Shakespeare, nur ohne den Sex

Franziska Walter untersucht Stefan Georges Sonett-Übersetzungen

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An der Schwelle zur literarischen Moderne in Deutschland steht mit Stefan George ein Autor, dessen gedrucktes Werk etwa zur Hälfte aus Übersetzungen besteht. George schulte sich in der Auseinandersetzung mit Arbeiten zeitgenössischer Lyriker aus verschiedenen europäischen Ländern, deren Schaffen er für wegweisend hielt. Darüber hinaus übertrug er große Teile von Dantes Göttlicher Komödie und von Charles Baudelaires Fleurs du mal ins Deutsche. Er unterstützte Friedrich Gundolf bei der Übersetzung von William Shakespeares Dramen, wobei sich der genaue Umfang seines schöpferischen Beitrags nicht mehr feststellen lässt. Und er übersetzte Shakespeares Sonette. Diesen Texten widmet sich die Studie Meisterhaftes Übersetzen von Franziska Walter.

Ihr Hauptaugenmerk gilt der Frage, welche größeren Freiheiten George sich erlaubt. Dahinter steht die Hypothese, dass George die Sonette als Kronzeugen für seine eigene Poetik und Pädagogik aufruft und die Übersetzung außerdem, sowohl durch ihre Textgestalt als auch durch die spezifischen Kontexte ihrer Publikation, deutlich sichtbar zum Teil seiner eigenen, dichterisch formulierten Erneuerungsmission macht. Mit anderen Worten: Wo Georges Versionen in Bezug auf Wortbedeutungen, Aussagen und Struktur deutlich von Shakespeare abweichen, sei das nicht als Schwäche des Übersetzers, als Missverständnis oder als Folge grundsätzlicher Unmöglichkeiten zu sehen, sondern als bewusste Entscheidung für bestimmte, selbstgesetzte Inhalte, die sich auch andernorts nachweisen lassen.

Diese Hypothese ist im höchsten Maße plausibel, und Walters umfangreiche, sorgfältige und detaillierte Analysen zahlreicher Sonette liefern aussagekräftige Belege. Sie zieht vor allem die folgenden Schlussfolgerungen: George entsexualisiert die Beziehung zum „Fair Youth“, dem jungen Mann, dem viele Sonette zugesprochen sind; Shakespeares Vorliebe für sexuelle Anspielungen gibt George nur dort wieder, wo körperliche Beziehungen verurteilt werden. George intensiviert die Unterschiede zwischen „Fair Youth“ und „Dark Lady“, der zweiten Hauptfigur des Zyklus. Umgekehrt schwächt er die Konkurrenzsituation zwischen dem Sprecher der Texte und dem „Rival Poet“ ab, der um den jungen Mann wirbt. Walter zeigt außerdem überzeugend, wie George die überaus zahlreichen poetologischen Passagen innerhalb der Sonette im Deutschen so darstellt, dass Dichtung als gesellschaftlich wirksame Kraft erscheint, die Schönes schafft und nicht nur an Schönes erinnert. All das sind für die George-Forschung wichtige Erkenntnisse.

In mancher Hinsicht problematisch ist Walters Herangehensweise an die Textarbeit. Methoden der Übersetzungswissenschaft bleiben gänzlich ungenutzt – Antoine Bermans „deforming tendencies“ beispielsweise hätten eine sinnvolle Struktur für die Einordnung von Georges Modifikationen geboten. Walters Aussage im Hinblick auf einen Kernbereich ihrer Untersuchung, es gebe keine Literatur zum Thema Übersetzung als Autorschaft, übersieht ein ganzes Forschungsfeld. Mindestens ungeschickt ist der Umgang mit dem Begriffspaar „Eigenes“ und „Fremdes“, das Walter immer wieder ins Spiel bringt. Sie zitiert gleich eingangs Bernhard Waldenfels, dessen ganzes Werk darauf beruht, Fremdheit nicht als Eigenschaft eines Anderen, sondern als Erfahrung des Selbst zu profilieren. Dem implizit widersprechend, stellt Walter Shakespeares Werk holzschnittartig als „das Fremde“ dar. Im aktuellen gesellschaftlichen Kontext wäre Klarheit mit Bezug auf diesen polarisierenden Begriff wichtig, der gerade eine Handhabe bietet, von einer Essentialisierung „des“ Fremden abzusehen; auch der Umgang mit konkreten Rezeptionsweisen Georges und seines Kreises könnte von einer solchen Klarheit profitieren. Das abschließende Kapitel, das Verbindungen zwischen den Sonett-Übersetzungen und Georges Gedichtband Der Stern des Bundes herstellt, enthält eine Reihe wesentlicher Feststellungen, bleibt insgesamt aber vage; hier wie auch in früheren Kapiteln wäre unter Einbeziehung relevanter Forschung zu Georges Werk mehr herauszuholen gewesen. Aufsätze von Ray Ockenden und Antje Hartje zu den Shakespeare-Übersetzungen, von Jürgen Egyptien zur Entstehung des Sterns, von Tina Winzen und Adrian Daub zu zentralen, auch von Walter untersuchten Begriffen darin oder von Ludwig Lehnen zu Georges Verbindungen zu europäischen Literaturen hätten es Walter ermöglicht, ihre Untersuchung noch deutlich zu schärfen.

Der unbestreitbare Gewinn von Walters Arbeit liegt darin, dass sie zeigt, wie minutiös und wie nachdrücklich Stefan George sein dichterisches Projekt umsetzt, zu dem die Übersetzungen im selben Maße gehören wie Gedichtbände und herausgegebene Werke. Zu Recht weist die Autorin folglich am Ende darauf hin, dass entsprechende Untersuchungen der anderen Übersetzungen Georges ebenfalls lohnend wären.

Titelbild

Franziska Walter: Meisterhaftes Übersetzen. Stefan Gorges Übersetzung der Sonette Shakespeares.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
312 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783826061882

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