Es bleiben viele Rätsel

Matthias Weichelt legt mit „Der verschwundene Zeuge“ eine neue Biographie Felix Hartlaubs vor

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vieles scheint mir irritierend, unaufgelöst zu bleiben an Leben, Person und Schreiben Felix Hartlaubs (zu seiner Biographie gleich mehr). Warum habe ich diesen Eindruck? Weil ich ein Vor-Urteil über ihn hatte, gespeist aus aufgeschnappten Sätzen auf Buchumschlägen. Zehntelwissen, das  jetzt irritiert wird. Dieses Zehntelwissen verdankt sich auch Mythologisierungen, die Hartlaub hat über sich ergehen lassen müssen.

Matthias Weichelt, Chefredakteur von Sinn und Form, und Autor der vorliegenden neuen Biographie Hartlaubs, notiert, dieser müsse vielfach als Projektionsfigur herhalten, er ist eine legendenhafte Gestalt geworden durch sein Schicksal, wobei besonders zwei Aspekte verrätselungsfähig sind. Hartlaub verschwand mit kaum 32 Jahren am Ende des Zweiten Weltkriegs. Im April 1945 noch zur Infanterie abkommandiert, verliert sich seine Spur, als er sich auf den Weg zur Seeckt-Kaserne in Berlin-Spandau macht. Er gilt als verschollen. Zum zweiten scheint er eine besonders enge Verbindung zum Zentrum des Nationalsozialismus gehabt zu haben, besonders nah dran gewesen zu sein, da er seit Mai 1942 in der Abteilung Kriegstagebuch im Oberkommando der Wehrmacht tätig war. Nicht nur, dass dort sämtliche Meldungen von allen Stellen der Wehrmacht zusammenliefen und so Hartlaub ungeschönte Berichte von der Lage erhielt und sie hätte bezeugen können, nein, die Abteilung Kriegstagebuch zog mit dem „Führer“ in die jeweiligen Führerhauptquartiere, Werwolf (Ukraine), Wolfsschanze (Ostpreußen), Berchtesgaden.

Ist Hartlaub ein „verschwundener Zeuge“, wie der Titel der Biographie Weichelts lautet? Sicher, aber was bezeugt er? Da ist viel Geraune. Würde meine Irritation verschwinden, wenn Hartlaub nicht so überhöht oder belobhudelt werden würde? Ich weiß nicht. Hartlaub muss diese Mythologisierung ja auch deshalb über sich ergehen lassen, weil er zu früh starb. Es gibt nur Fragmente von ihm. Was er daraus gemacht hätte, bleibt unklar. Dass es bei Hartlaub durchaus Irritierendes (zu lesen) gab, ist auch schon anderen aufgefallen. Ist es also so, wie Weichelt schreibt, Hartlaubs Leben könne „als widerständiges Aufbegehren oder opportunistisches Mitmachen gedeutet werden“. Träfe man es also besser mit dieser Dichotomie? Mir scheint es anders: wo Rätsel war, muss (zumindest für mich) Rätsel bleiben.

Womöglich wäre sein Leben übersichtlich verlaufen, gebahnt war ein erfolgversprechender bildungsbürgerlicher Lebensweg am Ausgang des Kaiserreichs. Hartlaub wurde 1913 als Sohn des Kunsthistorikers Gustav Friedrich Hartlaub und seiner Frau Félicie in Bremen geboren. Im selben Jahr wird sein Vater Assistent an der Mannheimer Kunsthalle, deren Leitung er 1923 übernimmt.

Felix Hartlaub durchläuft bis auf die Jahre zwischen 1928 und 1932, als er die reformpädagogische Odenwaldschule besucht, eine normalbürgerliche Schullaufbahn. Im Mai 1933 wird sein Vater von den Nationalsozialisten entlassen („Kulturbolschewismus“). Ab Oktober 1933 studiert Hartlaub Romanistik und Geschichte in Heidelberg, die Zeitläufte werfen auch für ihn ihre Schatten voraus: 1934 Arbeitsdienst in Achern/Baden.

Seit 1934 studiert er in Berlin. In der Odenwaldschule hatte er Klaus Gysi, den späteren DDR-Kulturminister, kennengelernt. Er verkehrt jetzt im Hause Gysi, verliebt sich in Erna, Klaus´ Mutter, zwanzig Jahre älter als er, die 1938 emigriert. Klaus gehört dem kommunistischen Widerstand an. Im Februar 1939 promoviert Hartlaub bei Walter Elze (Offizier, Jagdpilot, Militärhistoriker). Nach Stationen in der Wehrmacht kommt Hartlaub via Elze Ende 1940 zur Historischen Archivkommission des Auswärtigen Amtes in Paris, die Akten des französischen Außenministeriums seit 1919 auswerten soll. Von November 1941 bis Mai 1942 ist er „historischer Sachbearbeiter“ der Abteilung Wehrmachtskriegsgeschichte im Oberkommando der Wehrmacht in Berlin (diese soll „alle internen Unterlagen“ sammeln, „die für die Darstellung der Kriegsführung von Belang sind“) – und dann schließlich in der Abteilung Kriegstagebuch.

Wie erwähnt bleibt vieles unklar an Hartlaubs Leben und Schreiben. Das wird auch nicht durch die durchweg gut lesbare Biographie Weichelts aufgelöst, die zweite nach der ersten Aufarbeitung durch Monika Marose im Jahr 2005 (Unter der Tarnkappe – Felix Hartlaub. Eine Biographie). Damals rauschten begeisterte Rezensionen durch den Blätterwald, die zum einen von einer möglichen Mitarbeit Hartlaubs im Widerstand raunten und zum anderen sicher waren, hier handele es sich um einen Schriftsteller, der einer der ganz Großen der deutschen Nachkriegsliteratur geworden wäre. Das scheint mir alles zu eindeutig.

