Von nutzlosem Bildungsfanatismus und dilettantischen Schauspieltruppen

August von Kotzebues wenig bekannte Gelehrtensatire „Der Vielwisser“

Von Maximilian LippertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Lippert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neben der Lehrdichtung war in der literarischen Aufklärung die Satire zweifellos eine der beliebtesten Dichtungsformen. Als Umkehrung der ersteren diente auch sie in besonders wirkungsvoller Weise dem aufklärerischen Zweck, Normen von Moral, Vernunft und nicht zuletzt auch Nützlichkeit zu verbreitenEin beliebtes Subgenre war dabei die Gelehrtensatire, welche deshalb besonders paradigmatisch scheint, da in jener Zeit mit vielerlei althergebrachten Wissenschaftstraditionen gebrochen wurde. Die Gelehrtensatire repräsentiert den Umschlagspunkt von der traditionellen, aus der Neoscholastik und dem Späthumanismus hergeleiteten Auffassung des Gelehrten zum modernen Verständnis des ins Bürgertum integrierten Wissenschaftlers, der zum gesellschaftlichen Nutzen forscht und lehrt. Am Beginn dieser Tradition steht Ludvig Holbergs auf Lateinisch schwadronierender Erasmus Montanus oder Rasmus Berg (1731), welchen August von Kotzebue bereits seiner Schlegel-Parodie Der hyperboreische Esel oder Die heutige Bildung (1799) zugrunde gelegt hat. Später folgte mit Lessings Jugendstück Der Junge Gelehrte (1748) der wohl bekannteste Vertreter jener albernen Pedanten und am Ende, die vielen Vorlagen aufgreifend, steht Kotzebues Der Vielwisser (1817). Der wohl beliebteste und mit über 230 Theaterstücken produktivste Bühnenautor der Goethezeit nimmt jedoch nicht bloß den lächerlichen und lebensunfähigen Gelehrten aufs Korn, sondern karikiert zusätzlich noch ein provinzielles Wandertheater, das mit seiner beschränkten Schauspielkunst das zweite Ziel des beißenden Spotts ist.

Auch noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts erzeugte die fortschreitende Bildungsoffensive, die sich in etlichen Neugründungen von Universitäten, der Einführung der allgemeinen Schulpflicht und anderen Schulreformen sowie im Aufkommen neuer Konversationslexika wie dem Brockhaus widerspiegelte, eine sie flankierende Kritik. In diesem Kontext einer aus dem Neuhumanismus Wilhelm von Humboldts und seiner Mitstreiter erwachsenen, geradezu missionarisch betriebenen Bildungsverherrlichung ist Kotzebues Komödie zu verstehen. Der Vielwisser selbst heißt Peregrinus und kehrt zu Beginn des Stücks von der Universität an den väterlichen Hof zurück. Schon sein Name, der zudem auch an den antiken Kyniker Peregrinus Proteus erinnert, verweist auf die Fremdheit des Titelhelden seinen Mitmenschen gegenüber. Im Gegensatz zu Lessings Gelehrten Damis hat Peregrinus allerdings bereits Erfahrungen mit dem schönen Geschlecht gemacht. Während seines Studiums in Würzburg lernte er Babet, die Tochter des Botanikers Hans Hummel, kennen und verliebte sich in sie, nur um diese Liebe später wieder seinen Büchern und gelehrten Traktaten aufzuopfern. Und ganz wie Holbergs Rasmus steht auch Peregrinus ein bauernschlauer Bruder zur Seite, der die alltäglichen Aufgaben und Anforderungen viel besser zu meistern versteht. Doch während Peregrinus seinen Bruder Philipp anfangs noch mit seiner Klügelei und seinem sophistischen Imponiergehabe blenden kann, erkennen sein Vater, der Baron von Buchhorn, und seine Verlobte Amalie, dass es mit seiner vermeintlichen Weisheit nicht weit her ist.

