Fragiles Heldentum
Anne Weber setzt in „Annette, ein Heldinnenepos“ einer französischen Résistance-Kämpferin ein literarisches Denkmal
Von Sabine Haupt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt im gesamten deutschsprachigen Raum wohl keine(n) AutorIn, deren/dessen Werk so eng mit dem deutsch-französischen Sprach- und Kulturaustausch verbunden ist wie das Werk von Anne Weber. Mit ihren bisher 11 Romanen hat die in Offenbach geborene und dort aufgewachsene, doch seit Jahrzehnten in Paris lebende Autorin und Übersetzerin ein absolut singuläres Werk geschaffen. Mehrsprachige AutorInnen, die – beispielsweise in einer klassischen Exilsituation – die Sprache wechseln, sind keine Seltenheit. Doch eine Autorin, die wie Anne Weber alle ihre Bücher selbst übersetzt beziehungsweise simultan in beiden Sprachen schreibt und im selben Jahr publiziert, ja aus dem bilingualen Hin und Her, dem deutsch-französischen Mit- und Gegeneinander eine ganz eigene Schreibmethode entwickelt hat, ist meines Wissens einzigartig.
Eine solch systematische Entfremdung von der Muttersprache schützt – so erklärt Weber ihr eigenes Verfahren – vor wohlfeilen sprachlichen Automatismen, weckt und fördert die Sensibilität für semantische Konnotationen, latente Wortbedeutungen oder überraschende Kombinationen – und das in beiden Sprachen. In einem Essay von 2004 skizziert Weber ihre Methode folgendermaßen: „In der fremden Sprache denke ich mehr, da rieselt kein Gedanke unbeobachtet durch mich hindurch. […] Mein französisches Hirn […] baut mir keine bequemen Wege, auf denen es sich gedankenlos und vertrauensvoll umherspazieren lässt.“
In ihren ersten 9 Romanen und Erzählungen manifestiert sich Webers intensives Bemühen um die Verfremdung des Eigenen und die Aneignung des Fremden vor allem auf sprachlicher Ebene. Oft geschieht das im Erstaunen über alltagssprachliche Rituale oder idiomatische Wendungen, die in der einen oder der anderen Sprache wie selbstverständlich zur Verfügung stehen, bei genauerer Betrachtung aber durchaus fragwürdig erscheinen und nun – spielerisch – befragt und hinterfragt werden. Aus dieser permanenten, überaus wachen sprachkritischen Befragung entsteht sodann der typische Ton, die stets leicht ironische Distanziertheit von Anne Webers Prosa.
Seit 2015, das heißt seit ihrem autobiografischen Roman Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch (auf Französisch: Vaterland. Récit), in dem Weber sich auf die Spuren ihres Posener Urgroßvaters begibt, kommt aber noch ein entscheidender Aspekt hinzu: Anne Weber setzt sich nun auch thematisch explizit mit ihrer deutsch-französischen Doppelidentität auseinander. „In mir sehen die anderen, und damit meine ich hauptsächlich die Franzosen, mit denen ich täglichen Umgang habe, eine Deutsche. Was aber meinen sie, wenn sie deutsch denken?“ schreibt die Autorin in Ahnen und versucht, dem Blick der anderen, das heißt dem projektiven Blick der Franzosen auf ihr „Deutschtum“, möglichst genau, oft auch selbstironisch nachzuspüren.
In ihrem neuesten, diesmal nicht bei Suhrkamp oder Fischer, sondern bei Matthes & Seitz erschienenen Roman Annette, ein Heldinnenepos (auf Französisch Annette, une épopée) geht Anne Weber nun den umgekehrten Weg. Statt die fragwürdige Blutsverwandtschaft mit einem männlichen deutschen Ahnen zu befragen, widmet sie dieses Buch nun der biografischen Befragung einer französischen Ahnin im Geiste. Grundlage des „Heldinnenepos“ bilden die Gespräche, die die Autorin mit der heute 96-jährigen französischen Neurologin und Résistance-Kämpferin Anne Beaumanoir, genannt „Annette“, geführt hat, sowie deren zweibändige, inzwischen unter dem Titel Wir wollten das Leben ändern auch ins Deutsche übersetze Autobiografie.
