Von hinter der Bühne des Theaters, auf die Bühne der Literatur

Jakob Nolte liest auf Einladung von Hubert Winkels bei den 42. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

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Der 1988 im niedersächsischen Gehrden geborene heutige Wahlberliner Jakob Nolte brillierte bereits vielfach auf der literarischen Bühne, bevor er sich dem Schreiben von Romanen zuwandte: seine ersten Erfolge strich er als Verfasser von Theaterstücken ein. In Zusammenarbeit mit seinem Studienkollegen Michel Decar von der Universität der Künste Berlin, wo sie zusammen Szenisches Schreiben studierten, veröffentlichten die beiden als Künstlerduo ihre Theatertexte unter dem Pseudonym Nolte Decar. Nachdem schon ihr erstes gemeinsam verfasstes Theaterstück Helmut Kohl läuft durch Bonn zu den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin eingeladen worden war, gewann das Duo mit dem Kollaborativwerk Das Tierreich 2013 den Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin. Auch Noltes Debütroman ALFF (der 2014 zunächst online beim E-Book Verlag Fiktion erschien und dann 2015 in Papierform beim Berliner Verlag Matthes & Seitz) erhielt 2016 postwendend eine Auszeichnung, den Kunstpreis Literatur Fotografie, vergeben von Lotto Brandenburg. Gleich im selben Jahr begab sich der Wunderknabe Nolte als Stipendiat nach Kyoto in die Villa Kamogawa, wo er sich an seinem nächsten Erfolg zu schaffen machen sollte. Es wundert kaum noch, dass sein Zweitlingswerk Schreckliche Gewalten (2017, ebenfalls Matthes & Seitz) für nichts weniger als den Deutschen Buchpreis nominiert wurde und dort auf der Longlist rangierte. Bei dieser Fülle an literarischer Wertschätzung überrascht es nicht, dass David Hugendinck von der ZEIT Nolte als hochbegabten Autor tituliert und seinen neuesten Roman als die pure Beobachtung eben jenes hochbegabten Schreibens bezeichnet – immer versetzt mit einer Prise detailverliebtem Nihilismus.

Nimmt man nun mit diesem Lob und den Auszeichnungen vor dem geistigen Auge den Roman Schreckliche Gewalten zur Hand, so gibt der Erfolg ihm Recht und der talentierte Jungautor entpuppt sich gar als Meister des Wahnwitzes.

Noltes zweiter Roman ist vieles: mal klugscheißerisch und kokett, mal blutrünstig und morbide. Er ist seltsam, bisweilen gar schwarz-romantisch, stets irrwitzig und urkomisch. Doch eines ist er in keinem Falle: konventionell. Jakob Nolte paart stark gegensätzliche Dichotomien und vermischt gekonnt ungleiche Disziplinen miteinander, sodass Witz neben Wissenschaft steht, die Vergangenheit mit diversen Möglichkeiten von Gegenwart konfrontiert wird und klassische Literatur mit Popkultur und Geschichte gemeinsam zu funktionieren beginnt. Er changiert stetig zwischen den Stilen. Gerade bemüht Nolte noch einen popliterarischen Kalauer à la „Edvards erste Freundin hieß Lena und war, wie ihr Name schon sagt, Lena“, dann ist er schon wieder mitten in einem wissenschaftlichen Exkurs über einen Schweifstern, einen Kometen mit einem Schweif aus Gas, der mehrere tausend Kilometer lang werden kann. Verrätseltes wie bei einem David Lynch prallt auf Verspielt-Brutales wie bei Quentin Tarantino.

