Die Fortführung der Philosophie mit anderen Mitteln

Ein Sammelband erkundet das Philosophische der Phantastik und entdeckt dabei das Phantastische der Philosophie

Von Malte DreyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Dreyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schlägt man im Fremdwörterlexikon den Eintrag „Phantastik“ nach, so erhält man neben der wenig überraschenden Auskunft, dass durch dieses Wort Phantastisches bezeichnet werde, eine in der Tat bemerkenswerte Erklärung des Wortes „Phantastik“ durch die Bezeichnung „unwirklich“. „Unwirklich“ wiederrum – und um das herauszufinden, bedarf es keiner Nachschlagewerke, sondern lediglich einer kurzen Reflexion auf den Wortlaut – bedeutet, dass etwas nicht wirklich oder wirkend sei, und wird dementsprechend verwendet, um das so Bezeichnete als unserer Welt nicht zugehörig zu erklären. Nun ermöglicht das Wort „Phantastik“ beziehungsweise „phantastisch“ neben diesem geläufigen Gebrauch auch noch die Bezeichnung eines ganzen Literaturgenres, das so heterogene Exemplare wie den utopischen Entwurf des Thomas Morus, die Gespenstergeschichten eines Henry James oder gegenwärtige deutschsprachige Texte etwa von Dietmar Darth umfasst. Sofern man unserem zugegebenermaßen oft irrlichternden Sprachgebrauch in dieser Doppeldeutigkeit großzügig eine gewisse Logik unterstellt, zeigt er auf treffende Weise die im Genrebegriff gründende Widersprüchlichkeit auf. Phantastische Literatur muss zugleich wirklich und unwirklich sein.

Sieht man einmal von den Produktionen ab, die hierzulande unter dem Label „Fantasy“ die Bahnhofsbuchhandlungen mit bunten Bildern von Drachen, Elfen und Zwergen schmücken, geht die Phantastik wie jede andere Literatur den immerwährenden Fragen nach, wer wir sind, in welcher Beziehung wir zueinander stehen und mit welchen sprachlichen Mitteln diese Fragen thematisiert werden können. Literatur verbindet eine Reflexion der Gesellschafts-, Selbst- und Weltverhältnisse mit Überlegungen zur ästhetischen Form dieser Reflexion. In ihrem Anspruch als Literatur verstanden, ist Phantastik daher selbstverständlich „wirklich“ und wird dem selbstkritischen Urteil ihrer engagierten Autorinnen und Rezipienten vermutlich nur standhalten können, wenn sie unsere Wirklichkeit zu verstehen und zu gestalten hilft. Darin gleicht (phantastische) Literatur der Philosophie – beide, Literatur und Philosophie, orientieren ihre um Verständnis bemühten Autorinnen und Leserinnen in unserer Gegenwart. In dieser Hinsicht sind Literatur und Philosophie notwendig wirklich.

Auf der anderen Seite ist die phantastische Literatur jedoch genuin unwirklich, insofern sie immer von Ereignissen erzählt, die nicht von dieser Welt sind. In phantastischer Literatur begegnen wir Geistern oder seltsamen Fabelwesen, vertraute physikalische Gesetze scheinen nicht mehr innerhalb der uns bekannten Grenzen zu gelten, Figuren werden mit unerklärlichen Ereignissen konfrontiert und Paradoxien bestimmen den Verlauf des Geschehens manchmal soweit, dass es an die Grenze des Erzählbaren gezwungen wird. Phantastik entrückt die Leserin in einen Bereich jenseits der uns bekannten Wirklichkeit. So muss Phantastik zugleich beides sein: wirklich als Beitrag zu einer Reflexion auf uns und unsere Gegenwart und unwirklich, insofern sie von einer unwirklichen Welt erzählt. Sie soll wirksam sein, ist aber zugleich in einen Kokon paranormaler Phantasien eingesponnen; Phantastik soll ihre Leser berühren und befragen, erzählt aber von einer entrückten Welt. Dieser Widerspruch gehört zu einem Grundprinzip der Phantastik, und so darf keiner der beiden Pole in diesem Spannungsfeld kollabieren: Wird phantastische Literatur ausschließlich wirklich, ist sie keine phantastische Literatur mehr. Emanzipiert sie sich radikal von der Lebenswelt des Lesers, wird sie also unwirklich, ist sie keine phantastische Literatur mehr.