Bei ihrer Darstellung des außergewöhnlichen Lebenswegs der Protagonistin, die nicht nur jüdische Kinder während der deutschen Besatzung rettete und aktiv im französischen Widerstand kämpfte, sondern sich nach dem Krieg auch der algerischen Befreiungsbewegung FLN anschloss, wählt Anne Weber nun eine zum Roman Ahnen komplementäre Perspektive. Denn natürlich setzt die Autorin ihrer Heldin mit diesem Buch ein Denkmal. Daran besteht kein Zweifel. Insofern ist die ungewöhnliche, ziemlich archaisch anmutende Genrebezeichnung „Heldinnenepos“ im Titel durchaus ernst gemeint, und das in doppelter Hinsicht: zum einen, indem sich der narrative Duktus zwischen mündlicher Rede und ungebundener Verssprache bewegt. Das ist sicher der kühnste Kunstgriff des Buches. Zum anderen, indem hier tatsächlich außergewöhnlich couragierte Taten im Kontext einer außergewöhnlichen historischen Situation erzählt werden. So besucht die reale Anne Beaumanoir auch im hohen Alter noch Schulen, um – analog zu Überlebenden der Shoah – Jugendlichen von ihrer Zeit im Widerstand gegen Nationalsozialismus und Kolonialismus zu erzählen.
Doch ist Webers Heldinnenepos alles andere als eine Hagiografie, denn die moralischen Schattenseiten, faulen Kompromisse und Brutalitäten des politischen Untergrundkampfes werden schonungslos dargestellt und – oft aus einer narrativen Perspektive, die offen lässt, ob hier die Erzählerin oder die Protagonistin räsoniert – erschöpfend erörtert. Bei diesen Bilanzierungen geht es nicht nur um emotionale Defizite und persönliche Opfer, beispielsweise um den Verlust der eigenen Kinder, sondern auch um politische Ränkespiele und Intrigen, die aus der historischen Distanz kaum noch zu rechtfertigen sind. Darunter die Verstrickungen des FLN in antisemitische Netzwerke oder das immer wieder in Kauf genommene Risiko, bei gewalttätigen Anschlägen unbeteiligte Opfer mit in den Tod zu reißen. Hier äußert sich die Erzählerin bei aller Sympathie und allem Verständnis für ihre Heldin durchaus auch kritisch:
Ist alles, was der FLN mit den gesammelten
Millionen oder ohne tut, nun gut? Ganz sicher nicht. Und ist
das Ziel der Unabhängigkeit, sein wichtigstes Bestreben,
auch wenn es herrschende Gesetze bricht, nicht dennoch
recht und gerecht? Ja. Ist dieses Ziel es wert, sich dafür
aufzuopfern? Noch einmal antwortet Annette mit: Ja.
Einige Augen muss sie dabei schließen, das Auge
beispielsweise, das die zerfetzten Kinder sehen kann.
Der an die Gattung des Versepos angelehnte Zeilensprung signalisiert einen getragenen Rhythmus, der entfernt an den Hexameter, das Versmaß des klassischen Epos erinnert. Zu Beginn des Buches ist die Rhythmisierung relativ stringent durchgehalten, später verliert sie sich etwas im Duktus der mündlichen Rede. Auch die Enjambements werden nun willkürlicher, sodass viele Passagen nur noch druckgraphisch an die Vorgabe des Epos angelehnt sind, sich ansonsten aber wie ganz normale Prosa lesen. Stellenweise fragt man sich, ob nicht ein deutlicher Wechsel der Stillagen dem Buch gutgetan hätte. Dann aber überrascht es beim Lesen immer wieder, wie kaum miteinander zu Vereinbarendes, das heißt der „hohe“ Ton des Epos und seine Affinität zu historischem Pathos auf der einen und ein knapp am dialektalen O-Ton vorbeischrammendes Sprechen auf der anderen Seite, letztlich doch zusammenkommen und dem Ganzen eine eigenwillige, mitunter auch fragile Dialektik aus formaler Distanz und emotionaler Nähe verleihen.
Diese Fragilität resultiert vor allem aus den Skrupeln der Autorin, aus der impliziten, aber allgegenwärtigen und bis in solche formalen Aspekte hinein spürbaren Frage nach der Legitimität ihres Projekts. In einem kürzlich erschienenen Interview hat Anne Weber sich zu dieser heiklen Frage sehr dezidiert geäußert:
Ich habe mit einer gewissen Form des historischen Romans meine Probleme, also mit einem Verfahren, das darin besteht, Menschen, die es gegeben hat, und die man namentlich nennt, irgendwelche Sätze in den Mund zu legen, also Dialoge zu erfinden und Details, um eine gewisse Stimmung zu erzeugen. Um wie viel fragwürdiger ist das, wenn es sich um einen lebenden Menschen handelt! Ich konnte mir nicht vorstellen, mich dieses Lebens für meine literarischen Zwecke zu bedienen.
Was stellenweise wie ein rekonstruiertes Zwiegespräch mit dem eigenen Gewissen anmutet und vermutlich auch Gegenstand der Gespräche zwischen Anne Beaumanoir und Anne Weber war, entspricht dem klassischen, von Büchners Dantons Tod bis André Malraux’ La condition humaine und Sartres Die schmutzigen Hände immer wieder thematisierten revolutionären Grundparadox, dessen ethisch-pragmatische Pointe in dem Machiavelli, manchmal auch Lenin zugeschriebenen Bonmot vom Zweck, der die Mittel heilige, seine griffigste Formulierung findet. Die menschlichen und moralischen Kosten des politischen Kampfes sind horrend. Daran lässt Anne Weber keinen Zweifel. Ihre Heldin wurde mehrfach inhaftiert, verlor Ehemann und Kinder und wurde erst spät, nach langen Jahren im Schweizer Exil, vom französischen Staat rehabilitiert. Dass Annette sich als Frau gegen die deutschen Besatzer, den französischen Staat oder das algerische Militär stellt, spielt dabei eine nicht unerhebliche Rolle, auch im Kreis der eigenen Genossen, deren Macho-Allüren dem Thema ,Freiheit und Emanzipation‘ noch eine ganz andere politische Relevanz verleihen, wie die folgende, leicht sarkastische Passage verdeutlicht:
Reden, debattieren, ja
okay, aber für sie ist Politik ein Machen. Das trifft
sich gut: Denken ist Männersache. Immer noch. Da
kann man noch so Ärztin sein und einen
Doktortitel haben – wenn so ein Treffen ist mit
andren Dissidenten, sitzen die Männer da und
diskutieren ohne Ende, während die Frauen
nebenan schon längst Tausende Flugblätter gefaltet
und die Umschläge beschriftet haben.
Einige stilistische Holprigkeiten wie das immer wieder verwendete „paar“ statt „ein paar“ („So riskant kann das nicht sein, / paar Leute unterbringen und chauffieren.“) sind wohl der fingierten Mündlichkeit geschuldet. Andere Stellen wiederum wirken leicht kolportagehaft: „Es kommt ein Sommer, von dem sie nicht ahnt, dass es ihr letzter ist.“ Aber dann finden sich doch auch immer wieder jene typischen Anne-Weber-Sätze, die zeigen, dass auch bei diesem historisch-biografischen Sujet die Sensibilität für sprachliche Eigenbewegungen weiterhin vorhanden ist: „Schon ,fällt‘ die Nacht, / wie es in Frankreich üblich ist“, oder: „Wer Fortschritt wollte, hat jetzt Gleichschritt,“ oder: „man nennt es gerne ,kulturellen Hintergrund‘, obwohl es / keineswegs dahinter, sondern ganz tief im Menschen / drinnen ist.“
Am schönsten und stärksten ist das Buch dort, wo Anne Weber alle dokumentarischen Skrupel fahren lässt und sich ganz auf die Kraft ihrer Sprache verlässt, um das Ungeheuerliche des historischen Geschehens fassbar zu machen:
während die
Alliierten in die Normandie einfallen und in
Oradour-sur-Glane Einheiten der SS-Panzerdivision
„Das Reich“ 642 Einwohner ermorden,
pflückt sie Aprikosen. Der Lavendel blüht, die
Kirschen schaukeln prall und dunkelrot an ihren
Zwillingszweigchen. Alles geschieht zur selben Zeit
und in derselben Welt, man kann es wissen, ja,
man weiß es, aber ohne es zu wissen, denn alle
ferne Wirklichkeit ist ungewiss und, wie ein Traum,
nicht zu ergreifen.
Und genau um diese Ungewissheit geht es Anne Weber, um ein Nachdenken über die zwar notwendige, doch letztlich unmögliche Genauigkeit bei der Rekonstruktion von Vergangenheit, oder, wie sie selbst es in dem erwähnten Interview formuliert, darum, „das Bewusstsein für unsere Unwissenheit zu erweitern“.
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