Allein schon die Handlung dieser aberwitzigen Prosa mutet an wie ein überdrehtes Abenteuer, bei dem die Narration und ihre unzähligen Abschweifungen und Einschübe zwar nie die finale Richtung verlieren, aber gleichfalls auch niemals einen irrsinnigen Umweg scheuen. Die Geschichte beginnt düster und mythisch. Eines Nachts, im norwegischen Bergen, verwandelt sich Mutter Hilma Honik in einen Werwolf, beißt ihren Ehemann ins Genick, zerfleischt Teile seines Oberkörpers, bloß um kurz darauf einfach wieder einzuschlafen. Sie wird in ein Krankenhaus eingewiesen und somit haben die beiden Zwillinge Iselin und Edvard Honik auf einen Schlag beide Eltern verloren. Nun müssen sie einen Weg finden damit umzugehen und mit der Angst zu leben, dass sie dieses dunkle Familienerbe der Tierwerdung wohl selbst heimsuchen könnte. Dies tun die Geschwister auf gänzlich unterschiedliche und, ganz in Nolte-Manier, absurd-irrwitzige Art. Während die Schwester in Bergen im elterlichen Hause verbleibt, zu studieren beginnt, sich radikalisiert und eine Terrorzelle namens „Mädchen im System“ gründet, ein Flugzeug entführt und Geiseln nimmt, kehrt der Bruder Edvard der bisher gekannten Welt innerlich sowie äußerlich den Rücken. Er tritt eine Reise an, die ihn durch die Sowjetunion führt, von Riga, wo er eine Heilige Kuh für eine Fleischmahlzeit tötet, über Weißrussland, weiter in die Ukraine, über den Kaukasus bis nach Afghanistan.  Auf dem Weg gründet er mit zwei Freunden die Bande „Switchblade“ Belarus, gerät mitten in eine politische Versammlung, entgeht nur haarscharf einem Vergiftungsversuch und entdeckt mit einem seiner Kumpanen seine Homosexualität.

 

Der Autor Nolte spannt über 166 kleine und größere, stark verdichtete Prosaminiaturen ein schillerndes Sammelsurium auf, strotzend von outrierten Sprachbildern, durchzogen von Reflexionen zu pop- und hochkulturellen Kunstwerken. Er produziert stets einen Überschuss, wie wild um sich greifende Krakenarme, die durchaus reizvoll auf den Leser wirken. Doch allzu viel Glauben und Vertrauen sollte man als Rezipient diesem mäandernden Textkraken und seinen Assoziationsketten nicht schenken. Nolte hat Finten und Fallen gelegt. So waren weder Haiti noch Portugal jemals sozialistische Staaten und auch Karmesin stammt etymologisch nicht aus dem Somalischen, sondern aus dem Arabischen. Der Autor liebt es, Welt und Fantasie gleichsam in Sprache zu wandeln und zu verhandeln. Wobei ihm der Modus der Parodie, nach Selbstaussage, wie sein eigener, natürlichster Zustand vorkommt, sein Humor nahezu intuitiv in die Texte einfließt. Doch nebst diesem Reigen an todkomischen, grotesken Abwegen und Handlungsschleifen wird in Schreckliche Gewalten durchweg auch die Gewalthistorie eines ganzen Jahrzehnts miterzählt: Die RAF, der Münchener Anschlag 1972, der Krieg in Angola. Sie bilden im Hintergrund die Kulisse für das eigene kleine Horrorpanaroma der Geschwister Honik. Und zwischendrin immer wieder Einschübe wie: Am Himmel über den Geschwistern „schienen die Sterne zu flackern, als wären sie die zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannten Leuchtstoffröhren der Amüsierviertel Bangkoks“.

Jakob Nolte präsentiert sich als Meister im lustvollen, unberechenbaren Spiel der Stile, Töne und Register. Er entspinnt spitzfindig, präzise und zugleich mäandernd eine Menschheitsschauergeschichte, die an Virtuosität ihresgleichen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur derzeit noch sucht.

Ein gigantischer Einfallsreichtum trifft auf filigrane Detailversessenheit. Ausschweifung ist Programm, sorgfältige Detailverliebtheit das Schönheitskonzept. Und allzeit funkelt ein gewisser Hang zum subversiven Brillieren hindurch. Dieser Nolte kann anscheinend alles und das auch noch gleichzeitig. Seine Literatur und seine Sprache sind ein aufregendes Glück wie auch eine anstrengende Aufgabe.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen