Zwischen Welterleuchtung und Verschwendung
In 13 Vorträgen, Festreden und Nachworten kümmert sich Peter von Matt um Grundsätzliches, Menschliches und (nicht nur kanonische) Lektüren
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZwischen 2007 und 2017 sind die in diesem Band versammelten Festreden, Vorträge und Nachworte erstmals erschienen. Der bis 2002 an der Universität Zürich als Germanistikprofessor tätige Peter von Matt tritt mit ihnen erneut den Beweis an, dass er auch nach seiner Emeritierung einer der besten Kenner literarischer Prozesse und ihrer Vermittlung – auch an Nichtfachfrauen und -männer – geblieben ist, ein Wissenschaftler zumal, dessen umfangreiches Wissen frappiert und dessen Gabe, schwierige Zusammenhänge nicht nur eloquent, sondern auch verständlich ausdrücken zu können, wohl ziemlich einmalig in seinem Fach sein dürfte.
Ob es um Goethes Faust, die Gedichte der Annette von Droste-Hülshoff, Adelbert von Chamissos Peter Schlemihl oder den Struwwelpeter des Frankfurter Arztes und Psychiaters Heinrich Hoffmann geht – „ein unbestreitbar dilettantisches Produkt“, das dennoch „zum Klassiker“ wurde –, von Matt entdeckt in scheinbar komplett enträtselten Texten der Weltliteratur, ob kanonisch oder nicht, immer wieder ein Surplus, das so noch niemand zutage gefördert hat. Dass Kunst mit Verschwendung zu tun hat, Mythos jeglicher Wissenschaft in seiner Deutung des Weltganzen voraus ist und der jahrhundertealte Streit der Fakultäten nicht darüber hinwegzutäuschen vermag, dass „Wort und Zahl“ aufeinander angewiesen sind – „Sie sind Anfang und Ende aller Erkenntnis“ – , wer könnte das einleuchtender formulieren als der heute 86-jährige, mit zahlreichen Auszeichnungen – zuletzt dem Goethepreis der Stadt Frankfurt (2014) und dem Zürcher Festspielpreis (2017) – geehrte Wissenschaftler und Autor.
In drei Abschnitte unterteilt – von Matt hat sie mit „Grundsätzliches“, „Menschliches“ und „Lektüren – nicht nur kanonisch“ überschrieben – kümmert der Verfasser sich um etwas, das er in seiner Festrede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2012 selbst als nicht notwendig „zum physischen Überleben“ bezeichnet hat: die Kunst. Und stellt mit der provokanten Frage „Hat sie nicht immer die Reichen beglückt und den Armen die Stehplätze überlassen?“ rhetorisch in Frage, ob Literatur und Musik, Oper, Museum und Bildergalerie nicht tatsächlich etwas Elitäres verkörpern, das man sich leisten können muss.
Denn es ist schon etwas dran an dem Argument, dass „ungezählte Werke von betäubender Schönheit […] nur entstanden [sind], um prahlerischen Herrschern die Illusion ihrer Unsterblichkeit zu verschaffen“. Und auch die Preise, die heutigentags gezahlt werden, um „die Pollocks, die Richters, die Lichtensteins“ als Vermögensanlage in der Öffentlichkeit häufig nicht zugänglichen Depots zu horten, schließen die Durchschnittsverdiener dieser Welt vom Kunstmarkt a priori aus.
Und doch gilt auch: Man darf den Künstlern nicht diejenigen, die ihnen die Mittel zum Überleben geben, zum Vorwurf machen. Und aus der „ästhetischen Qualität eines Werks auf die moralische Qualität seines Schöpfers“ zu schließen, verbietet sich ebenfalls von vornherein. Denn auch Künstler sind Menschen wie wir alle – und als solche ist ihnen natürlich auch „nichts Menschliches fremd“, wie es so schön heißt.
Alle Texte des Bandes werden von der Kunst von Matts geprägt, ganze, sich über Dutzende von Jahren erstreckende (literar-) historische Zeiträume in ein paar wenigen, so wortgewandt wie bildkräftig formulierten Sätzen zu erfassen. Und immer scheint es die europäische Aufklärungsbewegung zu sein, der das besondere Interesse des Autors gilt. Ohne dass freilich die andere Seite dieser menschheitsbefreienden Erleuchtung aller bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dunkel gebliebenen Zonen der realen und geistigen Welt ausgeklammert bliebe. Was als grandioser Lichteinfall – „Seit Goethe wissen wir, dass die Sonne tönt, seit Joseph Haydn können wir sie hören.“ – wie eine „zweite Erschaffung der Welt“ durch den Menschen selbst wirkt, wird durch ihn wenige Jahrzehnte später auch schon wieder zurückzunehmen versucht.
