Victor von Weizsäckers Plädoyer für eine andere Art der Naturbetrachtung

Zur Neuedition der im Wintersemester 1919/20 gehaltenen philosophischen Vorlesungen Victor von Weizsäckers

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ausgehend von der Genesis verweist der Mediziner und Physiologe Viktor von Weizsäcker in seiner im Wintersemester 1919/20 vor Hörern aller Heidelberger Fakultäten gehaltenen Vortragsreihe „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …“ auf die im Schöpfungsbericht vorhandenen wesentlichen Fragen moderner Naturphilosophie. Deren Kern bestehe in der Differenz zwischen realer, im Grunde irrationaler Natur und ihrer auf Vernunft fußenden Interpretation durch eine durch Entgeistigung und Entgottung geprägte neuzeitliche Naturwissenschaft. Diese die Wissenschaften manifestierende Gegensätzlichkeit habe, so Weizsäcker, ihre Wurzel in der Genesis. Der durch Worte schaffende Gott konstruiert eine Welt der Kontraste: „…und Gott sprach, es werde Licht. Und es ward Licht.“. Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Erde und Wasser bilden sich bedingende Gegensatzpaare. Weizsäcker erblickt in der göttlichen Erschaffung der Welt das „Urphänomen der Gegensätzlichkeit“, dass jedes jüngere Modell zum Aufbau der Materie präge. Jene Gegensätzlichkeit zeige sich auch im Schöpfungsakt, der selbst kein Naturgeschehen sei, sondern dasselbe erst hervorrufe: „Natur ist an sich ungeistig“ (30). Geist habe sie geschaffen, sie selbst aber sei, folge man dem biblischen Schöpfungsbericht, nicht Teil dieses Geistes. Der Schöpfungsakt lasse hierbei die Motive und den Willen des Schöpfers außen vor.

Weizsäcker erkennt zwei fundamental gegensätzliche Weltbilder – die christliche Philosophie und den deutschen Idealismus auf der einen Seite und auf der anderen Seite die moderne Naturwissenschaft. Aus diesem Gegensatz erwachse eine „gewaltige Spannung“ zwischen beiden Grundmotiven, die neuzeitliches Denken präge. Im Zuge späterer Betrachtungen, zeigt er, dass christliche und deutsche Philosophie in diesem Ringen im 19. Jahrhundert unterlagen.

In der zweiten Vorlesung erklärt Weizsäcker den Charakter der Naturwissenschaft. Diese wolle nicht erklären, woher die Welt komme und was aus ihr werde. Stattdessen versuche sie den Zustand der Welt genauer zu erfassen. Auch der zweite Tag der Schöpfung zeige dies – die Trennung von Geist und Natur. Die Welt zerfalle in eine sinnliche und eine geistige Welt – in ein „Das ist“ und ein „Das bedeutet“, in „Natur“ und „Geist“. Im christlichen Zeremoniell ruhe der Versuch, Identität des Sinnlich-Vorhandenen mit dem geistigen Inhalt in Übereinstimmung zu bringen. Weizsäcker zeigt dies am Beispiel der Hostie. Der die Hostie verabreichende Priester verwandele das sinnliche „dieses ist“ in ein „dies bedeutet“ und so nehme es wenig Wunder, dass gerade der Hostienstreit am Anfang der Reformation stehe. Zu behaupten, die Welt sei ohne Gott, sei atheistisch, sie sei ohne Geist, „materialistisch“. Erstaunlich hieran ist, dass Weizsäcker die Anfänge materialistischen Denkens im Altertum verortet und ausgerechnet in der Genesis eine wesentliche Wurzel dieser Naturbetrachtung auszumachen scheint. Gott steht in ihr außerhalb der Schöpfung, er wohnt ihr nicht inne. Jene Geistlosigkeit des Naturbildes sei in die Physik eingedrungen. Je mehr sich aber nun die Wissenschaft in diese Richtung bewege, „um so blinder“ werde „sie für die Tatsachen der Natur“, die permanent auf Geistiges hinwiesen.

