Der Wind der Geschichte
Zur Neuauflage von Tetsuro Watsujis Klassiker der Klimakulturgeschichte „Fûdo – Wind und Erde“
Von Felix T. Gregor
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDirekt zu Beginn ihrer Einleitung in Tetsuro Watsujis ‚Klimaklassiker‘ Fûdo – Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur bekunden Dora Fischer-Barnicol und Ryogi Okochi, die deutschsprachigen Übersetzer*innen des Buches, ihr Bedauern, dass die Schriften Watsujis im deutschsprachigen Raum größtenteils unbekannt sind. Sie konstatieren, dass dies nicht nur auf ein allgemeines, fachfremdes Lesepublikum zutreffe, sondern gerade auch das deutschsprachige Fachpublikum, mithin die japanologischen Institute an den Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz kaum eine Wahrnehmung für sein Werk und sein Denken zeigen. Umso erstaunlicher erscheint dieser Umstand für das Übersetzungsteam, da außerhalb des deutschen Sprachraums seit Jahrzehnten bereits zahlreiche Auflagen von Watsujis Fûdo übersetzt in der jeweiligen Landessprache existieren und zirkulieren. Die Vermutung liegt daher nah, so schrieben Fischer-Barnicol und Okochi 1990 anlässlich der Erstveröffentlichung der deutschsprachigen Übersetzung, dass es etwas in Watsujis Denkweise geben muss, dass ausschlaggebend für diese Nicht-Beachtung ist.
In Anbetracht der nun bei Matthes und Seitz unter dem Titel Fûdo – Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur herausgegeben Neuauflage lässt sich über Watsujis sicherlich bekanntestes Werk sagen, dass sich auch fast 20 Jahre später an dem genannten Umstand bezüglich seiner Popularität kaum etwas geändert hat. Noch immer stellt sein Buch eine unbekannte Größe in den Vorlesungen und Seminaren japanologischer sowie kultur- und geisteswissenschaftlicher Studiengänge im hiesigen Sprachraum dar.
In meiner eigenen japanologischen Grundausbildung begegnete mir Watsujis Fûdo im ersten Studienjahr als Randnotiz in einer zweisemestrigen Vorlesung, die die ganze Bandbreite der japanischen (Geistes-)Geschichte abzudecken versuchte. Wie klein seine Bedeutung im Kontext der mir damals vermittelten Inhalte auch war, so durfte sein Name, immerhin ein Jahrzehnt nach der Erstübersetzung von Fûdo, scheinbar nicht unerwähnt bleiben. Ein Grund lag und liegt sicherlich darin, dass Watsuji zusammen mit Daisetsu Suzuki und Kitaro Nishida das ‚Dreigestirn‘ der modernen japanischen Philosophie darstellte, welche sich nicht nur mit den chinesischen und japanischen Klassikern beschäftigte, sondern auch die für uns bekannten Denker des Westens für sich entdeckte. Neben Fûdo finden sich deshalb zahlreiche Bücher in Watsujis Oeuvre, die sich unter anderem mit philosophischen Größen wie Kant, Kierkegaard und Homer beschäftigen. Später wandte sich sein Interesse jedoch mehr der japanischen Gesellschaft und Kultur zu, sodass sich gerade in der zweiten Hälfte seines Schaffens beispielsweise Auseinandersetzungen mit der japanischen Kunstgeschichte, der japanischen Geistesgeschichte und der Tradition der Tennô-Verehrung finden lassen. Die ostasiatische Geistesgeschichte wurde bei ihm somit zu einer gleichwertigen Größe gegenüber der westlichen. Diese Vielfalt seiner Untersuchungs- und Interessensgegenstände erscheint mir nicht unerheblich, um zu verstehen, was Watsuji in Fûdo genau zu erproben versucht.
Ausgehend von Martin Heideggers Sein und Zeit, das er mit Interesse im Berliner Frühsommer des Jahres 1927 gelesen hatte, begann Watsuji sich mehr und mehr zu fragen, welchen Einfluss der Raum und letztlich das Klima auf die Entwicklung und den erfolgreichen bzw. erfolglosen Fortschritt einer Kultur besitzen. Denn Heidegger, so schreibt er, betont in besonderer Weise die Bedeutung der Zeit und Zeitlichkeit für das Dasein, doch ihr Pendant, der Raum, werde von ihm im Gegensatz sträflich ignoriert. Doch wie könne der klimatische Raum nicht bedacht werden, wenn seine Auswirkungen auf die Kulturen der Welt derart vielfach und offensichtlich zu beobachten sind, lautet Watsujis Schlussfolgerung. Dieses Fragen und Nachdenken über die nötigen Konsequenzen aus seiner Heidegger-Lektüre führten zwischen 1928 und 1935 dazu, dass er schließlich Fûdo verfasste, eine essentialistische und stellenweise, dem Zeitgeist entsprechend, kulturchauvinistische Klimageschichte der Welt, die jedoch mehr ist als die Summe ihrer Teile. Ihre Lektüre lohnt auch – oder gerade – heute noch.
Die wesentliche Unterscheidung, für die Fûdo am bekanntesten ist, ist Watsujis Dreiteilung der Welt in Regionen mit unterschiedlichen und distinkten Klimazonen: zum einen gibt es die Regionen des Monsunklimas, zum anderen Regionen mit einem Wüstenklima und letztlich jene mit einem Wiesenklima. Die Hauptthese von Fûdo lautet, dass sich in ihnen Kulturen nicht nur anders entwickeln, sondern die menschliche Geschichte sowie das menschliche Wesen wesentlich von dem sie umgebenden Klima bestimmt werden: Wer folglich im ständigen Winter der Arktis lebt, kann für Watsuji nicht dieselben Erfahrungen machen wie ein Mensch, der sich dem permanenten Sommer der Wüste ausgesetzt sieht. Ein Entkommen aus diesen Bedingungen stellt für Watsuji keine Möglichkeit dar. So erscheint in seiner Beschreibung Indien, in Fûdo Paradebeispiel für das Monsunklima, als ein Kulturraum, der nicht nur topografisch, sondern auch gesellschaftlich-kulturell vor allem von einer klimatischen Monotonie bestimmt wird, die auf das Kommen und Gehen der jährlichen Regenzeit zurückgeht. Das Leben, das Watsuji anhand eigener Reiseerfahrung lebhaft und detailliert beschreibt, ist geprägt von einer harten, körperlich anstrengenden Arbeit auf den Feldern Indiens, wo der Ausgang einer guten Ernte allein von den meteorologischen Gegebenheiten abzuhängen scheint. An der Beschreibung der indischen Kultur wird zugleich aber auch die Problematik einiger Überlegungen Watsujis deutlich, die für ein heutiges Lesepublikum von Fûdo die im vorliegenden Band fehlende, aber dringend notwendige historisch-kritische Einordnung des Geschriebenen in den Kontext der japanischen 1920er und 1930er Jahre vermissen lässt. Dazu am Ende noch einmal mehr.
Zunächst differenziert Watsuji das Monsunklima Indiens im Jahresverlauf in drei Phasen: eine kühle und trockene Zeit, eine heiße und trockene und letztlich dann die Regenzeit. Während die ersten beiden Phasen beobachtbare und messbare Phänomene darstellen, bestimmen sie für ihn die indische Kultur jedoch kaum. Es ist hauptsächlich die Regenzeit, so Watsuji, die prägenden Einfluss besitzt und die indische Kultur zu einer, wie er findet, passiv-empfänglichen macht: Da Indien vor allem von der Landwirtschaft abhängig ist, sind die Menschen auf den Regen der Monsune existentiell angewiesen. Findet dieser zu spät statt oder fallen die Wassermengen zu gering aus, kann dies für das komplette Leben in Indien schwerwiegende Folgen haben. War damit früher noch der physische Tod gemeint, sind es zur Zeit Watsujis vor allem ökonomische Konsequenzen, die die indische Bauernschaft, und damit mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, bedrohen. „Auch heute gibt es noch keine wirksamen Mittel, um Naturkatastrophen abzuwenden und das indische Volk von seiner Lebensangst zu befreien“, schreibt er. Dies führt dazu, so Watsujis heute problematische, da eben kulturchauvinistische Schlussfolgerung, dass dem indischen Volk alles Kriegerische und mithin Willentliche unbekannt ist. Dies zeige sich nicht nur im Fehlen einer bewussten Geschichtlichkeit der indischen Kultur, die eben erst aktiv produziert werden müsste, sondern gerade auch in den zahlreichen Eroberungserfahrungen, die das indische Volk in seiner eigenen Geschichte erleben musste: „Das Ergebnis war eine noch größere Passivität und Resignation.“ Eine Veränderung dieser wie jeder anderen kulturellen Mentalität wäre für Watsuji nur dann möglich, wenn sich nicht der Mensch, sondern das Klima um ihn herum veränderte. Dazu bedürfe es aber zuvorderst einer historisch-kritischen Betrachtung, die es in Indien eben nicht zu geben scheine.
Diese Formen einer essentialistischen Beschreibung setzen sich bei den anderen, bereits genannten Klimatypen fort. So stellten die Völker und Kulturen der Wüste das genaue Gegenteil der Monsunklima-Kulturen dar, indem sie kriegerisch, aktiv und widerständig seien: Wer in der Wüste nicht selbst nach Wasser sucht, kann sich seines Lebens nicht sicher sein, so das Fazit Watsujis. Dieser Kampf mit, gegen und in der Natur lässt den Menschen des Wüstenklimas zugleich zu einem historischen Menschen werden, indem er sich seinen Platz nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit stetig erkämpfen muss. Das Wiesenklima wiederum, das Watsuji dezidiert mit den Kulturen und Nationen Europas verbindet, verhält sich noch einmal anders. Hier sieht er die produktive Symbiose der beiden vorhergehenden Klimazonen am Werk, die dazu geführt habe, dass Europa um 1900 zur Wiege der Moderne sowie der Industrialisierung wurde. Während sich die Kulturen in den Monsun- und Wüstengebieten mit klimatischen Extremen konfrontiert sehen, erscheinen für Watsuji die Länder Europas als Idealregionen der Welt, in denen selbst kleine Dinge wie Unkraut nicht existieren würden, die woanders als Beweis einer natürlichen Widerständigkeit und Unproduktivität gelten. Unkraut, so Watsujis phantastische Begründung, könne nämlich aufgrund der klimatischen Bedingungen in Europa schlicht nicht wachsen. Alles, was in der Natur und den Kulturen der europäischen Länder daher vorzufinden ist, erfülle einen produktiven Nutzen. In diesen Überlegungen und Beschreibungen Europas wird eine allgemeine Faszination für den europäischen Kontinent deutlich, die sich seit der Öffnung Japans im 19. Jahrhundert vielfach in der japanischen Kultur wiederfindet. So waren beispielsweise weite Teile der Meiji-Verfassung von 1889 an die britische und preußische Verfassung der damaligen Zeit angelehnt. Entsprechend stellt Japan für Watsuji auch eine Ausnahme unter den Ländern des Monsunklimas dar, die er in seinem Buch gesondert beschreibt. Als ein Land, in dem der Monsun zu einem Taifun wird und das im Gegensatz zu Ländern wie Indien distinkte Jahreszeiten besitzt, hat sich die japanische vergleichbar der europäischen Kultur zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Wüste und Monsun entwickelt. Während sich Europa jedoch auf die bereits vorhandenen Gegebenheiten zurückziehen kann, ist die japanische Entwicklung vor allem das Ergebnis einer stetigen Aushandlung. Folglich sieht Watsuji die japanische Kultur auch als ein gewisses Ideal innerhalb der Entwicklung der globalen Klimakulturen.
Erscheint Fûdo an dieser Stelle möglicherweise als ein Buch, dessen Lektüre nicht mehr ruhigen Gewissens erfolgen kann, so machen viele andere Stellen es auch heute noch lesenswert: Es sind vor allem die genauen und lebhaften Beschreibungen von Landschaften und Menschen, die auf Watsujis eigene Reiseerfahrungen zurückgehen, die den Blick vor allem auf die poetischen Aspekte seines Schreibens richten. Was Fûdo daher genauso ist, und das betonen in besonderer Weise auch beide Übersetzer*innen in ihrer Einleitung, ist ein Reisebericht, der seinen Leser*innen die Länder der Welt, zuweilen die eigene, europäische Kultur aus den Augen des ‚Fremden‘ näherbringt. Auf diese Weise ermöglicht Fûdo einen zeitgenössischen, mithin historischen Blick auf unsere europäische Kultur, der derart allzu selten zu lesen ist. Gleichzeitig gemahnt das Buch mit seiner Klimageschichte an die Bedeutung der ökologischen Umwelt und an den Einfluss, den die Natur auf das menschliche Leben besitzt. Dies hat augenscheinlich auch der Verlag erkannt, wenn er auf seiner Website damit wirbt, dass Watsujis Buch „vor dem Hintergrund des Klimawandels und den theoretischen Prämissen des Anthropozäns“ heute neu gelesen werden müsse. Mit Blick auf die immer zahlreicher werdenden Nationen, die ihre klimapolitischen Zukunftspläne zugunsten kurzfristiger Jagden auf Wählerstimmen aufgeben, kann man diesem Fazit nur zustimmen. Umso mehr verwundert es von neuem, dass der Verlag Matthes und Seitz Watsujis Fûdo nun kommentarlos neu aufgelegt hat. Angesichts seiner Aktualität, aber auch wegen der heute stellenweise schwierigen Textstellen, die unbedingt einer historisch-kritischen Einordnung bedürfen, wäre neben einem detaillierten Stellenkommentar zumindest ein erklärendes und einordnendes Nachwort wünschenswert gewesen. Dass diese Aufgabe nun den Leser*innen am Ende von Fûdo selbst überlassen bleibt, ist angesichts des Facettenreichtums des Buches mehr als schade.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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