Denn in dem Moment, wo alles Existierende durch den Gebrauch der Vernunft erklärt werden kann, wird man es auch nicht weiter unhinterfragt hinnehmen wollen, sondern es zum Besseren umzugestalten versuchen. Plötzlich scheint mehr möglich, als vielen genehm ist. Und das macht nicht nur Lust auf Zukunft, sondern weckt auch die Angst der lieber sich ans Gestern Klammernden vor dem Verlust ihrer Privilegien. Es braucht in diesem Kontext nicht mehr als zwei anspielungsreiche Sätze, um das Epochengefühl der Restaurationszeit Anfang des 19. Jahrhunderts auf den Punkt zu bringen: „Bald hörte man von ferne die Königin der Nacht wieder singen. Als sie sichtbar wurde, war sie ein Mann und hieß Clemens Fürst von Metternich.“
Gleichviel, ob Peter von Matt über die „zentrale Technik der Literatur“, mit Geheimnissen zu operieren, nachdenkt. Ob er in der „Dramaturgie der Dummheit“ im Don Quichote, den Volksmärchen der Brüder Grimm und den Amphitryon-Komödien von Plautus über Molière bis Kleist einen „Keim von Kant“ entdeckt oder über den Gerichtscharakter der Literatur mit Schiller als seinem wichtigsten Gewährsmann philosophiert. Stets tut er es mit Verve, stilistischer Brillanz und ohne jeden Anflug von Rechthaberei. Im Gegenteil: Als Leser hat man den Eindruck, auf Wegen an literarische Werke herangeführt zu werden, die bisher kaum beschritten wurden. Und dass es durchaus noch viele andere Pfade zur Kunst geben kann, verschweigt der Autor ebenfalls nicht, dergestalt dazu ermunternd, sich seine eigene Schneise zu Werken – seien es solche der Literatur, des (Musik-) Theaters oder der Bildenden Kunst – zu schlagen, in denen jede Zeit und jeder Rezipient sich auf ganz neue Weise widergespiegelt finden kann.
Dass die Arbeit der Kunst „keine Resultate“ erbringt, sondern Wirkungen, unterscheidet sie, wie von Matt an mehreren Stellen betont, von der Wissenschaft, die, von Fortschritt zu Fortschritt eilend und mit immer neuen Erkenntnissen die Fachzeitschriften füllend, dennoch das Manko besitzt, sich nur einer begrenzten Zahl von „Eingeweihten“ verständlich machen zu können. Kunst hingegen zielt über das konkret Erzählte hinaus ins Elementare. Sie ereignet sich „in der lebendigen Menschenbrust“ und richtet dort Dinge an, die „meistens die Möglichkeiten der Sprache“ überschreiten. Erfahrungen mit der Kunst untereinander zu teilen, kann deshalb schwierig sein.
Hier helfend einzuspringen, Richtungen zu weisen, auf Gemeinsamkeiten wie Unterschiede aufmerksam zu machen, zu kategoriesieren und zu generalisieren, ist eine Aufgabe, der sich die Literaturwissenschaft verschrieben hat. Gelegentlich ist sie im Laufe ihrer über 200-jährigen Geschichte von diesem Pfad ein wenig abgewichen, hat sich auf nationalistischem Territorium verlaufen oder in den Begrifflichkeiten anderer Welterklärungssysteme verirrt. Wenn deshalb Faust im Dialog mit seinem „Oberassistenten“ Wagner bei seiner Suche nach dem Einen und Ganzen Abstand nimmt von den „alten Scharteken“, die ihn offensichtlich keinen Schritt weiter hin zu seinem Ziel gebracht haben, so geht der Züricher Gelehrte einen anderen Weg. Was er in seinem Festvortrag am Fakultätstag der philosophischen und der theologischen Fakultät der Universität Zürich im April 2008 bezüglich der „leibhaftigen Wissenschaftler“ unserer Tage behauptete – „Der kleine Steinbruch, in dem jede und jeder beschäftigt ist, bleibt ja mit seiner Müh‘ und Not, seinen vielen Zweifeln und gelegentlichen Glücksgefühlen sogar den Kollegen weitgehend unbekannt. Was sollte davon erst die Öffentlichkeit wissen?“ – , für sich selbst sollte er das nicht reklamieren. Denn jeder, der das vorliegende kleine Buch zur Hand nimmt, wird profitieren.
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