Der dritte Schöpfungstag, den Weizsäcker im Rahmen der dritten Vorlesung verhandelt, bringt die diesseitige Natur hervor, die Dinge, wie sie uns erscheinen. Gleichsam erscheint Gottes Erschaffen nun nicht mehr unmittelbar. Die Dinge werden in belebte und unbelebte Natur gesondert. Der Mensch wird wesentlich später, erst am sechsten Schöpfungstag, geschaffen. Er ist Teil der belebten Natur und damit nicht Gottes und er beginnt zu fragen. Hier liegt der Urgrund der quantifizierenden Naturwissenschaft, dessen Resultat „Entgottung“ und „Entgeistigung“ seien.

Betrachtungen über die Entwicklung der Moderne stehen im Zentrum der diese Gedanken darlegenden dritten bis sechsten Vorträge. Die Mathematisierung, Zergliederung und Mechanisierung zerstöre den Zugang zur Natur, die in den Augen der „Wissenschaft“ qualitätslos wird. Sie werde quantifiziert, zerhackt in immer kleinere mathematisierbare Einheiten. Jeder „… Schritt, den diese Biologie tut, und jeder Erfolg, den sie hat, ist ein Nagel zum Sarg des Lebens“ (77). Der Pantheismus verhalte sich mit seiner Vergöttlichung aller sinnlichen Natur anders. Beide Anschauungen verhielten sich wie Schraube und Mutter, beide beinhalteten einen Bezug auf Gott; die Naturwissenschaft „eine Bejahung des Unbeschränkten“ als „rein abstraktes Anhängsel“ und der Pantheismus in seiner „Allbejahung“.

Im siebten Kapitel widmet sich Weizsäcker der Frage nach der Subjektivität jeder Erkenntnis. Wissenschaft bestehe in einem Schauen der Ordnung, die in den Dingen liege. Weder bestünden die Abläufe in der Welt aus kausalen zeitlich geordneten Ketten noch sei diese selbst ein Nebeneinander von Vorstellungen, Empfindungen und Gedanken, sondern sie besitze einen metaphysischen Urgrund, der durch den Geist des Menschen zu dem werde, was er ist. Um dies zu erkennen, müsse man „sehend werden, nicht erklären, schauen, nicht ableiten“, nicht analysieren und zerstören. Die Natur sei „wirkliche leibhaftig daseiende Vernunft“ (93).

Wissenschaft könne dementsprechend als Suche nach der konkreten innerlichen Vernunft in der Natur definiert werden. Hierfür benennt Weizsäcker eine ganze Reihe von Beispielen, etwa die der „theologisch aufgebauten Biologie seit Johannes Müller und Darwin“, auch die Philosophie Lotzes und Windelbands oder die Kulturgeschichte Jacob Burckhardts.

In dieser neuen Sichtweise der Natur werde nicht Einzelnes betrachtet, nicht das Einzelne aus seinem Zusammenhang heraus gesehen, sondern sei die Gesamtheit, die Einheit, das Bild „ein weltweites Symbol“ (94).

Am siebenten Tag habe Gott sein Werk gesegnet. Dies verkörpere die Geburt der Innerlichkeit.

Indem Gott Adam schuf, trat an die Stelle des Wortes nur die unmittelbare Beziehung zwischen Gott und Schöpfung, „die fühlbare Berührung“. (102) Der Boden ist bereitet für das, was die Frage nach der Natur künftig bestimmen wird – nämlich das Problem des Verhältnisses von Natur und Geschichte.

Nach dem siebten Kapitel endeten alle Druckfassungen mit Weizsäckers Worten, dass die übrigen der im Winter 1919/20 gehaltenen Vorlesungen zur Naturphilosophie im Kriege verloren gegangen seien. Der Band bietet nun jedoch auch einige bislang ungedruckte Vorlesungen. So wird in der achten Vorlesung eine Zusammenfassung des bislang Gehörten geboten. Der Erörterung der Frage nach der Beschaffenheit der Natur sei die Frage vorangegangen, was die Natur für den Menschen persönlich sei. Schließlich habe er, Weizsäcker, das Verhältnis von Gott und Mensch und die dem Menschen eingeborene Urteilskraft thematisiert. Wiederholt weist Weizsäcker auf die Subjektivität jedes Erkenntnisprozesses hin.

Im Besonderen geht es ihm hier um die zeitliche Ordnung der Dinge. Mit „rationaler Wissenschaft haben wir die Fülle der Natur zergliedert, seziert, zerstört, umgebracht“ (113). Gefunden habe man hierbei nicht die allem innewohnende Idee des Schöpfers, sondern das „Ich“.

Das 19. Jahrhundert habe keine Verinnerlichung des Erkenntnisprozesses gebracht, sondern reinsten Materialismus „in höchster Innerlichlosigkeit“ (115). Weizsäcker wendet sich unter der Überschrift Krankheit und Tod in der neunten Vorlesung erneut zurück zur Bibel und schildert den Sündenfall als Ergebnis eines äußeren Entscheidungsprozesses, der eben kein innerer Entscheid gewesen sei, sondern ein dem Willen entzogener „Motivzusammenhang“. Die neunte Vorlesung ist allerdings nur lückenhaft überliefert, die zehnte fehlt gänzlich.

Sobald die Wissenschaften sich zu einem sich immer weiter vervollkommnenden System entwickeln, merke der gesunde Mensch instinktiv, dass etwas mit diesem System nicht stimme, so Weizsäcker in der elften Vorlesung (Glauben und Wissen). Es gelte sich vor dem wissenschaftlichen Dogmatismus der sinnlichen Erfahrung zu hüten. Es sei das Prinzip der Erscheinung Jesugewesen, dass das „Leben vor die Lehre“, die „Erfahrung vor die Behauptung“ gestellt sei. Nur so sei den Ergebnissen empirischer Naturwissenschaft beizukommen. Weizsäcker verdeutlicht dies am Beispiel eines Hegel-Aufsatzes, der Anfang des 19. Jahrhunderts erschienen sei und in dem der große Philosoph behauptet habe, dass es zwischen Merkur und Venus eine Lücke geben müsse und hier kein Planet bestehen könne. Als nun jedoch bekannt wurde, dass ein Himmelskörper zwischen den beiden entdeckt wurde, sei dies der Untergang des philosophischen Denkens gewesen, eine massive Niederlage des Idealismus gegenüber der empirischen Naturwissenschaft. Weizsäcker lässt offen, welcher Himmelskörper dies gewesen sein soll, da sich bekanntlich tatsächlich kein Planet zwischen Merkur und Venus befindet. Hegel habe alles noch einmal „umgegossen in ein Kunstwerk von höchster und klarster Konsequenz, der Weg der Menschheit und Natur schien als Weg der notwendigen Selbstentfaltung der göttlichen Vernunft offenbar geworden“ und „in dieses Kunstwerk“ seien „jetzt krachend die ersten Blitze erwachender Naturwissenschaft [gefahren] und in weniger als zwei Dezennien liegt der ganze Haufen in Trümmern“ (125). Über das System der Vernunft habe das Prinzip der Erfahrung gesiegt.

Und dennoch gäbe es niemanden, so Weizsäcker, der etwas wissen könne, ohne zu glauben. Der Glaube sei Anfang und Voraussetzung allen Wissens gewesen. An einem Beispiel wiederum verdeutlicht er dies. Man behaupte, Salzsäure und Natronlauge reagierten zum Kochsalz. Doch woher wüssten das die meisten Menschen? Kaum jemand habe die Reaktion selbst ausgeführt. Sie glaubten ihren Lehrern.

Die zwölfte Vorlesung „Das Nichts und die Grenze der Vernunft“ bildet zweifelsohne den Höhepunkt der Betrachtungen. Weizsäcker widmet sich hier der Frage nach der Stellung des Irrationalen im Erkenntnisprozess. In der Natur sei Irrationalität an der Tagesordnung. Warum sich eine Fliege genau zu diesem Zeitpunkt an einen bestimmten Punkt setze, lasse sich vernünftig nicht erklären. Irrationalität herrsche in der Natur. Der Mensch, der die Natur betrachtend plötzlich ein Wissen darum erhalte warum sich etwas verhalte, wie es sich verhalte, befinde sich im Moment tatsächlichen Begreifens. Sobald er versuche, seine Erkenntnis in ein System zu gießen, werde das Wissen totund er befinde sich jenseits des Lebens. „So haben wir denn den festen Punkt, in dem wissenschaftliche Wahrheit wirklich ist, endlich gefunden, es ist der eleatische Augenblick des werdenden Wissens, nicht schon des gewußten Wissens, es ist der gegenwärtige, für uns alle wirkliche Augenblick.“ (140)

An das vierzehnte und letzte Kapitel schließt die editorische Nachbetrachtung an, die verdeutlicht, dass es sich beim vorliegenden Text um eine Ausgabe handelt, die vor allem der Lektüre dient. So sei auf verschiedene Anmerkungen verzichtet worden. Zudem fehle der Hinweis auf die Bedeutung Schellings für das Werk Weizsäckers im Allgemeinen und im Besonderen für diese Vorlesung. Gerade dessen Naturphilosophie sei für Viktor von Weizsäcker prägend gewesen.

Unter dem Abschnitt Kontexte sind verschiedene Zugänge zur Vorlesung subsumiert: so ein Erklärungstext sowie zwei kurze Texte Weizsäckers. Daran schließt sich ein Text von Peter Achilles zur Erstausgabe von 1954 an, in dem die Bedeutung des Lektors Stache für die Publikation des Textes deutlich wird. Stache selbst hatte auch entschieden, den zweiten Teil des Manuskriptes nicht mitzuveröffentlichen. An diesen Aufsatz schließen sich drei Rezensionen an, danach ein Aufsatz zur ersten Übersetzung der Vorlesung ins Japanische von Yutaka Maruhashi und Rainer-M.E. Jacobi, dem Herausgeber dieses Bandes. Unter der Überschrift Zur Forschung sind umfassende Aufsätze beigefügt, die Inhalt, Form und Werkgenese einer genaueren Untersuchung unterziehen. Christian Link steuert einen Aufsatz zum Thema Glauben und Wissen bei, Emil Angehrn zum Verstehen des Lebens, Wolfgang Riedel über die frühen Arbeiten Weizsäckers zwischen Szientismuskritik und religionssemantischer Krise. Der Anhang bietet Abbildungen, etwa Dürers Melancholia 1 und Buonarrotis Darstellung der Genesis.

Wer sich vertiefend mit Weizsäcker zu beschäftigen trachtet, dem bieten diese Beiträge Nahrung. Weizsäckers Schrift selbst erscheint aktueller denn je, verweist er doch beständig auf die Notwendigkeit einer gänzlich anders gearteten Naturwissenschaft. Durch die Lektüre tritt dem Leser einmal mehr vor Augen, dass sich die Natur der Naturwissenschaft seit Weizsäckers Vorlesung nicht geändert hat, sondern dieselbe sich immer tiefer im Netz einer entgeistigten, zergliederten Materie verfängt – unfähig, das Leben selbst zu erfassen, geschweige denn es abzubilden.

Titelbild

Viktor von Weizsäcker: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Grundfragen der Naturphilosophie.
Herausgegeben von Rainer-M. E. Jacobi, unter Mitwirkung von Wolfgang Riedel.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2022.
456 Seiten , 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783825347376

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