Kotzebues Vielwisser, der einmal auch als „lebendige Encyclopädie“ bezeichnet wird, ist ein typischer Polyhistor, der zwar jegliche Wissensbestände historisch-antiquarisch betriebener und zum Selbstzweck verkommener Gelehrsamkeit zu kompilieren, diese jedoch nie praktisch-sinnvoll in Form von konkreten Problemlösungen anzuwenden weiß. Peregrinus besitzt totes Buchwissen, keine lebendige Weisheit, keine Befähigung zum weltgewandten Selbstdenken. So erwidert der Theaterdirektor Dreipfennig auf seine unaufhörlich hervorsprudelnden Anmerkungen lediglich: „Was nutzt mir alle der gelehrte Kram?“  Der Baron macht zudem immer wieder deutlich, dass der Wert der Wissenschaft auch zunehmend anhand ökonomischer und funktionalistischer Gesichtspunkte bemessen wird, wenn er beispielsweise im Hinblick auf das Verhältnis von Peregrinus’ Gelehrsamkeit und den landwirtschaftlichen Fähigkeiten Philipps fragt: „Welches von beiden bringt mehr Nutzen?“ Amalie wiederum tadelt vor allem die Eitelkeit sowie die Ungeselligkeit ihres Verlobten und stellt fest: „Seine eigne Gesellschaft ist ihm doch die liebste.“ Hummel beschreibt ihn schließlich als äußerst lieblosen „Menschen, dessen Kopf das Herz verschlungen hat“. Doch während in Lessings misanthropischer Gelehrtenfigur Damis noch sämtliche Elemente gelehrtensatirischer Typisierung, oftmals auch moralische Untugenden oder gar pathologische Krankheitssymptome, kulminieren, treffen auf Peregrinus nicht alle gängigen Eigenschaften grotesk gezeichneter Gelehrter zu. Außerdem sind dessen spitzfindige Ausführungen zwar durchaus weltfremd und jeweils unplatziert, doch zeigt sich in ihnen auch die Belesenheit und Informiertheit Kotzebues auf philosophischem, historischem und nicht zuletzt schönliterarischem Gebiet.

Ergänzt wird die Gelehrtensatire im Vielwisser um eine metatheatralische Parodie auf kleine, durch die Provinz ziehende Theatergesellschaften, wie sie Kotzebue bereits in seinem Schauspieler wider Willen (1803) unternommen hat. Die trinkfreudige Wandertruppe des notorisch klammen Dreipfennigs besteht lediglich aus Madame Rumpel, einer divenhaften Prima Donna, sowie Krach, der die Heldenrolle spielen soll und sich so laut gebärdet, wie sein Name es vermuten lässt.  Die trinkfreudige Gesellschaft des notorisch klammen Dreipfennigs besteht lediglich aus Madame Rumpel, einer divenhaften Prima Donna, sowie Krach, der die Heldenrolle spielen soll und sich so laut gebärdet, wie sein Name es vermuten lässt. Begleitet wird die Gruppe vom Tanzmeister Fiddel, der ein ganzes Orchester ersetzen soll, sowie dem Feuerwerker Knallsilber, der für Pyrotechnik und Lichteffekte zuständig ist. Der Theaterdirektor selbst muss zudem als Souffleur herhalten, da eine Rolle zu dieser Zeit von keinem Schauspieler anständig gelernt werden möchte. Somit schafft Kotzebue einen humoristischen Blick hinter den Fiktionsraum der Bühne. Die Theatergruppe will anlässlich der Rückkehr von Peregrinus zu seiner Familie eine Ariadne auf Naxos zum Besten geben – ein Stück, dass Kotzebue 1803 selbst einmal parodierte.

Den Unmut der Madame Rumpel und die finanzielle Notlage Dreipfennigs macht sich Babet, die ihrem ehemaligen Geliebten nachgereist ist, zunutze, indem die Verlassene spontan die Rolle der Ariadne übernimmt, in welcher sie, zwischen Fiktion und Realität changierend, ihren Peregrinus inmitten der Theaterzuschauer an seine gebrochenen Treueversprechen erinnert. Dass sie nach der Aufführung beinahe einem durch Knallsilbers Feuerwerk verursachten Brand zum Opfer fällt, aus welchem sie der tapfere Philipp errettet, bedient ebenso die konventionelle Publikumserwartung wie die anschließende Verlobung Philipps mit Amalie, für die sein Herz ohnehin schon länger gebrannt hat. Die Dramenhandlung folgt also ganz dem gängigen Prinzip des Kotzebue’schen Unterhaltungstheaters, bildet aber letztendlich auch nur den Rahmen dafür, die Nutzlosigkeit ausufernder Bildungsbeflissenheit sowie den Dilettantismus provinzieller Schauspieltruppen auf der Bühne darzustellen. Die schrullige Satire bietet dabei einfaches Amüsement und sorgt für nahezu fortlaufend aneinandergereihte Situationskomik. Gerade auch deshalb schätzte wohl Wilhelm Waiblinger die Komödie sehr. Nachdem er sie am 7. Januar 1822 in Stuttgart im Theater sah, notierte er in sein Tagebuch: „In dem ‚Vielwisser‘ ist Kotzebue in allen seinen Fehlern und Mängeln. Es sind zusammengestoppelte Späße und Situationen ohne alle Tendenz, ohne Intrigue, ohne befriedigende Katastrophe. Doch mußt’ ich bei der Aufführung mich fast krank lachen.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

August von Kotzebue: Der Vielwisser. Ein Lustspiel in fünf Akten.
Herausgegeben von André Georgi und Alexander Kosenina.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2018.
108 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783865256683

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