie noch in München und Murnau, als künstlerischer Sidekick Kandinskys betrachtet, sondern als „souveräne Mitbegründerin des in Künstlerkreisen bereits legendären Blauen Reiters“ anerkannt. Eine Wahrnehmung, die ihr weit mehr gerecht wurde, hatte sie doch ihre ganz eigene künstlerische Art gefunden. Denn gerade in der Kunst verweigerte sie Kandinsky die Gefolgschaft auf seinem Weg in die immer abstrakter werdende Malerei. Zu einem „Wesenszug ihrer Kunst“ entwickelte sich vielmehr, „sich an einem Motiv seriell zu versuchen, nicht das ultimative Werk zu ertrotzen, sondern die Standpunkte und Farboptionen als betont gleichwertige Variationen nebeneinander existieren zu lassen“. Brauchitsch erwägt als Ermöglichungsgrund für Münters „maximale Entfaltung künstlerischer Freiheit“ auch die geschlechtsspezifischen Umstände unter denen KünstlerInnen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert in Deutschland tätig war.

Da Künstlerinnen dieser Zeit weniger unter Beobachtung standen als ihre männlichen Kollegen, nutzten sie auffällig oft diesen zunächst negativ konnotierten Umstand für ein zwangloseres Experimentieren. Während die Männer deutlich mehr Wert auf eine Handschrift legten, die ihre Werke für Galeristen und Sammler wiedererkennbar und damit besser verkäuflich machte, boten die Œuvres von Frauen nicht selten ein breiteres stilistisches Spektrum. Gabriele Münter ist für diese Tendenz ein herausragendes Beispiel.

Mehr noch als von misogynen Kollegen wie Franz Marc und August Macke wurde Münter ihre zunehmen Anerkennung findende Kunst zunächst von deren Ehefrauen geneidet, „die ihre künstlerischen Ambitionen zugunsten ihrer Männer aufgegeben hatten“. Doch zogen die Herren zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des noch immer jungen Jahrhunderts nach und begannen selbst, Münter zu diffamieren, die sie nun herablassen „Münterle“ oder „die kleine Münter“ nannten. Die einst von ihnen als „geistreich“ gelobte Malerkollegin wurde so zur „putzigen Gestalt“ verniedlicht, die als solche nicht ganz ernst genommen zu werden verdient, und schließlich sogar von Macke als „Luder“ beschimpft wurde. Noch gehässiger war Marc, der sie als „typische alte Jungfer schlimmster und dümmster Sorte“ und in frauenfeindlicher Anlehnung an das Wort Ungeziefer als „Frauenziefer“ beleidigte, das er „direkt kaputtschlagen“ möchte. Wenn Brauchitsch Marcs Ausfälle gegen Münter als „Hassexzesse“ bezeichnet, ist dies keineswegs übertrieben.

In diesen Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Münter erfolgreicher als je zuvor. Vielleicht hat gerade dies den Herren Malerkollegen den Kamm schwellen lassen. 1912 lernt Münter Herwarth Walden kennen. Der Gründer der expressionistischen Kunstzeitschrift Der Sturm wurde für sie schnell zu einer „wichtigen Figur“. Denn schon bald erschienen vier ihrer Holzschnitte auf dem Titelblatt seiner Zeitschrift. „Damit war Münter offiziell und für jeden ersichtlich zur Sturm-Künstlerin geworden.“ Vier Jahre später „versuchte“ sich die Künstlerin „an neue Techniken, der Radierung und bald darauf auch der Lithografie“. Eine etwas pejorative Formulierung, die Brauchitsch hier und auch sonst öfter einmal in Bezug auf Münter verwendet, und die stets insinuiert, es sei bei bloßen Versuchen geblieben. Vielleicht benutzt der Autor diese Wendung aber auch nur unbedacht, weiß er ihr Schaffen ansonsten doch durchaus zu würdigen.

Nach dem Krieg und ihrer Zeit in Schweden, wo sich ihr Erfolg weiter steigerte und Münter den „Höhepunkt ihres künstlerischen Renommees“ erreichte, kehrte die Künstlerin wieder nach München zurück. Doch die Zeit war inzwischen eine andere geworden, auch in der Kunst. In der Malerei ebenso wie in der Literatur war es die der Neuen Sachlichkeit. Münter „öffnete sich“ zwar dem neuen Stil, gehörte aber als künstlerische „Impulsgeberin“ der Zeit vor dem Krieg an. „Die Avantgarde, das waren jetzt andere“, KünstlerInnen der jüngeren Generation.

Mitte der 1920er Jahre zog Münter nach Berlin. 1928 lernte sie den Kunsthistoriker und Philosophen Johannes Eichner kennen, der Brauchitschs Darstellung zufolge in allem das glatte Gegenteil Kandinskys war. Er wurde ihr „zum Gefährten für die nächsten drei Jahrzehnte.“ Eines aber verband ihn doch mit Kandinsky, auch er war nicht immer zur Stelle, wenn Münter ihn brauchte.

Während des Nationalsozialismus kamen Münters Werke zwar nicht auf eine der Listen ‚entarteter Kunst‘, doch hatte sie nur noch geringe Möglichkeiten auszustellen. So zog sie sich zunehmend in die „Isolation in Murnau“ zurück, wo sie noch immer ihr Haus besaß. In den Nachkriegsjahren trat Münter als Künstlerin noch stärker in den Hintergrund und betätigte sich stattdessen als Stifterin. Immerhin wurde ihr Werk in den 1950er Jahren wiederentdeckt und sie erhielt ihren Platz in der Kunstgeschichte, wenn auch nur als „Randfigur des Blauen Reiters“. 1955, sieben Jahre vor ihrem Tod, war sie mit zwei Gemälden auf der ersten Documenta vertreten.

Boris von Brauchitsch hat eine kenntnisreiche Einführung in Leben und Werk Gabriele Münters vorgelegt, die sich vom kunsthistorisch interessierten Publikum mit Gewinn lesen lässt. Dass er die Schillerstatue Ernst Raus von Marbach am Neckar nach Marburg an der Lahn versetzt, zählt zu den kleinen Fehlgriffen des Autors. Solche Versehen, gegen die bekanntlich niemand gefeit ist, zu tilgen, wäre Aufgabe einer LektorIn, die der Insel Verlag doch sicherlich zur Verfügung hat.

Titelbild

Boris von Brauchitsch: Gabriele Münter. Eine Biografie.
Originalausgabe.
Insel Verlag, Berlin 2017.
170 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783458362906

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