Die Faszination, die phantastische Literatur als Gegenstand theoretischer Überlegungen ausübt, zehrt vermutlich von dieser in ihrem Begriff angelegten Dialektik von Wirklichem und Unwirklichem. In einem der bekanntesten Versuche, diese Dialektik definitorisch produktiv werden zu lassen, erklärte der Literaturtheoretiker und Philosoph Tzvetan Todorov den Widerstreit von Wirklichkeit und Unwirklichkeit zu einem Konstruktionsprinzip des Phantastischen. Mehr noch, bemerkt er am Ende seiner 1972 auf Deutsch erschienenen Einführung in die fantastische Literatur: „Die fantastische Literatur ist eine Art schmales, aber privilegiertes Territorium, von dem sich Hypothesen ableiten lassen, die die Literatur allgemein betreffen.“ Karsten Weber, Hans Friesen und Thomas Zoglauer begeben sich zusammen mit den Beiträgern des von ihnen herausgegebenen Bandes Philosophie und Phantastik. Über die Bedingungen, das Mögliche zu denken auf dieses privilegierte Territorium, und tatsächlich gelingen ihnen von dort aus zahlreiche exemplarische Beobachtungen zum Verhältnis von Literatur und Philosophie, die sich aus dem titelgebenden Rahmen lösen und in einen weiteren Zusammenhang bringen lassen. In ihrem Beitrag stellen Hans Friesen und Karsten Berr das Thema Philosophie und Phantastik daher auch in den Kontext des mittlerweile bereits lehrbuchtauglich gewordenen Forschungsgebietes „Literatur und Philosophie“. Mit ihren Überlegungen über die Dynamik zwischen Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn öffnen sie ein theoretisches Feld, das weit genug ist, die verschiedenen Forschungsgebiete ihrer Beiträger zu umfassen und dem Sammelband eine thematische Mitte zu geben.

Ein leitmotivisch wiederkehrendes Thema ist dabei das Gedankenexperiment in Philosophie und erzählender Kunst. Als Gedankenexperimente lassen sich aber nicht nur Literatur, Film und Computerspiel begreifen, sie sind zugleich anerkannte heuristische Mittel der Naturwissenschaft. Es wundert daher mit Blick auf die Herausgeber nicht, dass sie entweder zusätzlich in einem technischen Fach ausgewiesen sind oder durch ihre Publikationstätigkeit ein produktives Interesse an den Grenzen der Philosophie zu den Einzelwissenschaften dokumentieren, was im Übrigen auch für alle Beiträger gilt.

Dieses wissenschaftliche Profil der Autoren mag dazu beigetragen haben, dass Science Fiction, die technophile Genrevariante der Phantastik, in diesem Band einen weiteren wesentlichen Schwerpunkt bildet. Von den sechs Beiträgen des Bandes realisieren vier die thematische Vorgabe unterhaltsam materialreich durch philosophische Reflexionen auf klassische Themen der Science Fiction. So werden die sprachlichen Herausforderungen des Erstkontaktes mit Außerirdischen sprachphilosophisch formuliert (im Beitrag von Thomas Zoglauer) oder die Paradoxien infolge der Möglichkeit von Zeitreisen analysiert (im Beitrag von Rüdiger Vaas). Freiheitskonzepte in den kanonischen Dystopien der Science Fiction geben Anlass zu handlungstheoretischen und sozialphilosophischen Anschlussüberlegungen (im Beitrag von Karsten Weber). Die medienwissenschaftliche Beschreibung des Verhältnisses von User und Spielfigur in den dystopischen Entwürfen von Computerspielen eröffnet neue Zugänge zum Thema personelle Autonomie (im Beitrag von Arno Görgen und Rudolf Inderst).

Sicher spiegelt diese Schwerpunktbildung angemessen wider, dass unter den zahlreichen Genrevarianten der Phantastik insbesondere die Gedankenexperimente der Science Fiction philosophischen Überlegungen eine gute Bühne bieten. Es hätte potentielle Leserinnen aber orientieren können, wenn dies durch einen passenderen Untertitel angezeigt worden wäre. Dass besagter Schwerpunkt einen Grund in der Sache hat, wird dahingegen schnell mit einem Blick auf die Bedeutung des kontrafaktischen Denkens in Science Fiction und Philosophie plausibel. Berr und Friesen weisen gleich im ersten Beitrag auf die lange Tradition des Gedankenexperimentes in der Philosophie hin und Rüdiger Vaas bezeichnet mit einer dem philosophischen Selbstverständigungsdiskurs entlehnten Wendung Science Fiction treffend als „Denken auf Vorrat“. Besonders der Beitrag von Klaus Wiegerling macht in einem kurzen philosophiegeschichtlichen Abriss deutlich, auf welche Weise die produktive Einbildungskraft gleichermaßen in Philosophie und Science Fiction wirksam wird. Das Denken im Modus des „Was wäre wenn“ ist die dominierende gedankliche Figur sowohl der philosophischen Reflexion als auch jeder Zukunftsvision. In diesem Modus des Denkens gehen wir über das empirisch Gegebene hinaus, wiewohl wir dabei auf unsere Lebenswelt bezogen bleiben. In dieser eingangs als Kennzeichen der Phantastik beschriebenen Spannung werden Entwürfe möglich, die wie das Höhlengleichnis Platons oder die im vorliegenden Band mehrfach erwähnten Dystopien George Orwells über unsere Wirklichkeit nachdenken lassen, indem sie über sie hinausgehen.

Äußerst unterhaltsam wird die größtenteils intellektuell anregende Lektüre dieses Bandes besonders dort, wo sich die Autoren einzelnen literarischen, filmischen oder ludischen Beispielen widmen. Hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang der Beitrag des renommierten Wissenschaftsjournalisten Rüdiger Vaas über Zeitreisen, in welchem die zahlreichen vergnüglichen Paradoxien „vierdimensionaler Gedankenexperimente“ mit einer beeindruckend umfassenden Kenntnis des vorliegenden literarischen Materials und skurrilem Ernst beschrieben, physikalisch betrachtet und schließlich logisch durchdekliniert werden. Während der Lektüre begegnen einem sodann knifflige Denkaufgaben wie die folgende:

Angenommen der erste Konstrukteur einer Zeitmaschine hat […] einen ausgeprägten Ödipus-Komplex entwickelt. […] Er reist dank seiner Erfindung sechzig Jahre in die Vergangenheit und ermordet den Vater, als dieser noch ein kleiner Junge war. Deshalb wird der Vater nie die Mutter des Zeitreisenden schwängern können. Folglich wird der Zeitreisende nie geboren werden. Daher kann er aber auch niemals die Zeitmaschine erfinden und in die Vergangenheit reisen. Also bleibt der Vater am Leben und freut sich dessen später mit seiner Frau, sodass sie schließlich den Zeitreisenden doch gebären wird und dieser Jahre später voll Hass in seine Maschine steigt …

Solche narrativen Rätsel kennzeichnen die Plots moderner Science Fiction, sind aber auch stilbildend für zahlreiche Texte der anglophonen analytischen Philosophie. Andersherum lassen sich viele philosophische Überlegungen durch einen Bezug auf klassische Szenarien der Science Fiction veranschaulichen, wie Thomas Zoglauer durch seine Anwendung einschlägiger sprachphilosophischer Positionen auf das Szenario eines Erstkontaktes mit Außerirdischen äußerst eingängig zeigt. Die Rekonstruktion von Plotverläufen der Science Fiction als literarische Varianten des philosophischen Möglichkeitsdenkens sind nicht nur naheliegend, sie sind zugleich originell und machen die Lektüre zu einer Freude.

Gut hätte es diesem Projekt getan, wäre in der etwas knapp geratenen Einleitung über die inhaltliche Zusammenfassung der einzelnen Beiträge hinaus ein Versuch erfolgt, die thematischen Zusammenhänge aufzuzeigen und zu systematisieren. Dadurch hätte vielleicht eine Gruppierung der Beiträge anstatt der etwas lieblos wirkenden alphabetischen Sortierung entwickelt werden können. Besonders in Anbetracht der philosophischen Fülle dieses Themas – in den Einzelbeiträgen bestens dokumentiert – mutet die deskriptiv gehaltene Einleitung etwas mager an. So muss die Leserin ihren eigenen Pfad durch diesen in der Summe unterhaltsamen und kurzweiligen Beitrag zum Konnex von Science Fiction und Philosophie finden. Dabei ist ihr zu wünschen, dass sie wie der Rezensent wiederholt die so widersprüchliche wie beglückende Erfahrung macht, dass das Phantastische im Denken des Unwirklichen wirklich werden kann.

Titelbild

Karsten Weber / Hans Friesen / Thomas Zoglauer (Hg.): Philosophie und Phantastik. Über die Bedingungen, das Mögliche zu denken.
mentis Verlag, Münster 2016.
171 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783957430731

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