Einige Stichworte seien mitgeteilt: Nehmen wir die Frage des Politischen bei Hartlaub. Wo stand er? Man sieht ein Bedürfnis nach Sekurität auch im neuen Staat. Mag er mitmachen? Beim Arbeitsdienst bemerkt er an sich „manchen Moment dumpfer Begeisterung und selbstvergessener Unterwerfung“. Das klingt nicht nach Mitmachenwollen. Überdies weiß er: Entweder man dockt sich an den Nationalsozialismus an oder man ist isoliert. Will er isoliert sein? Auch nicht. So phantasiert er, nun komme vielleicht „eine Zeit religiöser Erneuerung“, eine Zeit „stärkerer existentieller Bindung des einzelnen, vielleicht deutet sich in den Vorgängen der protestantischen Kirche schon etwas Derartiges an?“ Da könne er dann mitmachen. Aber nicht direkt beim Nationalsozialismus?

Er ist ein distanzierter Beobachter, der beschämt klar sieht, doch von Fatalismus geprägt ist. Nach dem Novemberpogrom 1938 bemerkt er: „Ein Gefühl der Erniedrigung und Beschämung bei Allen, die ich sprach. Es lässt sich schwer arbeiten. Trotzdem habe ich mir im Lauf der Zeit eine Unberührtheit zugelegt, die etwas ziemlich Bestialisches an sich hat. Dass man schlafen, essen kann ist ja schon sehr kompromittierend. Ich begnüge mich mit dem offiziell Verlautbarten, aber das ist ja nur ein Bruchteil.“ Wie ist seine Haltung? Vielleicht nachvollziehbar mehrdeutig, vielleicht ist es ihm selbst auch nicht klar. Als Mitarbeiter in der Historischen Archivkommission in Paris ist er Teil der Besatzungsmacht. Er nimmt die Ablehnung der Franzosen wahr, ist beschämt. Aber warum macht er da mit? Das bleibt unklar. Ebenso, warum er bei der Kriegsgeschichtlichen Abteilung und beim Kriegstagebuch mitarbeitet – das soll kein moralisches Urteil post festum sein, sondern verdeutlichen, dass vieles rätselhaft bleibt.  

Am Irritierendsten scheint mir das späte Fragment Im Dickicht des Südostens. Der Protagonist, so Weichelt, ähnele Hartlaub, werde „aber als fragwürdige und charakterlose Figur gezeichnet“, die im Nationalsozialismus und „besonders im Führer jene Stärke und Entschlossenheit findet, die ihr selbst abgeht“. So kann man das sehen, aber darin geht es nicht auf. Der Protagonist will einen Major denunzieren, der sich defätistisch gibt. In der Nähe des Führers sollten nur Fanatiker sein, keine „Kautschukzwerge“. Ist das ein Hundertfünfzigprozentiger? Oder verachtet der Protagonist (vulgo Hartlaub?) bloß als Bildungsbürger die Charakterlosigkeit des Majors, wo Loyalität gefragt wäre? Wie aber ist diese Verachtung des Protagonisten gegenüber den (alten) Führungsschichten zu verstehen? Ist es Sarkasmus, wenn er über Vernichtungsaktionen und ‚Säuberungen‘ sagt, es sei „Ehrenpflicht“ des deutschen Historikers, das „zu überblenden“, die Erfahrung lehre, „dass diese Vorkommnisse, so schmerzlich sie für die Betroffenen sein mögen, nicht lange im Gedächtnis der Menschheit haften, dass sie der geschichtlichen Grösse bereitwillig nachgesehen werden“? Oder ist da doch einer fasziniert? Auch durch Hitler?

Die Haltung des Protagonisten gegenüber Hitler ist mehrdeutig, zersplittert. Ist, was er da sagt, nur bildungsbürgerlich-klischeehaft, etwas zusammengerührter Nietzsche? „Natürlich ist etwas Dämonisches um diesen Mann, etwas tief Befremdliches, ohne weiteres zugegeben. Aber wir dürfen ihn nicht mit unseren bürgerlichen Massstäben messen, mit unserer bürgerlich-humanistischen Sensibilität aus dem 19. Jahrhundert, da müssen ganz neue Massstäbe her, die aus diesem Jahrhundert gewonnen sind, dem Jahrhundert der grossen grausamen Weltanschauungskriege, das steht ja alles schon bei Nietzsche.“ Oder ist das Rollenprosa, um den Protagonisten zu karikieren? Oder ist Hartlaub doch heimlich fasziniert? Immerhin notiert sein Vater, der seinen Sohn sehr gut kennt, dass Hitlers „dämonische Strahlung […] offenbar auch“ Felix „noch berührt“.

Diese wenigen Notizen mögen genügen. Erneut: hier geht es nicht um ein moralisches Urteil, das mir als Nachgeborenem nicht zusteht, es ging nur darum, darauf hinzuweisen, dass Hartlaubs Leben, Person und Schreiben weiterhin rätselhaft (und auch faszinierend) bleibt.

Titelbild

Matthias Weichelt: Der verschwundene Zeuge. Das kurze Leben des Felix Hartlaub.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
200 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518470794

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch