Wer schreibt, der bleibt
Albert von Schirnding lässt in „War ich da? Von Ankünften und Abschieden“ sein mittlerweile 90jähriges Leben Revue passieren und präsentiert eine Geschichte, in der scheinbar alles richtig lief
Von Nora Eckert
Es ist nicht das erste Buch des Dichters, Essayisten, Literaturkritikers und Gymnasiallehrers aus Leidenschaft Albert von Schirnding, mit dem er uns aus seinem Leben erzählt, um damit Bleibendes zu Protokoll zu geben. Autobiografisch war 2023 Alter Mann, was nun?, auch Jugend, gestern von 2015 und ebenso Alphabet meines Lebens, das bereits zur Jahrtausendwende erschienen war. Auch die Erzählung Herkommen von 2010 ließe sich wohl als eine literarische Übung in Sachen verwobener und hintergründiger Familienchronik verstehen. In Alter Mann, was nun? sprach er vom Scheitern: „Meine Schüler haben ihr Griechisch vergessen, meine Bücher sind in den Schoß des Ungeschriebenen zurückgesunken. Ein Stein wurde ins Wasser geworfen, hat ein paar Ringe erzeugt; jetzt ist der Wasserspiegel wieder glatt.“
Die Tonlage in War ich da? ist eine andere, eher nüchtern, hie und da anekdotisch aufgeheitert, eher selten sind ironische Spitzen. Doch hier wie dort, festhalten und anhalten lässt sich trotzdem nichts, was mit der Lebens-Zeit eines Menschen zu tun hat, aber zumindest erzählen lässt sich, was unerbittlich auf ein Ende zugeht. Das Alter scheint da einen nachgerade natürlich zu nennenden Trieb der Mitteilung zu entfalten, indem Lebenswege erinnernd noch einmal gegangen und Bilanzen gezogen werden, bevor der Brunnen der Erinnerung endgültig versiegt. Vor allem aber bleiben literarische Selbstporträts in erster Linie die Antwort auf die Frage, wie wir gesehen werden wollen.
Seit wir die Individualität des Ichs feiern, die Einzigkeit des Ichs, wie es bei Emmanuel Lévinas heißt, haben Lebenserinnerungen ungebrochen Hochkonjunktur und das geht schon ziemlich lange so. Weshalb ich in diesem Fall von Schirnding widersprechen würde, der an einer Stelle meint, wichtig sei für Schriftsteller mehr das Dass als das Was. Gewiss, Erschaffen und Veröffentlichung gehören dazu. Doch wo es um Autobiografien geht, sind sie jedenfalls nicht dadurch originell, weil sie überhaupt geschrieben und veröffentlicht werden, sondern originell sind sie – mit welchem Resultat auch immer – durch das, was in ihnen steht oder eben nicht steht. Hier entscheidet allemal das Was.
Neunzig Lebensjahre auf 128 Druckseiten macht einen Schnitt von 1,4 Seiten pro Jahr. Aber auch hier entscheidet das Was den Wert dessen, was wir zu lesen bekommen, und nicht die Statistik. Doch auffällig ist schon, wie knapp das Ganze gehalten ist. Was den Autor freilich nicht daran hindert, entlang des roten Fadens seiner Lebenschronologie lauter schöne Nebensächlichkeiten einzuflechten, dazu eine Menge bedeutender Namen und immer wieder mal stehenzubleiben, um auf Sinnsuche zu gehen. Der Eindruck insgesamt: Da erzählt uns jemand sein Leben samt Familiengeschichte glatt und rund. Woraus ein Lebenslauf in einem Andante sostenuto entstand, um es mit einer musikalischen Tempobezeichnung auszudrücken. Alles hat seinen Platz, nichts hakt, kein Stolpern und Irren, kein Widerspruch – kurzum: ein erfülltes Leben nach Plan.
Albert von Schirnding stammt aus einer adligen Familie und kam 1935 als eines von insgesamt fünf Kindern in Regensburg zur Welt. Sein Vater war Chef der fürstlich Thurn- und Taxis‘schen Gesamtverwaltung. Der Autor erinnert die Begegnung mit den Prinzen und Prinzessinnen, zu der es zu bestimmten Anlässen immer wieder kam, als etwas Irreales. Die Aufenthalte in der fürstlichen Residenz lehrten ihn ein streng choreografiertes Rollenspiel à la Pirandello. „Das Operettenhafte trat in den Vordergrund.“ Aber es gab auch sehr sinnliche Erlebnisse, wenn nämlich zu den Festen Torten und Kuchen aus der Konditorei Schürnbrand aufgetischt wurden (heute befindet sich dort ein Modeladen), darunter die berühmte Prinzregententorte. Für von Schirnding ist sie ein perfektes Kunstwerk, weshalb er die Lust des Verspeisens mit der Andacht über die Glätte des Schokoladenüberzugs tauschte.
Zum Kriegsende erwartet er sehnsüchtig seine „geliebten Amerikaner“, die eine neue Zeit mitbringen würden. Aber nicht nur „Englisch lag in der Luft“, sondern auch die Entdeckung der griechischen Sprache. „Es wurde auf Anhieb mein Lieblingsfach.“ Eine Vorstellung von Verdis Oper Othello durfte der inzwischen 15-Jährige nicht besuchen, nachdem sein Vater das Libretto gelesen hatte. Das sei nichts für ihn. Das glich von Schirnding mit der Lektüre von Lautréamont, Rimbaud, Malte Laurids Brigge und Törless wieder aus. Später kam die Begeisterung für Tschechow und Beckett hinzu, während der christliche Jenseitsglaube für ihn, dem Katholiken, bankrottging. Beeindruckender fand er Hans Blumenbergs Feststellung: „Offenbar ist man vor allem tot, wenn man tot ist.“
Während des Studiums wird er für einige Jahre in den Semesterferien Adlatus bei Ernst Jünger, was er mit seiner Thomas-Mann-Liebe ausgleicht. Der neue Wohlstand macht sich durch lauter Einladungen der adligen Familien bemerkbar. „München leuchtete nicht, neun Jahre nach dem Krieg, München strotzte.“ Nach dem Studium beginnt schließlich der Schuldienst, zunächst in der Oberpfalz und später ab 1965 am Ludwigs-Gymnasium in München. Er sieht sich als Lehrer berufen, verpflichtet dem Ideal des humanistischen Gymnasiums, und der Beruf wird zugleich seine Passion bleiben. Doch „sein Ithaka“ ging am Ende an die neusprachliche Konkurrenz verloren. Er genießt das Kunst- und Theaterleben in München, und obwohl er ein dem Glauben Abhandengekommener sei, habe er sich in der katholischen Kirche immer wie zu Hause gefühlt.
Erst spät heiratet von Schirnding und es ist – fast wie in einem billigen Roman – die viel jüngere Pflegekraft, die für die inzwischen kranke Mutter engagiert wird. Erst zum Ende hin taucht dann inmitten eines von Gleichmaß geprägten Lebens ein heikles Thema auf – die Vergangenheitsbewältigung. Er hat keinen Zweifel, dass seine Eltern keine Nazis waren, aber Parteimitglied war der Vater trotzdem. Nach 1945 begründete er die Mitgliedschaft vor der Spruchkammer damit, dass er in seiner beruflichen Stellung andere so habe schützen können. Auch gab es wohl etliche sogenannte „Persilscheine“, die seine guten Taten oder auch seine Unbescholtenheit bescheinigten. Am Ende wurde er dann doch als Mitläufer eingestuft. Konsequenzen hatte das freilich für niemanden und am Wohlstand der Familie änderte das schon gar nichts. Das Fazit: Wir lesen über ein Leben, in dem einer bekam, was er wollte und sich wünschte. Es war bisher ein reiches, erfülltes Leben, dem aber inzwischen die Gegenwart verloren ging, so klingt es zumindest, weshalb er sie heute vorzugsweise in der Vergangenheit sucht.
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